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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Espedal Lust

Früchte einer Arbeit – Lesefrüchte
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1015-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Früchte einer Arbeit – Lesefrüchte

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-7518-1015-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie wird man ein Schriftsteller? Ist es möglich, das Schreiben zum Beruf zu machen? Kann man davon leben? Und was für ein Leben wird das sein? In seinem jüngsten Buch Lust verbindet Tomas Espedal Autobiografie und Bildungsroman und geht dieser Frage nach vierzig Jahren des Schreiben nach. Dabei verwebt er Leben und Literatur auf bezwingende Weise miteinander. Der Doppeldeutigkeit des Titels wird er dabei auf mehr als eine Weise gerecht: Lust ist ein Roman über das Lesen und das Schreiben. Über das Vergessen und das Erinnern. Über Reisen und Liebesaffären. Über die Bedeutung des Ortes für das Schreiben. Über Städte. Über Kopenhagen und das Leben der Schriftsteller. Über die Suche nach den idealen Schreiborten und Arbeitszeiten. Über das Schreiben in der Nacht. Über das Schreiben mit der Hand. Über Freundschaften. Und nicht zuletzt über Geld und gute und schlechte Wirtschaft.

Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren, gab sein literarisches Debut 1988 mit dem Roman En vill flukt av parfymer (Eine wilde Flucht vor dem Parfüm). Seither veröffentlichte er zahlreiche, mit vielen Preisen ausgezeichnete Romane und gilt neben seinem Freund Karl Ove Knausgård als einer der wichtigsten Schriftsteller Skandinaviens.

