Moskau zwischen Modernisierungspartnerschaft und Großmachtrolle
Buch, Deutsch, 284 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 213 mm, Gewicht: 360 g
ISBN: 978-3-593-39529-6
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Nationale und Internationale Sicherheits- und Verteidigungspolitik
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Inhalt
Einleitung
Die Europäisierung Russlands: Anspruch und Wirklichkeit
Gernot Erler 9
1. Auf dem Weg zur gebremsten Modernisierung 11
2. Vom "eigenen Weg" zur offenen Tür 14
3. Das Trauma NATO-Osterweiterung 17
4. "Nicht vom Gas allein …": Partnerschaft mit der EU 22
5. Zwischen Bluff und Blickwendung: die eurasische Karte 25
6. Im Dickicht der Optionen 29
Kapitel 1
Genesis und Perspektiven des politischen Systems in Russland
Peter W. Schulze 33
1. Glasnost, Perestroika und der postsowjetische Aufbruch 33
2. Strukturdefizite der Umbruchphase 38
3. Das System Putin 49
4. Die Grundlagen der Machtsicherung 55
5. Das Modernisierungsprojekt 66
6. Eine Mittelschicht entsteht 77
7. Die Agenda der Modernisierung - Glasnost und Perestroika
à la Medwedew 96
8. Alea iacta est: Putins dritte Amtszeit 101
9. Eine Gesellschaft in Bewegung 107
10. Ausblick 111
Kapitel 2
Russland und die NATO: dauerhaft getrennt gemeinsam?
Hans-Joachim Spanger 115
1. Die NATO als Drehachse der europäischen (Un-)Sicherheit 118
2. Russland, der virtuelle Partner 132
3. Was ist zu tun? 143
Kapitel 3
Zwischen Partnerschaft und Konkurrenz: Die Entwicklung der EU-Russland-Beziehungen
Hans Martin Sieg 150
1. Die Entwicklung der Beziehungen bis zur ersten
Präsidentschaft Putins 150
2. Von der EU-Erweiterung 2004 bis zur
Modernisierungspartnerschaft 157
3. Die Energiebeziehungen 163
4. Konkurrenz im GUS-Raum 170
5. Sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen der
EU und Russland 175
6. Ausblick 185
Kapitel 4
Gestörte Leitungen: Russland und die Gasversorgung der EU
Gerhard Mangott 189
1. Die Rolle von Erdgas als Energieträger in der EU 189
2. Die Erdgaswirtschaft Russlands 193
3. Interessenkonflikte zwischen der EU und Russland
im Erdgassektor 196
4. Zusammenfassung 213
Kapitel 5
Russlands Ambitionen einer Eurasischen Union
Uwe Halbach 214
1. Die Sowjetunion in neuem Gewand? 215
2. Stationen auf dem Weg zur "neuen Integration" 216
3. Ein neues Integrationsprojekt? 220
4. Russlands Stellung im GUS-Raum 222
5. Integration nach europäischem Vorbild? 225
6. Ausblick 227
Kapitel 6
Eurasien: Option oder Illusion?
Christian Wipperfürth 229
1. Die postsowjetische Option 229
2. Die chinesische Option 236
3. Die europäische Option 245
4. Ein Ausblick in die Zukunft 249
5. Schluss 252
Anmerkungen 254
Literatur 263
Zu den Autoren 280
Die Europäisierung Russlands ? das ist insofern ein mutiger Titel, als er die These enthält, dass Russland sich tatsächlich europäisiere oder sich gar schon europäisiert habe. Der Begriff "Europäisierung" mit all seinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen suggeriert Annäherung durch Veränderung. Aber was bedeutet Annäherung an Europa, wenn die Rede ist von diesem größten östlichen Nachbarn der Europäischen Union, der geographisch seinen unverrückbaren Platz auf dem Boden zweier Kontinente einnimmt und ihn schwerlich verändern wird?
Die Russische Föderation, 1990 entstanden im Prozess der Auflösung der Sowjetunion, bedeckt mit ihren über 17 Millionen Quadratkilometern große Landflächen Europas und Asiens. Das schafft Optionen. Wohin sich ausrichten? Diese Frage beschäftigt das Land seit dem begeisterten und brutal entschlossenen Westler Peter dem Großen über die auch kulturell und religiös geprägten Kontroversen zwischen Slawophilen und Zapadniki im 19. Jahrhundert bis zu dem heutigen Führungsduo Putin und Medwedew. Die Idee von "Ewrazija" (Eurasien) unterstellt, eine eindeutige Festlegung könne auch vermieden werden, und sucht Russlands Rolle als Brückenbauer zwischen den Kontinenten. Solche Gedanken haben mal mehr, mal weniger Konjunktur, prägen aber meist eher die Leitartikel als die Politik.
