E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Fabbri Dancing Queen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28367-1
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-446-28367-1
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paulina wacht blutend und verwirrt in einem demolierten Auto auf, neben sich ein Mädchen, das sie nicht kennt. Hat sie einen Unfall gebaut? Nur langsam erinnert sie sich: an ihr Leben in Buenos Aires mit ihrem langweiligen Exfreund Felipe, an ihre exaltierte Kollegin Maite, die sie auf einen Roadtrip mitnahm, und an Lara, das junge Mädchen neben ihr, das Paulinas Leben vielleicht in neue Bahnen lenken kann.
Camila Fabbri erzählt lakonisch und rotzig vom Leben und den Sorgen junger Frauen in einer Gesellschaft, die sie mit einem Ablaufdatum versieht. In ihrem Schwanken zwischen Fragilität und Selbstbewusstsein, Desillusioniertheit und Hoffnung verkörpert Paulina das Lebensgefühl der Millennials.
Camila Fabbri, 1989 in Buenos Aires geboren, ist Autorin und Regisseurin. 2021 wurde sie von Granta als eine der 25 besten spanischsprachigen Erzählerinnen unter 35 ausgewählt. Ihre Texte wurden ins Englische, Französische, Italienische und Chinesische übersetzt. Mit ihrem Romandebüt Dancing Queen war sie Finalistin des renommierten Premio Herralde de Anagrama 2023.
Weitere Infos & Material
1.
Belastungssport
»Psst, Paulina. Bist du bei uns?«
Ich bekomme das rechte Auge kaum auf und spüre etwas Dünnes, Spitzes, das sich in meinen Augapfel frisst. Könnte der Schnabel einer Ringeltaube sein. Mir scheint, die Hornhaut blutet, vielleicht auch die Pupille. Ich weiß nicht, bin mir nicht sicher. Mein Wortschatz in Sachen Sehvermögen ist begrenzt. Dem Licht nach würde ich sagen, es ist Nacht, da steigen rot-gelbe Lichter hinter den Gebäuden auf, aber auch das weiß ich nicht genau. Ich sehe gerade mal den dürren Zweig eines Baums über der Motorhaube. Mit dem Gehirn sende ich ein Signal, aber mein Rumpf gehorcht nicht, der Hals dagegen schon. Ich löse den Nacken vom Fahrersitz, eine Glaskaskade rieselt nieder und sammelt sich um meinen Hintern wie um ein Lagerfeuer. Ein paar Splitter bohren sich mir in die Pospalte. Der Schmerz ist echt. Was ich für einen Vogel gehalten hatte, der mir ins Auge pickt, ist in Wirklichkeit Glas, das Verbundglas, das ich letztes Jahr in zwölf zinslosen Monatsraten abbezahlt habe. Diese Handlungen, die sich als kleine Heldentaten aufspielen.
Der Rumpf gehorcht immer noch nicht, klebt weiter am Kunstleder und unter dem Sicherheitsgurt, als wäre ich ein Dummy, wie sie ihn bei Crashtests benutzen. Das Autoradio ist auf einen Sender eingestellt, den es gar nicht geben kann. Abertausend Stimmen von Frauen, Männern, Kindern sind zu hören. Dazwischen Werbung. Ab und an blitzt ein klares Wort auf wie »Inflation«, »Dollar«, manchmal sind es auch mehrere hintereinander wie »Rua-Supermarkt«, »Fuku-Seife«, »Immer noch mit Sorge wird die Zunahme von«.
Meine Brust brennt, ich höre das Herz kaum schlagen. Ein allzu zaghaftes Pochen. Wie kurz vor dem Verschwinden.
