E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Escande Auf eine Zigarette am Mont Blanc
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99193-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Wie ich den höchsten Gipfel der Alpen bestieg, obwohl ich dort nichts zu suchen hatte
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-492-99193-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Weitere Infos & Material
Ein Schriftsteller hat einmal in einer Fernsehsendung erzählt, dass er während seiner Scheidung nur noch ein halber Kerl gewesen sei. Ich merke, dass ich nur noch ein Drittel meiner selbst bin. Dieses Drittel macht seine Arbeit und zieht um in eine Zweizimmerwohnung, die ich in der Nachbarstadt von Enghien-les-Bains gemietet habe, wo wir ein kleines Haus besitzen. Trotz des trostlosen Eindrucks, den die kleine Gemeinde im Val-d’Oise macht, bringt meine neue Adresse meist jeden zum Lachen, dem ich sie mitteile. Denn ich wohne hier in der »Rue de l’Avenir« in »Deuil-la-Barre«, also in der »Zukunftsstraße« in »Trauerpfosten«. Wenn ich studierter Psychoanalytiker wäre, hätte ich wahrscheinlich einen anderen Ort für den Absturz gewählt, denn ich muss zugeben, dass ich mich in dem Augenblick, als ich dort einziehe, im freien Fall befinde.
Ich habe kein Möbelstück mitgenommen, alles ist neu in diesem Appartement in einem Wohnblock zwei Schritte entfernt vom Bahnhof für die Vorortzüge im Pariser Speckgürtel. Das Mobiliar habe ich an einem einzigen Nachmittag bei Ikea gekauft – ich ließ mich vom Musterappartement im Möbelhaus inspirieren. Ich kann bestätigen, dass Ikea mein Lieferant für alles geworden ist. Von der Gabel bis zum Sofa tragen alle Gegenstände Vornamen, die aus »Der Herr der Ringe« stammen könnten. Doch das stört mich nicht, denn ich vermeide es, längere Zeit zu Hause zu sein. Die Stille in meinem neuen Heim stürzt mich in einen Zustand tiefer Traurigkeit. Ich verbringe viel Zeit im Büro oder auf dem Motorrad, da ich täglich zweieinhalb Stunden nach Paris und zurück pendle. In meiner verbleibenden Freizeit widme ich mich dem Laufen und der Gymnastik. Ich jogge am Wochenende, und um nicht fünf Tage am Stück ohne Sport zu sein, halte ich mir den Mittwochabend frei. Mitten im Winter ist es um siebzehn Uhr bereits stockdunkel, sodass ich eine Stirnlampe trage, wenn ich in den Wald von Montmorency aufbreche – es ist der einzige Ort, an dem ich das Joggen nicht entmutigend finde. Eine peinliche Begegnung mit einem Paar, das sich, an einen Baumstumpf gelehnt, vergnügt, überzeugt mich allerdings davon, dass ich die Laufzeit ändern muss.
Das Training, das Sylvain mir vorgeschlagen hat, erfordert es, meinen Alkohol- und Tabakkonsum zumindest in den ersten Wochen einzuschränken, um das Tempo des Trainingsplans einzuhalten, denn die Änderung des Lebensrhythmus strengt meinen Organismus an. Wegen der Trennung finde ich schlecht in den Schlaf. Selbst wenn ich vom Sport erschöpft bin, wache ich jede Nacht zwischen drei und vier Uhr morgens auf und mache bis zum Morgengrauen kein Auge mehr zu. Ich überlege mir verschiedene Entspannungsmethoden, versuche es zuerst damit, einen Film anzuschauen, doch keine Geschichte kann mich wirklich fesseln. In meinem Kopf läuft ein anderer Trailer, in dem ich eine schlechte Rolle spiele und der Übeltäter bin, der die familiäre Katastrophe verursacht hat. Ich denke an meine Kinder, an ihre offenkundige Trauer und an die Unruhe, die diese endlose Trennungsphase stiftet. Ich versuche auch, mich auf andere Gedanken zu bringen, indem ich im Internet surfe. Ich besuche verschiedene Länder, doch die Erde vom All aus gesehen verstärkt letztlich nur meine Schwermut, so unmenschlich sind die grünen und flach gedrückten Bilder unserer Kontinente. In meinem Kummer zieht mich das Netz wie ein ungesunder Strudel in sich hinein. Je mehr Seiten ich besuche, desto mehr fesseln mich morbide Videos von Flugzeugabstürzen und Luftbombardements. In einer besonders beklemmenden Nacht stoße ich auf grauenhafte Bilder von Tierschlachtungen, die mich in einen so eigentümlichen Angstzustand versetzen, dass ich gezwungen bin, einen Freund per Telefon zu wecken, um wieder mit der Welt der Lebenden in Verbindung zu treten.
