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E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Extence Libellen im Kopf
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-17064-6
Verlag: Limes
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-17064-6
Verlag: Limes
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Alles begann, wie es manchmal eben so ist, mit einem toten Mann. Er war ein Nachbar – niemand, den Abby gut kannte, dennoch: Einen Verstorbenen zu finden, wenn man sich nur gerade eine Dose Tomaten fürs Abendessen ausleihen möchte, ist doch ein bisschen schockierend. Oder sollte es jedenfalls sein. Zu ihrem eigenen Erstaunen ist Abby von dem Ereignis zunächst seltsam ungerührt, aber nach diesem Mittwochabend gerät das fragile Gleichgewicht ihres Lebens immer mehr ins Wanken, und Abby scheint nichts dagegen unternehmen zu können …
Gavin Extence, geboren 1982, wuchs in der englischen Grafschaft Lincolnshire in einem kleinen Dorf mit dem interessanten Namen Swineshead auf. In seiner Kindheit machte er eine kurze, aber glanzvolle Karriere als Schachspieler; er gewann zahlreiche nationale Turniere und reiste nach Moskau und St. Petersburg, um sich dort mit den besten jungen Denkern Russlands zu messen. Er gewann nur ein Spiel.Mit seinem Debütroman »Das unerhörte Leben des Alex Woods« schrieb er sich in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen. Der Roman wurde in Großbritannien mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, eroberte auch in Deutschland die Bestsellerliste und gehört zu den meistempfohlenen Büchern 2014. Sein lang erwarteter zweiter Roman »Libellen im Kopf« ist 2016 erschienen.Heute lebt Gavin Extence mit seiner Familie in Sheffield.
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HINTER DEN SPIEGELN
Simons Wohnung war ein Spiegelbild unserer eigenen. Ein Schlafzimmer, ein Duschraum statt eines Badezimmers, ein Wohn-Esszimmer mit Küchenzeile, das ein Immobilienmakler in ein paar Wochen großspurig als »offen geschnitten« anbieten würde. Die Diele war eng und fensterlos, erleuchtet durch einen Deckenfluter, der konzentrische Pfützen aus Licht und Schatten auf schmucklose, gestrichene Wände warf.
Der Mangel an Dekorationsgegenständen fiel mir gleich auf, als ich über die Schwelle trat. Beck und ich waren in unserer Wohnung den entgegengesetzten Weg gegangen. Überall hingen diese kleinen Kronleuchter aus Acrylglas, die man für zehn Pfund in jedem Haushaltswarengeschäft bekam, und jeder Zentimeter Wandfläche war mit Drucken oder Fotos behängt – Landschaften und Schnappschüsse von unseren Urlaubsreisen –, außerdem mit einem halben Dutzend Spiegel in allen möglichen Formen und Größen, um Weitläufigkeit vorzutäuschen. Ich fand schon immer, dass die Art, wie jemand seine Umgebung gestaltet, Bände spricht. Die Deko bei mir würde zum Beispiel jedem auf Anhieb sagen, dass ich eine Schwäche für Kitsch habe, dass ich dazu neige, Krimskrams anzuhäufen, und dass ich von Größerem träume.
Aber was sagte Simons Wohnung über ihn aus? Oberflächlich betrachtet gar nichts. Sie war nur ein weiteres Puzzlestück in dem ganzen Rätsel. Die Diele, die vor mir lag, wies nicht ein einziges Totem auf, das einen Einblick in seine Persönlichkeit gegeben hätte. Nichts, was den skizzenhaften Eindruck, den ich von dem Mann hatte, mit Leben erfüllt hätte. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob man das, was ich von ihm hatte, einen Eindruck nennen kann. Es war nicht so sehr Realität, sondern eher eine Fantasie, so in der Art der halbgaren Geschichten, die wir uns über die Nebenfiguren in den Daily Soaps zusammenreimen. Was Tatsachen betraf, so hätte alles, was ich über Simon wusste, auf einem Post-it Platz gehabt. Er war in den Vierzigern, lebte allein, war gepflegt, ausgesprochen höflich, hielt immer mindestens eine Armlänge Distanz, sprach ohne Akzent und hatte einen Job, bei dem er ein weißes Hemd und manchmal ein Jackett tragen musste, aber keine Krawatte. Ich hatte nie so viel Interesse an ihm gehabt, dass ich mir die Mühe gemacht hätte, herauszufinden, was für ein Job das genau war.