»Psst, hörst du mich? Nicht totstellen, Paulina.«
Die Stille hat wohl mit der Uhrzeit zu tun, da draußen ist es allzu ruhig. Ich werde warten müssen, dass mich jemand holt. Jetzt fließt mir eine warme Flüssigkeit aus dem Ohr. Das kann vieles bedeuten, nichts Gutes, nichts Gesundes. Mir ist kalt, die Kinnlade zittert. Ich habe einmal von der Kälte gehört, die man vor dem Sterben spürt, aber ich könnte schwören, was ich hier mache, ist lebendig sein. Ich weiß nicht, wohin ich unterwegs war oder woher ich komme. Weiß rein gar nichts.
Ich möchte schreien, Felipe!, bringe aber keinen Ton heraus. Nicht nur die Brust brennt, auch die Kehle fühlt sich heiß an, und mein BH scheint ein Spatzennest zu sein. Als wären da nur Federn drinnen. Seit ich die Augen geöffnet habe, überfallen mich Vogelimpressionen. Von irgendwas im Auto wird mir schlecht, oder ist das eine allergische Reaktion?
Eins sehe ich jetzt deutlich. Auf der Windschutzscheibe ist eine Art Ölfleck oder so ein Muster, als hätte jemand in eine Wasserpfütze geschlagen, die Wellen wirft und dann wie gemalt wirkt. Da, am unteren Rand, ganz winzig, bemerke ich einen Fleck, zwischen Kaffeebraun und Bordeauxrot. Das Blut ist von mir. Auch wenn es sich kein bisschen von all dem fremden Blut unterscheidet, das mir bisher untergekommen ist, ich weiß, es stammt von mir. Ich sehe ihm seine DNA von Weitem an. Wie ramponiert ist das Auto! Jetzt ist es beliebiger Schrott und war eben noch ein geliebtes Objekt, zumindest ein geschätztes. Wer erbarmt sich der zerbeulten Autos? Das Herz zersplittert mir, wenn ich es so sehe.
Stille.
Ich erkenne weiße, unversehrte Turnschuhe an mir, die ich zum hysterischen Lachen zweier Radiomoderatorinnen angezogen hatte. Die Jeans, die mir zu groß ist, und die grauen Tabakpäckchen. So schlecht steht es also doch nicht um mein Gedächtnis, nein, nein. Kein Alzheimer, kein geschädigtes Gehirngewebe. Ich habe etwas anderes. Die Zweige da vor mir könnten auch Neuronen sein und der Sprung in der Windschutzscheibe eine Endloskette von Synapsen. Wie gut bin ich im Hervorbringen von Symptomen. Wie geschärft ist mein Gehör für Beschwerden, egal welche, für alle zusammen. Das Auge tut höllisch weh, nur einen Hauch bin ich davon entfernt, die Sehkraft zu verlieren.
Ich bewege minimal den Hals, und das Panorama wird gelb. Nur hören kann ich klar, und was da kommt, ist das Fjumm der ersten Böe an diesem Tag. Ein Hund läuft um das Auto herum und stützt die Vorderpfoten an mein Fenster. Er sieht mich an und hechelt; aus seinem Mund tropft der typische Säugetiergeifer. Er macht mir das Auto ganz dreckig. Sicher weiß er, dass da drinnen eine sterbende Kreatur ist, oder der Geruch des Blutes lockt ihn an. Natürlich, Tiere. Ob Hai oder Hund, ganz egal. Weg da, Miststück, würde ich ihm am liebsten sagen. Du Köter aus dem Slum. Los, leck an was schön Dreckigem. Glotz mich nicht so solidarisch an, du willst mir doch bloß das Blut vom Auge schlecken, als wäre es Wassereis. Wärst du mein Hund, ich würde dich im Dunkeln in der Küche einsperren. Ah, wie wenig Phantasie habe ich für das Böse. Immer noch sehe ich gelb. Hinter mir höre ich es ganz leise atmen. Ich kann den Hals nicht drehen. Vermutlich ist er gebrochen, und in dem Fall äschern sie mich ein