Die Wochen gehen vorbei, ich komme durch den Winter, indem ich an meinem Sportprogramm festhalte. Ich habe gelernt, dass ich bei kaltem Wetter eine Mütze, Handschuhe und einen Halswärmer aus Fleece tragen sollte, um mich nicht zu erkälten. Morgens um sieben Uhr, wenn ich von Deuil-la-Barre in den Wald von Montmorency starte, laufe ich lange Autoschlangen entlang, die zur Arbeit nach Paris fahren. Ich trabe in die entgegengesetzte Richtung der Staus und fühle mich so schuldig, als schwänzte ich den Gymnasialunterricht. Lange habe ich mich auf zwanzig Minuten Laufen beschränkt, denn meine Lunge brennt und mein Herz gerät außer Takt. Zudem beschäftigen mich die Schmerzen beim Abwinkeln meiner Knie. Eines Morgens beschließe ich, einen Fachmann zu konsultieren, den ich mit einer App der Gelben Seiten auf meinem Handy suche. Ich finde eine Ärztin ganz in der Nähe meines Appartements. Der unvorhergesehene Ausflug hebt meine Stimmung, zumal es bald Frühling ist. Die Frau mir gegenüber ist ungefähr fünfzig, sie hat eine raue Stimme und einen schönen braunen Blick, mit dem sie mich misstrauisch mustert. Hinter ihr, an die Wand gepinnt, ein Poster von Pink Floyd.
»Nun, Herr Escande, wo tut’s denn weh?«
»Ich habe Schmerzen in den Knien. Ich trainiere, um diesen Sommer auf den Mont Blanc zu steigen, seit einiger Zeit laufe ich viel.«
»Haben Sie zuvor Sport gemacht?«
»Nicht richtig.«
»Was machen Sie dagegen, nehmen Sie Medikamente?«
»Ich nehme Doliprane gegen die Schmerzen.«
»Sonst nichts?«
Ich gerate in eine Verwirrung, die unerklärlich ist angesichts dieser einfachen Frage. Ich spüre Angst in mir aufsteigen, als hätte man mich beim Schwindeln ertappt, und ich beginne zu stammeln.
»Ich nehme täglich Doliprane. Aber ich nehme auch … Aspirin … Advil und Voltaren … damit es besser wirkt. Wissen Sie, manchmal schmerzt es wirklich sehr …«
»Schlafen Sie gut?«
»Nein, nicht besonders. Ich kann schlafen, wenn ich Fervex nehme.«
»Sind Sie auch erkältet?«
»Nein … es ist nur so, dass ich festgestellt habe, dass Fervex mich einschlafen lässt …«
»Prima. Rauchen Sie?«
»Ja, etwa sechzehn Zigaretten am Tag …«
»Also eine Packung. Und Alkohol?«
»Wein. Wie jeder.«
»Sicher. Wie viele Gläser ungefähr?«
»Nicht mehr als fünf … Das ist ganz normal, denke ich.«
Ich sehe, wie sie sich Notizen macht, als würde sie bereits die Sprechstunde des künftigen Patienten vorbereiten.