Ich weiß nicht, wie lange ich an der Wohnungstür stehen blieb. In meiner Erinnerung zieht sich dieser Augenblick endlos hin. Ich kam mir vor wie ein Insekt, das in Bernstein gefangen sitzt. Aber ich vermute, das war nur der Effekt einer düsteren Vorahnung, die mich befiel. Irgendwie wusste ich, was mich erwartete. Die Tür zum Wohn-Esszimmer (mit integrierter Küchenzeile) stand einen Spalt offen, und der Fernseher plärrte laut. Das, so dachte ich mir, könnte der Grund dafür gewesen sein, dass er auf mein Klopfen nicht reagiert hatte. Ich klopfte noch einmal etwas lauter an die Innenseite der Wohnungstür, dann rief ich seinen Namen, bekam aber keine Antwort. Nur das unermüdliche Geplapper aus dem Fernseher.
Weitergehen oder umkehren? Neugier und Zurückhaltung lieferten sich eine kurze, blutige Schlacht (mehr ein Geschubse und Gerangel, um die Wahrheit zu sagen), und dann brachten mich viereinhalb Schritte zu der halb offen stehenden Wohnzimmertür, wo ich mitten in der Bewegung erstarrte, den linken Arm halb erhoben und die Hand zum Klopfen leicht gekrümmt.
Simon war tot. Ich musste keinen Schritt weitergehen, um mich von dieser Tatsache zu überzeugen. Er saß in einem Sessel auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, knapp drei Meter von mir entfernt, die Augen weit offen und der Rücken unnatürlich gerade und steif. Aber im Grunde genommen lag es nicht an seiner Haltung, dass ich Bescheid wusste, es war auch nicht der leere, glasige Blick, in dem sich das Flackern des Fernsehers spiegelte. Es war vielmehr ein Gefühl von Abwesenheit – und gleichzeitig die Gewissheit, dass ich der einzige Mensch in dieser Wohnung war. Ich war ein Mensch, und Simon war eine Leiche.
Mein unmittelbarer Gedanke war, dass ich eine rauchen musste, gefolgt von der Erkenntnis, dass ich die Zigaretten in meiner Handtasche hatte. Auf dem Couchtisch lag eine Packung Marlboro. Na ja, was machte es schon aus? Beck konnte es sowieso nicht leiden, wenn ich in unserer Wohnung rauchte, egal, wie weit ich meinen Kopf aus dem Fenster streckte. Simon dagegen konnte schlecht Einwände erheben. Es war eine durchaus vernünftige Reaktion auf die Situation, in der ich mich befand. Ich ging zum Couchtisch, zog eine Zigarette aus dem Päckchen – es waren noch sieben übrig – und schaute mich nach einem Feuerzeug um. Es lag keins auf dem Tisch neben dem Aschenbecher, also war der nächste logische Schritt, in Simons Hosentasche zu suchen. Das allerdings erschien mir doch ein wenig zu pietätlos. Stattdessen zündete ich die Zigarette an dem Gasherd in der Küchenzeile an, wobei ich aufpasste, dass ich mit den Haaren nicht in die Flamme geriet. Dann lehnte ich mich an die Arbeitsplatte und dachte nach.
Ich hatte schon einmal eine Leiche aus der Nähe erlebt, bei der Beerdigung meiner Großmutter, aber das war etwas völlig anderes gewesen. Die ganze Sache hatte wie eine öffentliche Aufführung gewirkt, in der alle – ich, meine Mutter, der Vikar, der Organist – eine per Drehbuch vorgegebene Rolle spielen mussten. Hier und jetzt war ich allein mit meinen Gedanken, und das vorherrschende Gefühl war ein ruhiges Verstehen. Gleichzeitig haftete der Situation auch etwas Erregendes an. Es war immer so, dass ich mich lebendiger fühlte, wenn ich rauchte – das ist ja das wundersame Paradoxon des Rauchens –, aber hier ging es darüber hinaus noch um etwas anderes. Meine Sinne waren klar und geschärft, es war wie an einem heißen Tag eiskaltes Wasser zu trinken, und ich fühlte meinen Puls bis in die Fingerspitzen. Ich nahm mir vor, Dr. Barbara bei unserem nächsten Treffen von diesem Gefühl zu berichten. Sie würde die Einzige sein, die davon erfuhr; bei anderen Menschen war die Offenlegung solcher Gefühle nicht angebracht.
