Ernst | Im Spiegellabyrinth | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

Ernst Im Spiegellabyrinth


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95764-200-4
Verlag: Hallenberger Media Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

ISBN: 978-3-95764-200-4
Verlag: Hallenberger Media Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Spiegellabyrinth skizziert die Nachwehen gestriger Wirklichkeit, die Narben und Erinnerungen, die Menschen prägen. Egal ob in Hamburg, New York oder Tel Aviv. In 18 Erzählungen umkreist der Roman die Echos des Krieges, berichtet über Vertreibung und Exil, Ringen von Vater und Sohn um Verstehen der Vergangenheit und das Scheitern einer Liebe, die zwischen Schuld, Sühne und der Sehnsucht nach Normalität strandet. Es ist die subjektive Chronik einer westdeutschen Nachkriegsjugend, eine Collage, die Erinnertes und Erlebtes zu einem Prisma verschiedener Ebenen und Erzählstränge verwebt. Dabei geht es traurig, amüsant, grotesk und nur selten nostalgisch zu.

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Meine Parabellum


Erinnerungen sind immer auch das Ergebnis von Zensur. Ab und zu rächt sich das Gedächtnis. Ein Geruch, eine Farbe oder ein Klang lässt die komplizierten Schotten, die unsere Entwürfe von Vergangenem absichern, aus den Fugen geraten. Ungefiltert und roh dringt Verdrängtes ins Jetzt, zerstört die niedlichen Kompositionen, die wir für wahre Abbilder gestriger Wirklichkeit halten.

An einem Frühsommertag des Jahres 1961 rammte meine Mutter die Linde vor unserem Haus. Sie saß in einem DKW und nahm die Kurve etwas zu zügig. Der Baum überstand ihr Einparken, der geliehene Wagen nicht.

Minuten zuvor hatten Ärzte der Universitätsklinik ihr Röntgenbilder gezeigt. Aufnahmen einer Lunge voller Schatten und Löcher. Ihrer Lunge. Was sie für einen verschleppten Husten gehalten hatte, entpuppte sich als Tuberkulose. Die konnte man damals zwar schon heilen, doch die wunderbaren Medikamente, die es heute gibt, existierten noch nicht. Tuberkulose bedeutete Isolierstation, Chirurgie, Liegen. Monate, manchmal Jahre.

Sie müsse sofort in Behandlung.

Es gäbe da drei Kinder. Sie könne nicht von heute auf morgen fort. Ihr bleibe keine Wahl. Sie brauche jetzt alle Kraft für sich: Und Glück. Viel Glück.

Ihre älteste Tochter war zehn, die jüngere fünf und ich zweieinhalb. Uns musste jemand tagsüber hüten. Etwa zehn Wochen übernahm das Ilse Felsmann, eine alleinstehende Frau von Mitte fünfzig. Sie gab sich wenig Mühe. Wenn sie die Wohnung verließ, um Einkäufe zu tätigen, wurden wir in die Wäschekammer gesperrt. Einmal befreite uns unsere Schwester. Darauf zog Frau Felsmann stets den Schlüssel ab. So hockten wir in dem muffigen Verließ. Da sie gern ausgiebig fortging, hatten wir uns nicht selten in die Hosen gemacht, bis sie wieder erschien. Wir waren, wie sie es ausdrückte, ‚unartig’ gewesen. Dafür musste sie uns dann bestrafen. Frau Felsmann hielt auf Strenge. Die war ihr mindestens so wichtig wie Schaufensterbummeln.

Wir müssen ziemlich erbärmlich geschrien haben. Irgendwann beschwerten sich die Nachbarn. Der Vater fragte seine älteste Tochter. Die druckste herum. Er bekam einen roten Kopf. Warum sie ihm nichts davon erzählt habe? Sie wolle nicht, dass wir wegkämen ins Heim. Wieso ins Heim? Das habe Frau Felsmann ihr so erklärt.