»Ich hoffe, ich habe mir keine Bänder oder den Meniskus gerissen«, sage ich albern, »das wäre mit Blick auf den Sommer sehr ärgerlich. Schlimmstenfalls, nehme ich an, könnte man mir Injektionen geben. Ein Alpinist, mit dem ich befreundet bin, hat mir gesagt, das hätte ihm gut geholfen, und Sie verstehen sicher …«
»Nein, Herr Escande, ich verstehe nicht«, sagt sie plötzlich und hebt den Arm, um mich zu unterbrechen. Sie legt ihren Stift weg und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Muss ich mich röntgen lassen?«
»Hören Sie, wir setzen Sie jetzt auf null. Zuerst nehmen Sie eine große Plastiktüte und sammeln all die Medikamente ein, die Sie besitzen. Dann bringen Sie den ganzen Kram mit Grüßen von mir in die Apotheke an der Ecke. Anschließend werde ich Ihnen ein Schlafmittel verschreiben, Stilnox, das Sie abends direkt vor dem Zubettgehen einnehmen.«
»Einverstanden, und meine Beine?«
»Sie müssen etwas sehr Wichtiges verstehen. Aus medizinischer Sicht bereitet man seinen Organismus auf diese Weise ganz und gar nicht auf einen Aufenthalt im Hochgebirge vor. Also Schluss mit dem Rauchen, Schluss mit dem Trinken. Was Ihre Beine angeht, werden wir sehen, aber ich denke, es handelt sich um Muskelkater. Wenn Sie Ihr Training besser ausrichten, wird das genügen.«
Der Vorteil des Verlagshauses, bei dem ich arbeite, sind die zahllosen Treppen, denn die Anzahl der Büros nahm in dem Maße zu, wie der Verlag wuchs, und so ist das Innenleben des Gebäudes heute auf komplizierte Weise verschachtelt. Mein Büro liegt im dritten Stock, es bietet eine friedvolle Aussicht auf den Garten, wo jede Jahreszeit sich mit ihren Farben an den Bäumen und Blumen austobt. Ich nehme den längsten Weg, um einen Brief im Erdgeschoss abzugeben. Ich steige die Stockwerke hinauf und hinunter, durchquere die verschiedenen Abteilungen, um nach zwanzig Minuten in der Presseabteilung anzukommen. Zufällig begegne ich Jean-Christophe Rufin. Ich weiß immer, wenn er im Haus ist, weil er mit dem Klapprad kommt, seinem Fortbewegungsmittel in Paris. Er parkt es unter dem Minitel-Gerät, das wir aus irgendeinem rätselhaften Grund aufbewahren wie eine Reliquie aus dem 20. Jahrhundert. Ich gehe ins Büro seiner Pressereferentin. Er steht da, lehnt am Fenstersims, das zum Garten hinausgeht. Im Gegenlicht zeichnet sich seine hohe Gestalt scharf ab. Er trägt einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd.
»Ich weiß noch nicht, ob ich mit euch mitkommen kann«, sagt er. »Ich habe zugesagt, im Juni zum Salon du Livre nach Nizza zu fahren, um Bücher zu signieren. Und außerdem fühle ich mich zu alt, ich werde euch nicht folgen können. Betagte Herren wie ich machen Thalassotherapie und Strandspaziergänge im Dufflecoat.«
»Hör auf, du bist besser trainiert als ich. Als würdest du gerade von den Olympischen Spielen zurückkommen. Wir haben das Datum jedenfalls noch nicht festgelegt. Wir besteigen den Mont Blanc zusammen, wie wir es von Anfang an geplant haben.«
»Von wegen! Von all diesen Abendessen in Paris bin ich fett geworden wie ein Schwein. Habt ihr schon entschieden, welche Route ihr nach oben nehmen wollt?«
»Sylvain und Daniel wollen einen Weg auf der italienischen Seite gehen. Die Route ist anscheinend herrlich. Kennst du...