Wie wir Kirche wieder auswildern
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6902-3
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Walter Faerber benutzt das Bild des Auswilderns einer Spezies: Durch den langen Aufenthalt in einem geschützten Biotop ist sie schlecht vorbereitet auf das Leben in ihrer artgemäßen Umgebung. Diese natürliche Umgebung ist für Kirchen und Gemeinden die volle Realität, ungefiltert durch institutionelle Sicherheiten und ohne gesellschaftliche Privilegien.
Das Buch beschreibt hilfreiche zentrale christliche Mindsets, wenn die bisher begangenen Wege an ihr Ende kommen. Biblisch verankert und theologisch reflektiert stellen sie Möglichkeiten dar, um die unfruchtbare Alternative von fromm und liberal hinter sich zu lassen, Neuanfänge mit einer anderen Organisationskultur zu ermöglichen und die erlernte christliche Selbstunsicherheit zu überwinden.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Gesellschaft, Kirche und Politik
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Organisation & Institutionen von Kirchen und Gemeinden
Weitere Infos & Material
I. Die Zähmung der Jesusbewegung Ein Vergleich der real existierenden Kirche mit der ursprünglichen Jesusbewegung, wie sie sich im Neuen Testament und in den Zeugnissen der frühen Kirche darstellt, ist keine neue Idee. Spätestens seit der Reformation wurde die Kirche der jeweiligen Gegenwart immer wieder an den neutestamentlichen Zeugnissen gemessen. In der Regel schnitt sie dabei schlecht ab. Ebenso regelmäßig änderte dies aber nur selten etwas an der kirchlichen Realität; es blieb meist bei einer unfruchtbaren Klage. Schon die Diagnose des Problems ist umstritten. Lag es fundamental an der falschen Lehre, wie es die Reformation vermutete? War es die persönliche Frömmigkeit, die aus der Sicht der Pietisten zu kurz kam? War es, wie die Pioniere und Pionierinnen der Diakonie vermuteten, die defizitäre Praxis kirchlicher Liebestätigkeit? War es die Unentschiedenheit der volkskirchlichen Mitgliedschaft samt Kindertaufe? Lag es an der Institutionalisierung einer ursprünglich lebendigen Bewegung? Oder hatte die enge Verbindung von Thron und Altar den Enthusiasmus erlahmen lassen? Ist das Problem vielleicht auch nur die hausbackene Art der kleinbürgerlichen Gemeinden, die die jungen, kreativen Köpfe abstößt? All diese Diagnosen sind nicht falsch. In jeder steckt mindestens das berühmte Körnchen Wahrheit, in vielen auch mehr davon. Aber gibt es ein gemeinsames Band, das sie alle so umfasst, dass sich daraus ein einprägsames Bild und zugleich eine Perspektive nach vorn ergibt? Von allen Versuchen, diese Faktoren in einem übergreifenden Bild zu verbinden, leuchtet mir die Metapher des Auswilderns samt dem damit verbundene Gegenbegriff der Domestizierung am stärksten ein. Sie spiegelt wider, dass unsere Kirchen und Gemeinden mit der Unübersichtlichkeit des wilden, ungeregelten Lebens nicht mehr vertraut sind und sich stattdessen angewöhnt haben, in einem begrenzten, übersichtlich geordneten Rahmen zu existieren. Sicherheit wird hochgeschätzt, in der Theologie ebenso wie in der Organisation, bei Finanzierung und Mitgliederbindung, in der Personalauswahl, bei der Deutung der Welt und vielen anderen Gelegenheiten. Wer sich aber nie der vollen, rauen Wirklichkeit aussetzen muss, bringt sich auch um die Erfahrung von Krise, Kraft und Gelingen. Die Metapher des Auswilderns birgt in sich eine tiefe Verunsicherung, zugleich aber auch die Verheißung frischer Energie und neu errungener Kompetenz, auch wenn es dafür keine Zertifizierungen gibt. Immerhin