Frau Felsmann tauchte nie wieder auf. Wir kamen trotzdem nicht ins Heim. Eine Zeit lang betreute uns die Mutter meines Vaters. Die war herzkrank und alt. Ende des Sommers fuhr er dann mit uns für vierzehn Tage aufs Land. Zu Hannelore und Carl Kiesler.

Kieslers lebten in einem verschlafenen Nest am Rand der Lüneburger Heide. Nebenbei betrieben sie eine Pension. Wir waren dort schon häufiger zu Besuch gewesen. Außerdem lag dieses Dorf keine zwanzig Kilometer von Wintermoor entfernt, wo unsere Mutter in einem zur Lungenheilstätte konvertierten Wehrmachtslazarett auf ihre Operation wartete.

Am Ende der zwei Wochen boten Kieslers Vater an, uns Kleinen in Pflege zu nehmen. So blieben wir. Meine Schwester ging ab dem Frühjahr in die Dorfschule. Mir gab Onkel Carl ein Kaninchen, das ich füttern durfte, bis ich eines Morgens seinen Stall leer vorfand, nachdem es einer Verwechslung zum Opfer gefallen und im Kochtopf gelandet war. Den angebotenen Ersatzhasen lehnte ich ab.

Unsere Mutter stieß im folgenden Spätsommer wieder zu uns, geheilt entlassen. Sie blieb einige Tage, bevor wir zurück in die Stadt fuhren. Doch seit diesem Jahr waren wir auf dem Hof der Kieslers zu Haus. Bis wir eigene Wege gingen, verbrachten wir fast alle Ferien dort. Auch ohne Eltern.

Kieslers bewohnten das ehemalige Herrenhaus, einen großen Backsteinbau mit Mansardenfenstern. Es lag auf einer Anhöhe, versteckt zwischen Blautannen, Kiefern und Eichen. Über der barock geschwungenen Eingangstüre in der Mitte der Front thronte die Veranda, von der aus man auf die ovale Auffahrt, das mit Beeten gesäumte Rondell und das Becken des vor Jahrzehnten trockengelegten Springbrunnens blickte. Das Haus hatte sich ein obskurer Erfinder errichten lassen, der Anfang des Jahrhunderts hierher gezogen war. In einer dusteren Ecke des Kellers, neben Regalen mit zahllosen Weckgläsern, geisterte noch sein Gesicht. Eine hagere, spitzbärtige Totenmaske, die unter Spinnweben an einem rostigen Nagel hing.

Längst war die frühere Pracht verfallen. Efeu wucherte an den Fassaden, als üppiger, dunkelgrüner Teppich, der bis ans Walmdach leckte. Eidechsen huschten durch das rissige, moos- und flechtenbesetzte Bassin. Sommers, wenn wir in lauen Nächten auf dem Balkon schliefen, flatterten über uns Fledermäuse.

Ursprünglich stammten Kieslers aus Westpreußen. Früher hatten sie Kieslowsky geheißen, doch den polnischen Namen eingedeutscht. Carl Kiesler war zehn Jahre älter als mein Vater und Fischermeister in der Nähe von Deutsch-Eylau gewesen. Bis Kriegsende blieb er freigestellt. Herbst 44, als die Wehrmacht zurückwich und die Rote Armee an die Tür klopfte, zog man ihn schließlich ein. März 1945 ergab er sich den sowjetischen Truppen. Irgendwo im Osten der Tschechoslowakei.

In jenem Winter flohen die Frauen, Kinder und Alten nach Westen. Kieslers Sohn war damals ein halbes Jahr alt. Ihr Treck geriet zwischen die Fronten und wurde überrollt. Lore Kiesler redete nicht gern darüber. Anders als viele der Flüchtlingsfrauen. Die sprachen das Wort ‚Russen’ so aus, dass man sofort Bescheid wusste. Wir wurden bei solchen Gesprächen rausgeschickt, mit dem üblichen: „Geht mal spielen ...“

Durch die halb geschlossene Tür hörten wir dann Sätze wie: „Siebzehn Mal hintereinander, am helllichten Tage, im Schnee. Was wir da durchgemacht haben, kann sich keiner vorstellen.“

Das ‚durchgemacht’ kam gerollt, mit ostisch breitem „R“ und weichem „G“, das fast wie ein „J“ klang. Die Männer blieben bei diesem Thema immer merkwürdig still.

