E-Book, Deutsch, 198 Seiten
Reihe: zur Einführung
E-Book, Deutsch, 198 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-002-2
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt:
Roland Barthes oder ein Wissen im Zeichen des Lebens
Schreiben als Leben-Wollen
Den Schrei im Schreiben hörbar machen
Auf der Suche nach einem Wissen im Zeichen des Lebens
1. Lehren, was man weiß: Vom »Ersten Text« bis zu »Kritik und Wahrheit«
- Literatur als Welt und die Dichte des Lebens
- Das pralle Leben und die Lehre des Mythologen
- Der Kritiker im intellektuellen Feld
- Der Kritiker als Schriftsteller
2. Lehren, was man nicht weiß: Von »Der Tod des Autors« bis »Die Lust am Text«
- Zeichen eines angekündigten Todes
- In zeichenreichen Zeichenreichen
- Das Eigen-Leben des Lesers im Text
- Die Lehre der Lust
3. Das Alter des Verlernens: Von »Roland Barthes von Roland Barthes« bis »Die helle Kammer«
- Nuancen des Lebens und gelebte Theorie
- Verhören, Verlernen und Erleben des Künftigen
- Zwischen Last, List und Lust
- Vergegenwärtigen, Verlernen, Vergessen
- Wissen im Zeichen des Lebens
Anhang: Anmerkungen; Literatur- und Siglenverzeichnis; Zeittafel; Über den Autor
Roland Barthes oder ein Wissen im Zeichen des Lebens
Schreiben als Leben-Wollen
Roland Barthes (1915-1980) darf man mit guten Gründen als jenen französischen Denker, Kultur- und Zeichentheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen, der für die Gegenwart, vor allem aber auch für die Zukunft das größte Potenzial an Ideen, Entwürfen und Entwicklungsmöglichkeiten bereithält. Denn einerseits sind seine Schriften, betrachtet man sie – wie es in diesem Band geschehen soll – in ihrer Gesamtheit, von einer ihnen eigenen Bewegung und Beweglichkeit geprägt, die sie auf den unterschiedlichsten Ebenen lesbar, ja aufgrund ihrer Vielstimmigkeit geradezu hörbar machen. Und andererseits sind viele seiner Vorstellungen zwar sorgsam und über lange Jahre konzipiert und angedacht, nach seinem Tod aber vielfach nicht konsequent weitergedacht, ja ausgedacht worden. Die Texte dieses großen Impulsgebers und Vordenkers halten noch viele Schätze, viele Überraschungen bereit. Denn stets sind diese Schriften LebensZeichen im vollen Wortsinn. Damit ist keineswegs eine »nur« autobiographische Lesart gemeint. Barthes’ Texte analysieren auf der Objektebene die Zeichen des Lebens im Leben und verbinden sie mit dem Leben ihrer Leserinnen und Leser auf ebenso subtile wie attraktive und unaufdringliche Weise. Geht es etwa in Roland Barthes’ Mythologies (1957), einem seiner erfolgreichsten Bände, um die »Mythen des Alltags«, so zeigen uns die dort versammelten Analysen von Sport und Massenkultur, von Industriegütern und politischen Parteien, von Kunst und Lebensmitteln nicht nur die uns zu einem gegebenen Zeitpunkt umgebenden Phänomene des Lebens in einem neuen Licht. Sie lassen uns diese Objekte des Wissens nicht nur auf andere, originelle Weise begreifen, sondern zielen darauf ab, unser Erleben und Leben selbst und zwar gerade dort zu verändern, wo es am selbstverständlichsten zu sein schien. Barthes’ Texte greifen auf das Leben in seinen unterschiedlichsten Formen und Normen zu. Er selbst hat, wie wir noch sehen werden, bisweilen von LebensTexten, von Textes de la Vie, gesprochen. Nichts in Barthes’ Texten ist, analysieren wir sie in ihrem intratextuellen Verwobensein, »natürlich« oder selbstverständlich. Denn die Texte des französischen Schriftstellers und Zeichentheoretikers brechen alle Selbstverständlichkeiten auf. Was uns als »natürlich« erscheint, wird uns als Kultur, als Ergebnis eines kulturellen Prozesses vor Augen geführt und in seinem historischen Gewordensein buchstäblich nahegebracht. Denn Barthes schreibt Texte, die ihr Lesepublikum im doppelten Wortsinn direkt angehen. Und dies, ohne die Leserschaft je in Abgründe stürzen zu wollen, in denen sich Wissen und Objekt ebenso unüberbrückbar wie unversöhnlich gegenüberstehen. So lautet der Schlusssatz der Mythologies nicht von ungefähr: »Und doch ist es eben dies, was wir suchen müssen: eine Wiederversöhnung von Realem und Menschen, von Beschreibung und Erklärung, von Objekt und Wissen.«1 Wie aber könnte diese réconciliation, diese Wiederversöhnung aussehen? Die Fragmente eines Diskurses der Liebe2 zeigen uns nicht nur auf, inwiefern wir selbst in unseren intimsten Ausdrucksformen von Diskursen und Sprachregelungen durchlaufen werden, die uns in unserem scheinbar hochindividuellen Verhalten prägen und »fernsteuern«. Sie lassen uns auch Subjektpositionen und Stellungen einnehmen, die wir noch nie erprobt haben oder zu erproben wagten. Die damit einhergehende Entautomatisierung eingespielter Verhaltensmuster kann uns frei machen für neue Formen des Erlebens, für andere Ausdrucks- und Darstellungsformen, mit denen wir zuvor im Leben noch niemals experimentiert haben. Selbst die theoretischsten Texte Roland Barthes’ führen uns Termini und Theorien nicht einfach vor, sondern lassen sie auf eine Weise