Esquirol | Der intime Widerstand | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 174 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Esquirol Der intime Widerstand

Eine Philosophie der Nähe
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2021
ISBN: 978-3-7873-4012-5
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Philosophie der Nähe

E-Book, Deutsch, 174 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4012-5
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Intime wie auch das Nächste ist mit dem Zuhause verbunden, mit der Familie, dem alltäglichen Brot, dem Freund, den Büchern, den Träumen und der Luft, die man atmet ... Sein Gegenteil ist nicht die Ferne, sondern die Gleichgültigkeit: Der Himmel, durch ein Fenster betrachtet, kann Teil dieser Intimität sein, während etwas, das wir beinahe auf der Haut tragen, wie die Kreditkarte, die man gewöhnlich in der Brieftasche aufbewahrt, uns in Wirklichkeit sehr fremd sein kann. Oft ist Leben als Projekt, Freiheit, Entscheidung oder Selbstverwirklichung verstanden worden, als eine Art zentrifugale und zur Schau stellende Bewegung. In diesem Essay geht es darum, wie eine solche Bewegung sich mit einer anderen verknüpft, die Esquirol als Widerstand, Zuflucht und den Rückzug in die Nähe bezeichnet. »Intimer Widerstand« meint keinerlei Individualismus oder Narzissmus, sondern eher Zurückhaltung und Generosität. Die Reflexion über den intimen Widerstand wird so zu einer Philosophie der Nähe.

Josep María Esquirol ist Professor für Philosophie an der Universitat de Barcelona und Leiter der Forschungsgruppe »Aporia«, die sich insbesondere mit der Verbindung von Philosophie und Psychiatrie beschäftigt. Er veröffentlichte rund ein Dutzend Bücher. Die in den letzten Jahren entstandenen Werke, in prägnantem Stil verfasst und bewusst miteinander verknüpft, bringen eine Philosophie der menschlichen Existenz zum Ausdruck.
Esquirol Der intime Widerstand jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


I AUFLÖSUNG UND RESISTENZ


Es gibt Einsamkeiten, die sich auf unvergleichliche Weise miteinander teilen lassen. Eigentlich kann nur der wirklich mit anderen zusammen sein, der fähig ist, einsam zu sein. An die Wand des Zimmers eines Einsiedlers, in einem heruntergekommenen Haus in der italienischen Stadt Turin, standen die Worte geschrieben: »Wer in die Wüste geht, ist kein Deserteur«. Paradoxerweise, trotz der Bedeutung des Begriffs Deserteur (jemand, der eine Pflicht oder ein Versprechen aufgibt und an einen unbewohnten Ort flieht), enthielt diese Inschrift vielleicht die ganze Wahrheit. Im übertragenen Sinn findet man die Wüste natürlich nicht nur in weiten Flächen karger und rissiger Erde oder in den von der Sonne der Gerechtigkeit versengten Sandmeeren; die Wüste ist überall und nirgendwo: mitten in der Stadt, zum Beispiel. Wer in die Wüste geht, ist vor allem ein Widerstandskämpfer. Er braucht seinen Mut nicht, um sich auszubreiten, sondern um sich zusammenzuhalten und so den äußeren Bedingungen standzuhalten. Der, der Widerstand leistet, strebt nicht nach Beherrschung, nicht nach Kolonisation, nicht nach Macht. Er will sich in erster Linie nicht selbst verlieren und gleichzeitig, auf sehr spezielle Weise, anderen dienen. Dies sollte nicht mit einem einfachen und plakativen Protest verwechselt werden; Resistenz ist meistens unauffällig.

