Erickson Bis tief in die Seele
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95576-165-3
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-95576-165-3
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Dunning hat Angst. Ein unheimlicher Fremder flüstert mit seiner schrecklichen rauen Stimme obszöne Fantasien in ihr Telefon. Sie spürt voller Entsetzen, dass er sie beobachtet, verfolgt - um bis tief in ihre Seele einzudringen. Um sie zu verletzten. Um sie zu töten. Auch ihr Bodyguard Mark Righter kann nicht verhindern, dass der gefährliche Psychopath immer neue Möglichkeiten findet, Anna in die Enge zu treiben. Er weiß nur, dass er ihn stellen muss, bevor der Jäger seine Beute in Besitz nehmen kann.
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2. KAPITEL
Mark Righter standen wieder alle Möglichkeiten offen. Jeder in Denver wusste das. Sogar Barry, der Bursche vom Coffeeshop, der ihm jeden Morgen in East Colfax Bagels und Espresso verkaufte. Mark war eine lokale Berühmtheit. Irgendwie.
“Wie sind die Jobaussichten?”, fragte Barry.
Mark nahm dem Ladenbesitzer achselzuckend die weiße Bageltüte ab. “Immer dasselbe. Es sei denn, ich würde mich nächtelang als Nachtwächter in irgendwelche Lagerhäuser setzen.”
“Es gibt Schlimmeres.”
“Sicher”, erwiderte Mark, “aber nicht für mich.”
Draußen kaufte er eine Tageszeitung. Er wollte wie jeden Morgen die Anzeigen studieren. Vielleicht musste er doch vorerst einen Job bei einer Sicherheitsfirma annehmen – zumindest, bis er wieder auf den Beinen war. Und dann gab es noch die Arbeitslosenschlange. Bei dem Gedanken zuckte Mark zusammen. Nicht nur, weil er kurz davorstand, zum Sozialfall zu werden, sondern weil man bei der Polizei davon hören würde. Und die Demütigung hätte er auf keinen Fall ertragen.
Ach, zum Teufel, dachte er, irgendwas wird sich finden. Es musste. Sein Humor, der wohltrainierte Polizistenhumor, der die schlimmen Dinge immer auf Distanz hielt, begann zu versagen.
Er ging über die Vintage Strip Mall auf den Tattoosalon zu und entdeckte Lil Martinelli, die Besitzerin – und seine Vermieterin –, die vor dem Haus den Bürgersteig fegte. Gerade rechtzeitig.
“Fertig?” Mark hielt die weiße Tüte hoch.
“Sicher”, erwiderte sie. “Geh schon mal nach hinten. Ich bin gleich da.”
Es war ein morgendliches Ritual geworden. Seit Mark vor vier Monaten die Polizei verlassen hatte, setzte er sich mit Lil bei Bagels und starkem europäischen Kaffee hinter ihrem Geschäft in die Sonne. Bald würde es morgens zu kalt sein, um draußen zu sitzen. Mark vermutete, dass sie ihr Ritual dann in den Tattoosalon verlegten. Oder ich habe bis dahin einen Job, dachte er hoffnungsvoll.
Lil war fertig mit Fegen und kam durch den Salon nach hinten in den Patio. “Hast du diesem Barry gesagt, er soll den Kaffee für mich verdünnen?”, fragte sie, setzte sich auf einen Plastikstuhl und nahm sich einen Teil der Zeitung.
“Gesagt habe ich’s. Ob er’s getan hat …” Mark zuckte gleichgültig die Achseln und bemerkte Lils Aufmachung: von Kopf bis Fuß schwarzes Leder. In den wärmeren Monaten hatte sie knappe schwarze Baumwollsachen getragen, aber nun, im September, verfiel sie wieder auf Leder: Weste, Minirock und hohe Stiefel. Und alles mit Nieten beschlagen, sogar der tiefe V-Ausschnitt ihrer Weste. Er kam nicht umhin zu bemerken, dass ihr üppiges Dekolletee alterte. Es war fleckig und runzelig von zu viel kalifornischer Sonne, ehe sie nach Denver gezogen war. Ebenso auffällig war das Tattoo auf ihrer Brust, eine bunte Maisgöttin der Pueblo-Indianer, die Lil von einem Museumsplakat kopiert hatte.