oder versenken mich in der Erde, in einer Holzkiste mit einem silbrigen Christus drauf. Ich blicke hoch, so weit ich kann, so weit meine Position es zulässt, dieser rettende Gurt, dieser Zustand des Vegetierens. Ich sehe kaum, aber ich sehe. Da ist — schlafend oder ohnmächtig, tot wohl nicht — ein Mädchen um die fünfzehn. Sie trägt ein geblümtes Kleid und weiße Turnschuhe wie meine. Ich weiß nicht, wer sie ist, aber sie hockt da in meinem Auto und bewegt sich ebenfalls nicht. Was sie da wohl tut, es quält mich entsetzlich, dass ich in keiner Windung meines Kopfes ein Fädchen finde, an dem ich ziehen und herausbekommen könnte, wer diese Dünne mit den glatten Haaren ist, dieses verunglückte Wesen voller Leben. O Gott. Ich glaube nicht an Gott, sage aber ständig, O Gott oder Herrgott noch mal.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen sein mag. Wir sind zwei Frauen, allein, die darauf warten, dass jemand kommt und ihnen Halskrausen anlegt. Wer ich bin, weiß ich, aber nicht, wer sie ist; mit meinem Gedächtnis ist es also doch nicht so weit her. Tief aus dem Magen kommt jetzt ein bitterer Geschmack hoch. Ich kotze über das Lenkrad. Ach, was habe ich für ein hübsches Auto. So neu und grau, Sitzbezüge vom Feinsten. Mit Airbag für alle Fälle, der nicht aufgegangen ist, mit Aschenbecher, Beifahrergriffen, Getränkehaltern, einem Player für CDs, DVDs, mp3, WiFi, Videos. Offensichtlich habe ich Geld, verdiene gut. Dann holt mich also ein privatärztlicher Notdienst. Es riecht intensiv nach Kotze. Ich versuche, die Herkunft der Duftwolke auszumachen, doch es gelingt mir nicht. Wieder der Bluthund, der die Scheibe durchbrechen möchte, um uns abzulecken. Widerlicher Blutsauger, wenn ich dich erwische, gibt’s eins mit dem Knüppel.
»Paulina.« Die Fünfzehnjährige spricht. Sie wiederholt: »Paulina, Paulina, sind wir im Himmel?«
Ich kann mich nicht bewegen, weiß nicht, ob ich sitze, liege, sterbe. Paulina nennt sie mich. Ich erinnere mich nicht, dass ich je so genannt worden bin.
»Paulina, geht es dir gut? Geht es uns gut?«
Sie lacht. Sagt das mit dem Himmel und findet es wohl furchtbar witzig. Ich kann nicht antworten. Meine Stimme ist ein blutverklebtes Fädchen, als wäre ich eine Schildkröte, deren Inneres geplatzt ist. Diese Hausschildkröten, die vom Balkon fallen und Stunden später sterben, weil sich ihre Organe aufgelöst haben.
»Paulina. Bitte. Mein Kopf tut weh.«
Kein Wunder, Süße. Wir hatten gerade einen Unfall, und ich weiß nicht recht, warum. Ringsum sehe ich explodierende Lichter, wie auf einer Bühne, doch noch immer kommt uns niemand holen.
»Paulina, ich habe Angst, mich zu bewegen.«
Aber natürlich, Herzchen. Ich kann dir bloß nicht antworten, denn bei der kleinsten Anstrengung platzt mir eine Ader im Gehirn. Ich höre, wie die Fünfzehnjährige sich das geblümte Kleid zurechtzieht. Niemand soll ihren Hintern sehen. Fein, nicht mal im verbeulten Zustand soll sich jemand auf diesen Teil ihres Körpers kaprizieren. Ich kann mich immer weniger bewegen, aber der Kopf hält nicht inne, er rauscht weiter, als weihte er eine Achterbahn ein. Auf und ab, die Fahrgäste sollen oben auf dem Gipfel die Erfahrung ihres Lebens machen und dann in Höchstgeschwindigkeit hinabsausen, das Herz-Kreislauf-System kann sehen,...