gibt es eine Menge Parallelen zwischen der Domestizierung einer faszinierenden wilden Tierart und der Verwandlung der frühen Kirche in eine dominante und machtbewusste Institution, die heute – nach dem Verlust ihrer zentralen gesellschaftlichen Stellung – unbeweglich und ängstlich geworden ist und kein sonderlich beeindruckendes Profil mehr aufweist. Christliches Leben im Europa der Gegenwart scheint auf den Schutz eines weltlich organisierten kirchlichen Apparates ähnlich angewiesen zu sein wie Batteriehühner auf die konstante Wärme ihres Stalls, die sorgfältige Betreuung durch Fachleute und die passgenaue Zufuhr von Wasser, Nährmitteln und Medikamenten. Zumindest die Kirche des Westens hütet vor allem den Bestand; ihre Fruchtbarkeit (also ihr missionarisches Potenzial) hat sie trotz aller Modernisierungsanstrengungen der letzten 70 Jahre nicht zurückgewonnen. Die alten Dome sind für viele Menschen nicht mehr als eine touristische Attraktion, ähnlich dem Besuch beim Eisbären im Zoo, der – wiewohl durchaus beeindruckend – in Zeiten der Erderwärmung auch keine gute Zukunft mehr zu erwarten hat. Selbstverständlich gibt es auch in der westlichen Christenheit Ausnahmen von dieser Zustandsbeschreibung: Gemeinden und Gruppierungen, die Wachstum aufweisen – sei es aufgrund besonders günstiger Bedingungen oder durch besonders kompetente Protagonisten. Aber kompetente Menschen werden überall, auch unter schwierigen Bedingungen, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Eigentlich sollten christliche Gemeinden davon nicht abhängig sein, sondern Wachstum auch unter Normalbedingungen und mit durchschnittlich begabtem Personal erreichen. Eine ökumenische Störung Bemerkenswert ist vor allem, dass sich die meisten der oft beklagten christlichen Defizite in allen Denominationen und Konfessionsfamilien zeigen. Wäre es deutlich anders, dann könnte man gesündere und weniger vitale Traditionen vergleichen und die entscheidenden Unterschiede herausarbeiten. Hier stoßen wir aber auf ein gemeinsames, ökumenisches Problem, dessen Wurzeln schon weit zurückreichen. Oder, um es mit einem anderen Bild zu sagen: Die Störung sitzt tief unten im Maschinenraum. Deshalb ist Oberflächenkosmetik, auch wenn sie nicht unbedingt schaden muss, keine Lösung. Das bedeutet für das Miteinander der verschiedenen christlichen Fraktionen: Nicht die Unterschiede und Trennungen zwischen uns sind das eigentliche Problem (jedenfalls solange sie nicht genutzt werden, um die anderen zu minderwertigen Spielarten des Christentums zu erklären). Problematisch sind gerade die Gemeinsamkeiten, die mindestens die westlichen Kirchen und Gemeinschaften quer durch alle Denominationen verbinden. Wir sind uns gerade im Zentrum unserer Verlegenheiten besonders nahe. Dabei geht es nicht um Verfehlungen Einzelner, obwohl die auch immer wieder verheerende Wirkungen haben. Es geht noch nicht einmal um einzelne Themen wie Kindertaufe, Benachteiligung von Frauen oder die Vernachlässigung des Heiligen Geistes, obwohl das alles erst recht Schaden anrichtet. Die Problematik ist zu komplex, als dass man sie auf eine einzige Ursache reduzieren und mit deren Beseitigung überwinden könnte. Wer etwa die Probleme der katholischen Kirche nur in ihrem Amtsverständnis, im Zölibat und dem männlichen Priestermonopol verortet, übersieht, dass sie selbst nach einem (augenblicklich schwer vorstellbaren) Umsteuern in diesen Fragen »nur noch« die Probleme der evangelischen Kirchen hätte. Der Schaden liegt tiefer. Er hängt weniger mit einzelnen institutionellen oder theologischen Fehlentscheidungen