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I
Wir sterben mehrmals im Laufe eines Lebens. Bereits indem wir geboren werden, im Augenblick der Geburt selbst, tritt der Tod in unser Leben ein: zunächst ein kleiner Tod, nicht größer als ein Säugling, ein kleiner, schöner Tod, der parallel mit dem Kind wachsen und ein größerer Tod werden wird, ein wachsender Schatten, eine wachsende Frucht, sie wächst und reift in uns und nimmt die umgekehrte Form des Lebens an, die Form eines Abszesses, fast eines Eigelbs, wir wissen ja nicht genau, wie der Tod, den wir in uns tragen, aussieht, doch mehrmals im Laufe eines Lebens wird er berührt werden und in uns zum Leben kommen als etwas Fruchtbares und Lebendiges, zum ersten Mal bereits dann, wenn wir das Licht des Tages erblicken, und zum zweiten Mal, vielleicht, wenn wir unserer Mutter aus den Händen genommen und dem Vater übergeben werden. Es gibt einen inneren Tod und einen äußeren Tod, sie führen ihr Leben parallel zueinander, ohne dass wir von den beiden Leben Kenntnis hätten, die einander berühren und uns begleiten, solange wir leben, erst in einem gewissen Alter, sagen wir mit rund siebenundfünfzig, an einem Tag wie diesem, wenn wir aufwachen und es müde sind aufzuwachen, an so einem Tag, der gern ein schöner Tag sein kann, ja, ein Junitag, an dem es sich anfühlt, als beginne das Leben erneut, wieder einmal mit Wärme und dem Salzgeruch, der vom Meer herantreibt, und dem milden Sommerwind, der den in Blüte stehenden Wald mitbringt, ja, genau an so einem Tag entdeckst du, wie das äußere und das innere Leben zusammenfallen, der äußere und der innere Tod, in einem Wunsch zu sterben. Du hast das Leben, das dir zugedacht war, gelebt, so gut du es konntest, und in diesem Wunsch nach einem Ende wird ein Neuanfang geboren; du wirst dem Tod entgegengehen, als wäre er etwas Neues, eine neue Jahreszeit, eine neue Dunkelheit, das Gegenstück eines Sommers, den du noch nicht erlebt hast. Wir werden im Winter geboren und sterben im Sommer, so sieht in meiner Familie der Kalender aus. Ich kam an einem Sonntag zur Welt, am Sonntag, den zwölften November, neunzehnhunderteinundsechzig, im Haukeland-Krankenhaus in Bergen. Wir mögen uns zwar an die Geburt nicht erinnern, doch das Krankenhaus vergessen wir nie, es wohnt in uns als unser erstes Zuhause, ein Ort, an dem wir Wohlbehagen verspüren und zu dem wir gerne zurückkehren; die weißen Wände, das Bett mit seinen Metallbeschlägen, die sauberen Laken, die hellen Kittel der Krankenschwestern, die Linoleumböden und das Geräusch von fließendem Wasser, von Kindergeschrei und Kirchenglocken, all das führt sein heimliches und unvergessliches Leben in dem Kinderkörper, der erwachsen werden wird mit einer unheilbaren Sehnsucht nach Krankheit und Tod. Das Kind wurde geboren. Es war nicht leicht. Es brauchte dazu einen Vater und eine Mutter und deren Eltern und wiederum deren Eltern, eine lange Reihe von Gesichtern, die niemand mehr vor sich sehen konnte, die aber doch in Form einer Nase oder eines verschleierten, trägen Ausdrucks in den Augen wieder aufgetaucht sind, in einem Gesichtsausdruck, der als etwas Fremdes und zugleich Wiedererkennbares in dem Kind herangewachsen ist, etwas Abwesendes, Misstrauen, in der Haut zusammengefaltet über dem, das er war; ein Gesicht, das mit der Zeit verändert wurde, langsam, in einem Spiegelbild, das nicht er sein konnte, das aber doch das Gesicht war, das er tragen musste. Es war keine leichte Geburt. Dem Kind ging es gut im Dunkeln. Er schlief und wachte mit dem Herzschlag der Mutter, diesem regelmäßigen, rhythmischen Pochen, das später dafür sorgen sollte, dass er sich auf Schiffsreisen und langen Zugfahrten so sicher fühlte: so weit weg von der Mutter wie möglich. Das Kind wollte sich im Bauch der Mutter nicht drehen, es schlief, den Kopf nach oben, näher zum Herzen und dem sicheren, pulsierenden Laut des Lebens; er wollte den Kopf in diesem wohligen Innenraum nicht nach unten drehen, er mochte keine Veränderungen. Widerwillig wurde er gedreht. Von unsichtbaren Händen. Sie pressten seinen Kopf zwangsweise nach unten, er saß im Unterleib der Mutter fest. Er wollte schreien, aber er hatte den Mund voller Wasser. Er strampelte und schlug um sich, er kämpfte, aussichtslos, die Schläge und Tritte wirkten gegen seine Absicht, jetzt waren stärkere Kräfte am Werk, die ihn nach unten drückten. Musste er abwärts? Er wollte hinauf, wurde hinuntergezwungen. Etwas öffnete sich. Er ahnte Licht. So war es also zu sterben. Er wurde widerwillig ans Licht gezerrt. Erst war da nur ein dünner weißer Streifen, der sich verbreitete und zu einem schmalen Kreis von blendendem Licht wurde, der ihn vollständig verschluckte, und jetzt konnte er endlich schreien. Man zieht den kleinen Körper aus der Mutter heraus, durchtrennt die Schnur, die ihn mit ihr verbindet, und trägt das Kind zu einem Tisch, wo es gewaschen wird. Das Kind wird getrocknet. Man hüllt es in Stoff. Erst wird ihm ein dünner Baumwollstoff um die Beine gewickelt und als strammes Futteral über die Leibesmitte, den Bauch, die Brust, bis das Kind zu einer Puppe gemacht ist. Dann ein dicker Stoff über die Baumwollschicht, eine viereckige Decke wird um den Körper gewickelt, bis er unbeweglich ist. In dieser Zwangsjacke bist du Kind. Kind unter Kindern in einem Schlafsaal, so verlassen und schön. Tageslicht und Neonlicht. Licht von Lampen und Gesichtern. Die weißen Schwestern kommen und gehen. Manchmal wirst du weggerollt und einer Mutter an die Brust gelegt. Wer ist sie? Ein Geruch. Weiche Haut, eine Brust. Die Mutterstimme. Die ersten Wörter, Klanggeräusche, hell und dunkel, gedämpft von Weinen, unterbrochen von Seufzen. Ist sie unglücklich? Auch die Vaterstimme ist zu hören. Du hörst, dass ein Name genannt wird, mehrere Namen, man versucht sich mit Namen, und einer dieser Namen wird deiner sein. Du kannst dich noch nicht gegen diesen Namen wehren, den sie in ihrer Familie finden, die deine Familie ist. Du nimmst den Namen entgegen. Du antwortest darauf. Zunächst mit Geräuschen, Bewegungen, du drehst dich von den Namen weg. Aber der Name wird einem Kind angeheftet, so wie man Buchstaben in Säuglingskleidung stickt. Man wählt eine Farbe für das Kind und das Kind wird blau und man knüpft eine Sprache an die Farbe: man kleidet das Kind in Blau und das Kind verschwindet in Stoff und in Sprache, der Sprache, in der es heranwachsen soll. Ein kolossales Kind. So klein, dass es für Mutter wie Vater zu groß wurde. Das Kind füllte ihre Leben mit Weinen und Bedürfnissen und einer Anwesenheit, sie wussten nicht, wie sich davon losreißen. Schlaflose Nächte, halbwache Tage mit dem Kind, das größer wurde und sie kleiner machte; sie redeten jetzt in einer Babysprache. Sie lallten und lullten, sie flüsterten und wisperten, sie gingen auf Zehenspitzen durch die Wohnung und gehorchten einer Stille, die das Kind schlafend halten sollte. Aber das Kind wollte nicht schlafen. Sogar im Schlaf war das Kind wach, so wirkte es; wann sollten die Eltern Ruhe finden, was sollte aus ihren Bewegungen werden, dem wenigen, das sie an Freiheit hatten, wie sollten sie sie selber sein, ein Paar, sie hatten keine Zeit mehr füreinander, keine Kraft und nicht Wachheit genug für anderes, als einander zu ermatten, sie waren Eltern geworden, sie waren Eltern eines Kindes, das zwischen sie geraten war, sie waren getrennt in einen Vater und eine Mutter. Es war, als verschwinde die Mutter in diesem Kind, als wäre das Kind eine Katze, die an ihren Eltern zehrte, die Zuhause und Möbel, Stühle und Tische aufaß, das Kind wuchs heran und verschluckte eine ganze Welt, ihre Welt, es war kein Platz noch Zeit mehr für etwas anderes als das Kind: ein Kinderbett, Kinderkleider und Spiele, Kinderessen und ein neuer Geruch in den Zimmern, der Kindergeruch. Der Geruch von Unfreiheit. Von Schlaflosigkeit und Müdigkeit, der Geruch von Kindheit, er füllte die Wohnung. Zum zweiten Mal starb das Kind in der großen Vierzimmerwohnung in der Vestre Torggate. Es war ein kalter, feuchter November, wurde erzählt, in einer kalten, zugigen Wohnung, die dafür sorgte, dass das Neugeborene eine beidseitige Lungenentzündung bekam, während zugleich bei der Mutter die Milch versiegte wegen des kalten Bodens, der kalten Zimmer, wegen des Luftzugs von Fenstern und Türen. Bei der Mutter versiegte die Milch, wurde erzählt, und das unterernährte Kind bekam eine Entzündung auf beiden Lungenflügeln, es war neugeboren und bereit zu sterben. Sehr viel später wurde mir klar, dass meine Mutter das Kind nicht stillen wollte. Sie hegte eine große Furcht vor Kleingetier und allem, was auf allen vieren läuft. Sie hatte Angst vor Hunden und Katzen, vor Vögeln und Fliegen, vor allem, was durch die Luft flog. Allem, was am Boden kroch. Die Natur und das, was sich an der Natur nährte, das wuchs und die Lebenskraft aus seinem Ursprung sog, all das verursachte ihr Übelkeit. Sie verabscheute die Natur in derselben Weise, wie sie ihre eigene Unfreiheit hasste, und die Natur war frei, genauso wie die Natur dreckig war, wie eine Katze dreckig war, oder ein Hund, aber auch ein Säugling, diese Angst vor Kindern, diese Furcht vor der Natur und Kleingetier, wiederholte sich mit meiner Schwester, die auch nicht gestillt wurde, mit dem Ergebnis, dass wir beide, meine Schwester und ich, in unserer Kindheit die meiste Zeit über krank waren. Und wir liebten unsere Mutter, so wie alle abgewiesenen Kinder ihre Mütter lieben. Und die Mutter war eine gute Mutter, denn sie war eine schwierige Mutter, eine gute Mutter, denn sie war eine abwesende Mutter. Denn was wäre aus dem Jungen geworden, wenn die Mutter nah gewesen wäre, wenn...