Sie war sehr stolz darauf, doch Mark fand es, nun ja, ein bisschen viel. Lil hatte immer noch eine anständige Figur, schmal und straff. Doch da sie auf die Fünfzig zuging, war ihr Gesicht runder geworden, ihr Make-up wirkte zu schwer, und ihr schulterlanges Haar war durch jahrelanges Dauerwellen und Schwarzfärben ruiniert.
Abgesehen davon war Lil eine gute Freundin geworden. Sie hatte ihn aufgenommen, als er sich damals, vor fast einem Jahr, von seiner Frau trennte. Er lebte immer noch oben im Haus und würde wohl auch noch eine Weile bleiben. Die Miete war in Ordnung. Gering.
“Dein Telefon hat geklingelt, gleich nachdem du Kaffee holen gegangen warst”, sagte Lil und kaute an ihrem Bagel.
Mark sah von den Anzeigen auf. “Wahrscheinlich meine Ex”, bemerkte er trocken. “Sie heiratet in ein paar Wochen. Wahrscheinlich will sie mich zum Empfang einladen.”
“Hm”, machte Lil kopfschüttelnd. “Oder es war ein Jobangebot. Du bist hier wirklich populär, Righter.”
“Sicher.”
Lils erster Kunde kam genau um zehn. Sie stand auf, schlug die Krümel von den Händen und zwinkerte Mark zu. “Der Trottel will einen Drachen auf die linke Backe.”
“Einen Drachen im Gesicht?”, fragte Mark.
“Nein, Mann, auf die Lil drehte sich um, schlug sich auf den Hintern und fing Marks amüsierten Blick auf.
“Du erwischst mich doch immer wieder”, sagte er ohne Verärgerung.
“Du bist ein leichtes Opfer.”
Sobald Lil im Haus verschwunden war, warf er die leeren Kaffeebecher und die weiße Tüte in den Abfalleimer jenseits des zerbrochenen Zaunes. Die Zeitung in der Hand, ging er über die Außentreppe des Backsteingebäudes nach oben. Auf halbem Weg sah er über die Stadt zu den im Westen aufragenden Bergen. Die Vorgebirge waren noch schneefrei. Doch die Viertausender dahinter, tief im Herzen der Rocky Mountains, glänzten weiß in der Morgensonne. Es war bald Jagdsaison, und Mark fragte sich, ob er sich den jährlichen Jagdausflug würde leisten können. Es würde im günstigsten Fall knapp werden. Er schlug mit der zusammengerollten Zeitung aufs Geländer, ging weiter und wollte sich heute keine Sorgen mehr machen.
Als er sein winziges Ein-Zimmer-Apartment betrat, sah er das rote Licht seines Anrufbeantworters blinken. Wieder sagte er sich, dass es entweder seine Ex-Frau war oder Hoagie, sein Ex-Partner, der sich nach ihm erkundigen wollte. Sie hielten weiter Kontakt, seit Mark den Dienst im Zorn quittiert hatte. Vielleicht fürchtete man, er würde sich eine 45er in den Mund stecken und dem Ganzen ein Ende bereiten. Polizisten taten das manchmal.
Eine Minute stand er vor dem Gerät und flüsterte ein Stoßgebet: “Hoffentlich ist es der Durchbruch!”
Eine Männerstimme erklang. Es war nicht Hoagie. “Hier spricht Scott Dunning. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie zurückrufen würden. Es ist eine dringende Angelegenheit, Mr. Righter.” Dann hinterließ er eine Nummer.
Dunning, dachte Mark. Scott Dunning. Er kannte den Namen. Ein Bauunternehmer. Wolkenkratzer. Und war Dunning nicht mit dieser Verteidigerin verheiratet? Die, die bei dem Prozess so dezent im Hintergrund geblieben war?