Der Widerstand ist nicht nur Einsiedlern und Eremiten eigen. Existieren bedeutet, zumindest teilweise, resistieren. So ist der Widerstand nicht nur Ausdruck einer situativ bedingten Gegebenheit, sondern eine Seinsweise, eine Bewegung der menschlichen Existenz. Ihn als solche zu verstehen, bringt eine Begriffsumwandlung mit sich, in Bezug darauf, wie man ihn bisher verstanden hat. Man hat immer schon von »Widerstand« gesprochen, jedoch bezeichnete dieser vor allem den Widerstand der Dinge gegenüber den menschlichen Absichten. Die Erde hat sich immer schon, wenn auch früher mehr als heute, dem Pflug widersetzt, der Schmutz dem Waschen und der Gipfel dem Erklimmen. Gerade daher kommt der biblische Satz »Im Schweiße deines Angesichts …«. Die Welt macht es uns nicht einfach und alles kostet Mühe. Unsere Vorhaben und Projekte sind oft mit Hindernissen konfrontiert, die die Realität mit sich bringt. »Die harte Realität« sagt man, das ist eigentlich schon ein Pleonasmus. Anstelle der Schwierigkeiten, die die Welt unseren Ansprüchen entgegensetzt, können wir mit dem Begriff des Widerstandes jedoch auch die Kraft bezeichnen, die wir selbst haben, um sie den Prozessen der Auflösung und der Zersetzung entgegenzubringen. Prozesse, die von außen einwirken oder sogar aus uns selbst herrühren. Gerade dann zeigt sich im Widerstand eine tiefe Bewegung des Menschlichen.

Anzunehmen, dass unser Existieren selbst schon Widerstand bedeutet, beruht darauf, die Realität als teilweise auflösende Kraft zu interpretieren. Tatsächlich ist der stetige Zerfall des Seins die schwierigste Prüfung, der sich das Menschsein stellen muss. Als ob die zentrifugalen Kräfte des Nichts versuchten, die Menschen auf die Probe zu stellen, zu prüfen, inwieweit diese fähig sind, dem Angriff standzuhalten. Auch wenn sich die feindlichen Gesichter ändern, gilt diese Prüfung nicht nur heute oder gestern, sondern schon immer, denn es ist die Realität selbst, die die Bedrohung ausmacht – zum Beispiel im Gewand der Zeit und ihrer wesentlichen Unumkehrbarkeit. So braucht man einen Zufluchtsort, weil es Bedrohung gibt. Für den, der keine Bleibe hat, sind die raue Unwohnlichkeit, die Nacht und die Kälte die unerbittlichsten Feinde. Daher spricht man von der Nacht und der Kälte des Seins und von der menschlichen Wärme eines Zuhauses: »Hier ist der Platz, Mylord; oh geht hinein; die Tyrannei der Nacht ist viel zu rauh, als dass Natur sie aushielt«,2 lauten die Worte des treuen Kent an den verwirrten und hilflosen König Lear in der shakespeareschen Komödie.

Existieren als resistieren … Es versteht sich, dass es zunächst nicht gerade attraktiv klingt, die Dinge auf diese Weise zu erklären, vor allem nicht im Vergleich mit dem glänzenden und beachtlichen Erbe des Existenzialismus, der vom Menschen wie von einem Projekt spricht. Wenn der Geschmack die Wahrheit bestimmen würde, ist es nicht schwierig, sich vorzustellen, wie die Wahl zwischen diesen beiden Aussagen aussähe: »Existieren ist Selbstentwurf« und »Existieren ist Resistenz«. Während die Idee des Projektes die Idee der Konstruktion, der Freiheit und sogar des Abenteuers miteinschließt, bringt der Widerstand, auf den ersten Blick, Konnotationen wie Passivität, Unbeweglichkeit und sogar Elend mit sich. Allerdings sollte der vermeintliche Kontrast zwischen dem »Projekt« und der Figur des Widerstandes näher betrachtet werden, denn trotz aller Gegensätze überwiegen die Gemeinsamkeiten – wie beispielsweise die Bejahung des Subjektes und der Idee der Verantwortung. Sicherlich findet die These, dass die Existenz dem Widerstand gleich ist, nicht in Sartre ihr Gegenteil, sondern in seinen Nachahmern, die wie psychologische Ratgeber auf ununterbrochene und banale Weise die immer gleiche Formel wiederholen: »Leben ist sich selbst verwirklichen«. Das soziale Umfeld, eingebettet in diese Begriffe, ist weit davon entfernt, die sartresche Interpretation zu vermitteln, und verbreitet vielmehr die Idee, den persönlichen und individuellen Weg zum Glück (oft verstanden als Errungenschaft oder als Erfolg) zu suchen. Aber es lohnt sich nicht weiter, diesen Punkt zu vertiefen, denn es handelt sich dabei nicht um gute Sophistik – von der es wohl möglich wäre, etwas zu lernen –, sondern um eine sterile Sophistik, deren Bedauernswürdigkeit nicht von ihrer Rhetorik, sondern von ihrer Mediokrität herrührt.