Espedal, Tomas
Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren, gab sein literarisches Debut 1988 mit dem Roman En vill flukt av parfymer (Eine wilde Flucht vor dem Parfüm). Seither veröffentlichte er zahlreiche, mit vielen Preisen ausgezeichnete Romane und gilt neben seinem Freund Karl Ove Knausgård als einer der wichtigsten Schriftsteller Skandinaviens.

Schmidt-Henkel, Hinrich
Hinrich Schmidt-Henkel, 1959 in Berlin geboren, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Jean Echenoz, Denis Diderot und Raymond Queneau (zusammen mit Frank Heibert). Für seine Arbeit ist er vielfach ausgezeichnet worden, er erhielt unter anderem den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis 2015 und den Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie.

Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren, gab sein literarisches Debut 1988 mit dem Roman  (Eine wilde Flucht vor dem Parfüm). Seither veröffentlichte er zahlreiche, mit vielen Preisen ausgezeichnete Romane und gilt neben seinem Freund Karl Ove Knausgård als einer der wichtigsten Schriftsteller Skandinaviens.

Hinrich Schmidt-Henkel, 1959 in Berlin geboren, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Jean Echenoz, Denis Diderot und Raymond Queneau (zusammen mit Frank Heibert). Für seine Arbeit ist er vielfach ausgezeichnet worden, er erhielt unter anderem den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis 2015 und den Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie.



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