lebendig werden, die uns die Abenteuer dieses Denkens, dieses Denkers, erlebbar macht. Die Deutungskunst des Roland Barthes, die uns auf der Objektebene die altgewohnten Gegenstände in ein verändertes Licht rückt, eröffnet auf der Subjektebene Dimensionen dessen, was man als ein Erlebenswissen und zugleich als eine Lebenskunst bezeichnen kann. Barthes’ Schreibstil ist in einem Wissenschafts- und Denkstil, aber auch in einem Lebensstil verankert. Schreiben steht bei Roland Barthes stets im Zeichen von Transfer und Transformation. Gerade weil die Gegenstände seines Schreibens so vielgestaltig sind, werden zwischen ihnen Transferprozesse in Gang gesetzt, die es uns erlauben, unsere eigene Gesellschaft zum Beispiel mit den Augen der strukturalen Anthropologie zu sehen, unsere eigenen Liebespraktiken als Ergebnisse vermeintlich ferner, fremder literarischer Traditionen zu erkennen, unsere eigenen Sehgewohnheiten anhand eines Erlebens dessen zu überprüfen, was nicht mehr ist und doch nicht aufhören kann zu sein. Denn finden wir mit Barthes in seinem letzten Buch, Die helle Kammer (1980), nicht die Allgegenwart des Todes in jeder Photographie, die doch so oft nicht mehr als ein Bild des Lebens, als ein Lebensbild zu sein vorgibt? Es geht Barthes niemals nur um eine Analyse des Vorgefundenen und Aufgefundenen, sondern auch des (einst) Erfundenen und (künftig) zu Erfindenden, die im selben Maße wie das Gefundene in ein Spannungsverhältnis zum Gelebten und noch zu Erlebenden gesetzt werden. Die ständigen Friktionen zwischen Gefundenem, Erfundenem und Erlebtem erzeugen den Funken, der von der Ebene der Objekte auf jene der Subjekte überspringt. Dies macht die Hochspannung aus, die Barthes’ Texte aus den 1940er wie aus den 1970er Jahren prägten. Dieser elektrisierende Funkenflug trifft und betrifft ganz selbstverständlich auch das Subjekt des Schreibens selbst. Überblickt man das gesamte Schaffen Roland Barthes’, so fällt schon bei einer ersten Annäherung die Schönheit der von ihm gewählten Titel auf. Denn sie lassen sich auf eine immer andere, verborgene und zugleich doch zeigende Weise mit dem Leben des Wissenschaftlers, mit dem Leben des Schriftstellers in Verbindung bringen. Sie sind Zeigen, Zeugen und Zeugnis in einem. Für ein erstes Buch hätte kaum ein besserer Titel gewählt werden können als Am Nullpunkt des Schreibens (1953). Und ist die Wahl des Titels für Die helle Kammer, das wenige Wochen vor seinem Tod erschien, nicht ebenso gelungen? Titel wie Das Reich der Zeichen oder Die Lust am Text sind stets nicht allein auf ihre Objekte, auf die jeweils untersuchten Gegenstände hin geöffnet, sondern zeigen zugleich zurück auf ein schreibendes Subjekt, das sich dieser Lust im eigenen Zeichenreich hingibt. Berührt es nicht eigenartig, wenn man erfährt, dass der letzte Text, der noch in Barthes’ Schreibmaschine steckte, als er am 25. Februar 1980 beim Überqueren einer Straße von einem Lieferwagen angefahren wurde und wenige Wochen später im Krankenhaus starb, den Titel »Man scheitert stets, wenn man von dem spricht, was man liebt« trug? Es gibt eine innere Logik und Kohärenz, ja eine beeindruckende Schönheit, die sich erschließt, wenn man das Barthes’sche Œuvre in seiner ganzen Vielfalt als Einheit begreifen will. Doch sollten wir uns davor hüten, dieses so facettenreiche und faszinierende Schaffen allein von seinem Ende her zu perspektivieren und ihm von seinem Ausgang her Sinn (frz. sens und damit auch Richtung) zu geben. Roland Barthes selbst hat hier ein Warnschild aufgestellt, als er in seiner Vorlesung vom 8. Dezember 1979 am Collège de France – also wenige Monate vor seinem Tod – bei seiner Erörterung von Arthur Rimbauds Lebensweg unmissverständlich festhielt: »Es gilt, das evolutive Schema (das ›Schicksal‹) zu verlernen: nicht diesen oder jenen Augenblick im Leben eines Menschen zu privilegieren; es ist eine christliche Tradition, das Ende zu privilegieren, einen Menschen nach seinem Tode zu beurteilen (Vorstellung vom ›guten Ende‹).« (PR, 213; vgl. VR, 244) Entscheidend für unsere Annäherung an Roland Barthes sollte folglich sein, nicht (wie so oft geschehen) den »späten« gegen den »frühen Barthes« – oder umgekehrt – auszuspielen, sondern die unterschiedlichen Logiken der jeweiligen Augenblicke herauszuarbeiten und in ihrer irreduziblen Vielfalt erkennbar zu machen. Dies bedeutet nicht nur den Verzicht darauf, vom sogenannten Spätwerk her eine Teleologie in die Barthes’sche Entwicklung einzublenden, die es in einem derartigen Sinne gewiss niemals gab, sondern auch die Offenheit vergangener Zukunft und damit jene große Zahl an alternativen Möglichkeiten wiederherzustellen, die sich dem Schreiben und der Suche dieses Autors in den 1940er und 1950er, aber auch in den 1960er und 1970er Jahren darboten. Es geht daher im vorliegenden Band nicht um die Fixierung eines Lebenswegs, eines scheinbar vorbestimmten Schicksals eines »großen Denkers«, sondern um die große Zahl an schicksalhaften...