Existieren als resistieren … Die Betonung liegt nicht auf der expansiven Verwirklichung, sondern auf der Besinnung, der Zuflucht und der Einsicht, die dadurch möglich wird. Das Schweigen dessen, der sich sammelt, ist ein methodologisches – wörtlich genommen, ›den Weg betreffendes‹ – Schweigen, das danach strebt, besser zu »sehen«. Die Sinne schärfen, sie grundsätzlich öffnen; wachsam sein; so tun, als ob die Ohren Augen wären und die Augen Ohren: Kann man hierin noch eine sterile Haltung erkennen, von geringerem Wert als die Ideen der Selbstverwirklichung?

Wenn der Widerstand sich vor allem gegen den Zerfall richtet, dann wird es notwendig, die spezielle Natur einiger der bedeutendsten entropischen Kräfte unserer Situation zu analysieren (Nihilismus ist der Name einer dieser Kräfte, vielleicht der relevantesten) sowie die Formen und Motive zu erkennen, die es möglich machen, ihnen Widerstand zu leisten, durchzuhalten, auszuhalten; oder wie man umgangssprachlich sagt, »Haltung zu bewahren«. In diesem Punkt kommt mit ganzer Intensität die Erfahrung des Zuhauses zur Geltung, und zwar als Zufluchtsort nicht nur vor atmosphärischer Kälte, sondern auch vor metaphysischem Frost. Die durch Wände und Dach bestimmte Teilung von Innen und Außen ist relativ, sie verkörpert nicht die Abschottung oder Isolation, sondern, ganz im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung und Möglichkeit des Hinaustretens. Könnte man etwa den Gipfel des höchsten Berges erklimmen, ohne vorher die Nacht in einem Zelt oder einer Herberge verbracht zu haben? So haben wir angedeutet, dass sich der Widerstand in Form der Besinnung der Idee des Projektes nicht entgegenstellt; von diesem Standpunkt aus betrachtet ist er vielmehr die Voraussetzung ihrer Möglichkeit. Es gibt jedoch auch eine sterile Art von Abschottung und Isolation, die nirgendwohin führt, wie die des Roquentin, des Protagonisten aus Sartres Der Ekel: »Ich aber lebe alleine, vollständig alleine. Ich spreche mit niemandem, niemals; ich bekomme nichts, ich gebe nichts«.3 Nichts annehmen oder geben, das ist sehr wohl Verschlossenheit und der Gegenpol des Widerstandleistenden, dessen Ohren immer offen sind für das freundschaftliche Wort und dessen großzügiges Denken immer schon im Vorhinein einer engagierten Handlung verpflichtet ist. Widerstand ist nicht Immunologie (in diesem Punkt stimmen wir nicht mit Sloterdijk überein). Natürlich kann die Interpretation der Existenz als Widerstand die politische Bedeutung dieses Konzeptes nicht übergehen. Umgangssprachlich versteht man unter Widerstand ein politisches Phänomen, bestehend aus der Opposition einer kleinen Gruppe gegen die Besetzung oder Beherrschung durch eine Regierung totalitären Charakters. Ein bekanntes Beispiel, das uns sofort in den Sinn kommt, ist die Résistance, die sich während des Zweiten Weltkrieges in einigen europäischen Ländern der Besatzung durch die Nationalsozialisten widersetzte. Es handelt sich tatsächlich eher um eine Reaktion oder eine Abwehr als um einen Angriff. Im Falle der Besetzung Europas wurde die Résistance nicht nur zur Verteidigung eines Landes oder eines Territoriums organisiert, sondern auch zur...


Esquirol, Josep Maria
Josep María Esquirol ist Professor für Philosophie an der Universitat de Barcelona und Leiter der Forschungsgruppe 'Aporia', die sich insbesondere mit der Verbindung von Philosophie und Psychiatrie beschäftigt. Er veröffentlichte rund ein Dutzend Bücher. Die in den letzten Jahren entstandenen Werke, in prägnantem Stil verfasst und bewusst miteinander verknüpft, bringen eine Philosophie der menschlichen Existenz zum Ausdruck.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.