Als ich die Zigarette bis zum Filter geraucht hatte, löschte ich die Kippe unter dem Wasserhahn, rieb die Spüle trocken und ging dann mit entschlossenen Schritten zu Simons Sessel. Mein Finger verharrte nur ganz kurz in der Luft, ehe ich gegen seine Wange stupste. Sein Fleisch fühlte sich nicht organisch an, sondern eher wie Gummi oder Latex, aber es war nicht so kalt, wie ich erwartet hatte. Allerdings hatten meine Erwartungen vermutlich wenig mit der Realität zu tun. Man dachte wohl immer, dass sich der Tod eiskalt anfühlen würde, aber stattdessen ähnelte er eher abgekühltem Badewasser. Oder vielleicht fühlte sich einfach allgemein dieser Abend im Londoner Spätfrühling so an.
Natürlich war weit und breit kein Telefonbuch zu sehen, und mein Handy steckte in meiner Handtasche, zusammen mit meinen Zigaretten, aber mir war so, als gäbe es eine Nummer der Polizei, die man in einem solchen Fall – der ja kein Notfall war – anrufen konnte. Ich glaubte mich zu erinnern, dass sie mit einer 1 anfing. Beck hätte sie sofort gewusst, er kam mit Zahlen viel besser zurecht als ich, aber aus irgendeinem Grund wollte ich jetzt noch nicht in unsere Wohnung zurück und alles erklären. Ich fand es wichtig, dass ich allein mit dieser Sache zurechtkam, als wäre das hier ein Test über meine Kompetenz als verantwortlich handelndes Individuum. Für Erklärungen war später noch Zeit.
Ich nahm den Hörer ab und wählte die Kombinationen mit drei Zahlen, die mit einer 1 begannen, die mir am naheliegendsten erschienen. Davon gab es nicht viele, aber trotzdem brauchte ich vier Anläufe. 111 war die Servicenummer der Gesundheitsbehörde, 100 stellte mich zu der Telefongesellschaft durch, und bei 123 kam die automatische Zeitansage. Diese Nummer kannte ich sogar, was ich aber in diesem Moment vergessen hatte. Als ich bei 101 angekommen war, trommelten meine Finger ungeduldig gegen die Wand. Ich hätte mir eine zweite Zigarette anzünden sollen, bevor ich mich in diesen Trial-and-Error-Albtraum begab. Dann klickte es in der Leitung, und ich war mit der Polizeizentrale verbunden.
»Ich möchte eine Leiche melden«, sagte ich zu der Frau am Telefon. Eine Leiche. Das war zweifellos die korrekte Bezeichnung, die keine Fragen offenließ. Das dachte ich zumindest.
»Eine Leiche?«, wiederholte die Beamtin.
»Eine Leiche«, bestätigte ich. »Die Leiche meines Nachbarn.«
»Okay. Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen? Und dann erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Mein Name ist Abby. Abigail Williams.«
»Abby oder Abigail?«
Was für eine merkwürdige Frage.
»Spielt das eine Rolle? Entweder Abby oder Abigail. Abigail steht auf meiner Geburtsurkunde. Abby, wenn Sie sich eine Silbe sparen wollen.«
Stille.
»Okay, Abby. Erzählen Sie mir, was passiert ist?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich kam in seine Wohnung, und er ist tot. Er ist kalt und steif.«
»Sind Sie absolut sicher, dass er tot ist?«
»Wie bitte?«
»Haben Sie seinen Puls gefühlt? Ich kann Sie über das Telefon anleiten, wenn Sie möchten.«
Ich schaute zu Simon, seinem verkrampften Hals, den schlaffen Handgelenken. Beides sah nicht gerade anziehend aus. »Er ist kalt und steif«, wiederholte ich. »Er ist offenbar schon eine ganze Weile tot.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja doch, ich bin mir sicher!« Diese Frau war wirklich dämlich. »Er ist tot. Er hat schon seit vielen Stunden keinen Puls mehr.«
»Okay, ich weiß, dass Sie sich in einer Stresssituation befinden. Aber Sie machen das wirklich gut,...