In der realen russischen Entwicklung dominiert, was sich dann als "Europäisierung" zusammenzufassen rechtfertigen lässt, wenn man eine breit gefächerte Definition wählt. Danach würde Europäisierung im Fall Russlands folgende Tendenzen umfassen: Intensivierung der politischen Beziehungen EU-Russland, Gemeinsamkeiten mit Europa bei der Wahrnehmung von Sicherheitsverantwortung, Erweiterung der wirtschaftlichen Kooperation mit Europa unter Wahrung der Interessen beider Seiten, Partnerschaft mit Europa in globalen Fragen wie Klimaschutz, Energieversorgung, Wassermanagement und Sicherstellung von Nahrungsmittelverteilung und schließlich eine Weiterentwicklung von Politik und Gesellschaft im Sinne gemeinsamer europäischer Werte wie Demokratie, Geltung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft sowie Teilhabe und Mitverantwortung einer mit eigenen Rechten und Wirkungsmöglichkeiten ausgestatteten Zivilgesellschaft.
Europäisierung schließt in diesem Kontext auch die Beachtung wichtiger Erfahrungen aus der Entwicklung der Europäischen Union selbst ein. Deren Aufwuchs zu einem Zusammenschluss von 27 Staaten, mit der vorbereiteten Aufnahme von Kroatien im Jahr 2013 als 28. Staat sowie der Beitrittsperspektive für weitere sieben an der Integration interessierter Staaten - das alles belegt (trotz der ernsthaften Finanz- und Verschuldungskrise der Jahre 2011/2012) die anhaltende Attraktivität einer Staatenunion, in der Interessen- und Nachbarschaftskonflikte gewaltlos und zivilisiert gelöst werden, in der von dem gemeinsamen Wirtschafts- und Rechtsraum alle beteiligten Länder profitieren und in der Prinzipien gegenseitiger Solidarität gelten, die eine Wahrung annähernd vergleichbarer Lebensstandards einschließen. Im Zuge der Vergemeinschaftung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik wächst die EU auch schrittweise in die Rolle eines Global Players hinein, die für keinen der einzelnen Mitgliedsstaaten allein erreichbar wäre. Dass die EU es vermochte, nach den Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts eine kontinentale Neuordnung der Stabilität, des friedlichen Zusammenlebens und der nachhaltigen Prosperität aufzubauen, wird weltweit anerkannt.
Für die Russische Föderation lautet daher die politische Botschaft dieser Erfolgsgeschichte ihrer westlichen Nachbarn: Es könnte sich lohnen, im Großraum der ehemaligen Sowjetunion mit den zwölf verbliebenen Einzelstaaten Beziehungen auf der Basis der europäischen Erfahrungen aufzubauen. Europäisierung würde dann heißen, dies nach den Prinzipien der gewaltlosen und friedlichen Lösung von Nachbarschafts- und Interessenkonflikten und der Bildung von gemeinsamen Wirtschaftsräumen auf der Basis von gleichen Rechten und wechselseitigem Vorteil anzustreben, unter Verzicht auf eine klassische Vormachts- und Einflusspolitik, deren Zukunftslosigkeit sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach erwiesen hat. Eine solche Neuordnung regionaler Beziehungen müsste dann nicht nur für den GUS-Raum gefunden werden, sondern auch für westliche Nachbarstaaten wie die baltischen, die als frühere Sowjetrepubliken seit 2004 der EU zugehören, und die heutigen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten, die einst zum Warschauer Vertragssystem zählten. Dabei ließen sich die verschiedenen EU-Regionalstrategien nutzen, die jeweils gemeinsame Programme für GUS- und EU-Staaten anbieten, besonders die "Östliche Partnerschaft", aber auch die Ostseeraumstrategie und die Schwarzmeerkooperation.
Dieser Band schreitet nicht alle Politikfelder für eine Europäisierung Russlands im beschriebenen Sinne in gleicher Intensität ab. Zu manchen Stichworten und Themen wünschte man sich weitere Ausführungen oder gar zusätzliche Kapitel. Im Ergebnis gibt es Bereiche, wo sich russische Europäisierungsschritte klar abzeichnen, und andere, wo diese eher Optionen für die Zukunft darstellen. Im Folgenden will ich versuchen, eine Übersicht zu den Ergebnissen der jeweiligen Fragestellungen zu gewinnen und resümierend darzustellen. Dem soll sich eine Betrachtung der aktuellen Ereignisse in Russland nach den Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 im Lichte der Europäisierungsthese anschließen.