Carl Kiesler wurde 1952 aus einem sibirischen Bergwerk entlassen.

Kieslers gehörten zu den drei, vier privilegierten Flüchtlingsfamilien, die von den Eingesessenen akzeptiert wurden. Sie wohnten im Dorf. Die übrigen Vertriebenen hausten einen guten Kilometer außerhalb in der ‚Ostlandsiedlung’, waren arm, konnten im Laden nicht anschreiben lassen und bezogen beim Schützenfest regelmäßig Prügel.

Es waren die Nachwehen der fünfziger Jahre. Im Vorderhaus wohnten Kieslers und ihr Sohn, der Müllerbursche mit Frau und sechs Töchtern, sowie der Dorflehrer. Außerdem vermieteten Kieslers an Sommerfrischler aus der Stadt. Über der Waschküche mit dem riesigen, holzbefeuerten Zuber, in einem eigenen Gebäude untergebracht, befand sich Lottchens Kammer. Lottchen war die schlesische Magd. Das Zimmer daneben teilte eine Witwe aus Kongresspolen mit zwei Kindern und wechselnden Onkels. Schob deren Mutter, eine ältere Frau, die am Rand der Ostlandsiedlung wohnte, kein „Ü“ aussprechen konnte und stattdessen immer „I“ sagte, ihr klappriges Fahrrad den staubigen Sandweg hoch, machte sie vor Carl Kiesler stets einen tiefen Knicks. Meinem Vater versuchte sie einmal die Hand zu küssen, nachdem der ihr zwanzig Mark zusteckte. Er wurde knallrot und zog seine Finger weg. Hinterher stotterte er etwas von „Mittelalter“.

Nur im Hauptgebäude gab es fließend Wasser. Auf dem Hof stand eine Handpumpe. Die Klosetts waren hinter dem Schweinestall, neben dem Schuppen, wo das Brennholz lagerte.

Kieslers hielten ein Dutzend Säue, Karnickel, Hühner und Enten für den Hausgebrauch. Sie besaßen einen großen Gemüsegarten, ein paar Obstbäume und einige Hektar Acker. Winters fuhr Kiesler in einem durchgerosteten Opel über die Dörfer und versuchte den Bauern zwischen Scheeßel und Lüneburg elektrische Wolldecken und Heizkissen anzudrehen. Kehrte er abends von seinen Touren heim, brachte er uns immer eine Kleinigkeit mit, meist Schokoladenwaffeln in Stanniolpapier. Sobald wir das Röhren des ‚Olympia’ hörten, liefen wir die Auffahrt runter. War es ein guter Tag gewesen, stieg er aus, fragte grinsend: „Na, wer zuerst?“, packte uns unter den Armen, schwang uns in die Luft und drehte sich so lange im Kreis, bis wir kreischten. Das nannten wir Karussell spielen.

Hatte er auf dem Hof zu tun, trottete ich häufig hinterher. Er nahm mich mit, wenn er ins Kühlhaus oder in die Räucherei fuhr, zu benachbarten Bauern oder Ferkel kaufen. Mitunter fragte er mich sogar, ob ich ihm nicht ‚helfen’ wolle. Ich vermute, es machte ihm Spaß, mit mir herumzuziehen. Oder er holte etwas nach. Schließlich war sein eigener Sohn fast schon neun gewesen, als er aus Russland zurückkam. Den hatte er nur als Säugling erlebt.

Auch als er sich eines Tages das Tesching überhängte, um Eichhörnchen zu schießen, begleitete ich ihn. Obwohl er sagte, ich solle besser bei den anderen Kindern bleiben. Es gab ziemlich viele Eichhörnchen. Sie räuberten Vogelnester aus. Onkel Carl traf das Tier mit dem ersten Schuss. Es hielt sich ein paar Sekunden in der Baumkrone, bevor es durch die Äste vor unsere Füße fiel. Es lebte...



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