Mark forschte in seiner Erinnerung. Richtig. Die Frau war in den Vierzigern. Klein und etwas untersetzt. Ein zartes Gesicht und üppige blonde Locken. Große, runde Brillengläser. Dunning. Er war sich dessen sicher. Und was wollte nun deren Mann von ihm?
Unwillkürlich und trotz der Bitterkeit, die er gegenüber dieser Frau empfand, die geholfen hatte, seine Karriere zu zerstören, war er neugierig.
Er wählte Scott Dunnings Nummer. Eine Stunde später war er geduscht, umgezogen und fuhr zu Dunnings exklusiver Cherry-Creek-Adresse.
Es war Mark zur Gewohnheit geworden, sich Sonderbares zu merken. Auf dem Weg nach Cherry Creek fragte er sich erneut, warum Scott Dunning ihn sehen wollte. Er hatte am Telefon nur wiederholt, dass es dringend sei. Und – noch sonderbarer – sie wollten sich bei ihm zu Hause und nicht in seinem Büro treffen. Noch etwas anderes nagte an ihm. Dieses Treffen musste etwas mit dem Prozess des Orchideenmörders zu tun haben. Aber was? Der Prozess war abgeschlossen, der Verurteilte saß in Canyon City hinter Gittern. Glücklicherweise hatten die Geschworenen die Taktik der Verteidigung durchschaut, die mit dem Finger auf Mark gezeigt und angedeutet hatte, er habe die Unterwäsche der ermordeten Frau in der Wohnung des Täters platziert.
Okay, dachte er, die Geschworenen haben sich alle Beweise angesehen und den Halunken trotz der Slip-Geschichte für schuldig befunden. Aber das hatte ihm nicht geholfen. Die Presse hatte ein Fest gehabt. Teilweise verfolgten die ihn immer noch. Und als sein eigener Captain sich damals nicht vor ihn gestellt hatte, dachte er, nur eines tun zu können, und war gegangen. Vierzehn Jahre beim Denver Police Department und dann nichts mehr. Er war sechsunddreißig Jahre alt und ohne Zukunft.
Mark fuhr südlich die University Street entlang, kam an der modernen Cherry Creek Mall vorbei und suchte die Straße, in der die Dunnings lebten. Er versuchte, seine Bitterkeit zu verdrängen, doch das fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer.
Er bog nach links in die Belcaro und lenkte den grünen 76er Jaguar geschickt um die Ecke. Er liebte seinen Sportwagen. Der Jaguar war sein einziges Spielzeug, sein einziger Luxus. Er hatte ihn schon vor seiner Heirat gehabt. Er hatte ihn behalten, als die beiden Kinder geboren wurden und sie etwas zusätzliches Geld gut hätten gebrauchen können. Aber jedem stand etwas Freude im Leben zu, oder?
Er bog nach links in die Virginia, Richtung Polofelder, der Stadtteil der Reichen voller weitläufiger Villen. Das Haus der Dunnings stand am Polo Club Kreisel.
Herrenhaus wäre eine treffendere Beschreibung, dachte Mark, als er in die Einfahrt bog. Er passierte zwei beeindruckende offenstehende Eisentore, und die Schönheit des Anwesens nahm ihn sofort gefangen. Die Rasenfläche war ungefähr ein Acre groß. Die geschwungene Zufahrt wurde von schönen, ausladenden Eichen in beginnender Herbstfärbung gesäumt. Mehrere Gärtner harkten und jäteten. Ihre Lieferwagen waren kaum sichtbar hinter dem Haupthaus geparkt. Die Arbeiter sollen wohl nicht zu sehr auffallen, dachte Mark spöttisch. Als er parkte, stützte sich einer der Gärtner auf seine Harke und winkte. Mark erwiderte den Gruß.
Das Haus selbst war ebenso beeindruckend wie die Umgebung. Es war im englischen Tudorstil, vermutlich in den späten Fünfzigern, gebaut worden, nicht untypisch für diesen Teil von Denver – dem ersten echten Vorort der Stadt. Mit nur einem Golfplatz und einigen schönen Häusern hatte Cherry...