zusammen, sondern eher mit der gesamten Organisationskultur, oder noch besser: mit der geistlichen Atmosphäre, die in den Christentümern beinahe aller Fraktionen herrscht. Atmosphäre ist eine bewusst schwammige Kategorie. Sie soll andeuten, dass es sich um einen vernetzten Sachverhalt handelt, der sich in den weichen Mustern (Stilfragen, Organisationskultur, Umgangsformen) ebenso spiegelt wie in den harten Entscheidungen von Kirchenrecht, Finanzflüssen und Dogmatik. Eine Lösung ist deshalb auch nur durch vernetztes Denken zu finden. Alle Reformvorschläge, die den komplexen Zusammenhang auf wenige, gut eingrenzbare Teilthemen reduzieren, sind nicht radikal genug, sondern lindern die Symptome bestenfalls. Wenn sie aber nur auf die Modernisierung einer nicht »zeitgemäßen« Kirche zielen, verschlimmern sie die Lage eher noch. Wer verstehen will, warum wir in den Kirchen eine so verzweigte Problemkonstellation haben, muss weit zurück in die Vergangenheit schauen. Die Schwierigkeiten der Kirchen mit der modernen Welt reichen mindestens 500 Jahre zurück, bis zu den Wurzeln der Neuzeit, die überraschenderweise in genuin christlichen Grund reichen. Und diese komplexe Konstellation ist wiederum schon in Antike und Mittelalter vorbereitet worden, durch Personen und Umstände, die auch Theologen manchmal längst aus dem Blick geraten sind. Kirchengeschichte ist deshalb kein Hobby von Menschen mit kuriosem Spezialinteresse, sondern essenziell für das Verstehen unserer aktuellen Schwierigkeiten. Deshalb muss auch sie wenigstens in kompakter Form zu Wort kommen. Das Erbe der Reichskirche Ängstlichkeit hat ihren Ursprung oft in schlechten Erfahrungen. Da kann es wie eine attraktive Lösung erscheinen, sich unter den sicheren Schutz eines Stärkeren zu flüchten. Vielleicht war das der Grund, der die noch 311-313 n. Chr. verfolgten Christen im Römischen Reich erstaunlich schnell dazu brachte, sich dem Schutz des Staates anzuvertrauen, der sie bis vor Kurzem noch mit Inhaftierung, Folter, Zwangsarbeit und Tod bedroht hatte. Kaiser Galerius beendete mit seinem Toleranzedikt von 311 diesen Konflikt, weil er begründete Zweifel am Erfolg weiterer Repressionsmaßnahmen hatte. Zwei Jahre später besiegelte die Mailänder Vereinbarung zwischen Konstantin I., dem Kaiser des Westens, und Licinius, dem Kaiser des Ostens, die Religionsfreiheit im ganzen Imperium. Insbesondere Konstantin wurde daraufhin nicht nur persönlich von christlichen Historikern zur Lichtgestalt verklärt. Die Kirche spielte auch mit, als er zur Klärung einer wichtigen theologischen Streitfrage 325 das Konzil von Nicäa einberief, bei dem er den Vorsitz führte. Aber schon früher, ab 314, hatte er sich in die Auseinandersetzungen mit den nordafrikanischen Donatisten eingeschaltet, wobei die Initiative aber auf kirchlicher Seite lag: Beide Konfliktparteien hatten den Repräsentanten des Imperiums als Schiedsrichter angerufen. Hatten die streitenden Parteien die Warnung von Paulus vergessen, man solle als Christ in profanen Konflikten mit anderen Christen nicht die Autorität heidnischer Gerichte anrufen (1. Korinther 6,1.6)? Und nun rief man sogar in Glaubensfragen den Imperator als Schiedsrichter an. Seine Schiedsrichterrolle ersparte es der Kirche, sich in eigener Verantwortung und im Vertrauen auf den Heiligen Geist diesen Lehrkonflikten zu stellen. Von nun an wurde es wichtiger, die Unterstützung der Politik zu gewinnen, als überzeugende theologische Lösungen zu entwickeln. So begann der unheilvolle Flirt von Kirche und Macht. Das politische Genie Konstantin hatte das Potenzial...