Erdrich | Schattenfangen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Erdrich Schattenfangen

Roman
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3332-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3332-5
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein beeindruckendes Psychodrama der Pulitzer-Preisträgerin.

Als Irene entdeckt, dass ihr Ehemann Gil ihr Tagebuch liest, legt sie ein neues an, das sie sicher aufbewahrt. Darin hält sie die Wahrheit über ihr Leben und ihre Ehe fest. Ihr altes Tagebuch benutzt sie, um Gil zu manipulieren. Louise Erdrich zeigt so beeindruckend wie schmerzlich, was geschieht, wenn aus Liebe Hass wird. 



Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Für ihren Roman »Der Nachtwächter« erhielt sie 2021 den Pulitzer-Preis. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Verlag und im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls ihre Romane »Jahr der Wunder«, »Die Wunder von Little No Horse«, »Der Gott am Ende der Straße «, »Liebeszauber«, »Die Rübenkönigin«, »Der Club der singenden Metzger«, »Der Klang der Trommel«, »Solange du lebst«, »Das Haus des Windes« und »Ein Lied für die Geister« sowie »Von Büchern und Inseln« und »Spuren« lieferbar.
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Blaues Notizbuch


2. November 2007

Du warst leichtsinnig geworden, und für eine Weile hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl. Als könntest du meine Gedanken lesen. Du hast zwar darauf geachtet, mein Tagebuch genau an den alten Platz zu legen und nichts in meinem Zimmer durcheinanderzubringen. Aber es war mehr als das. Ich konnte es nicht glauben. Es war ein Versagen meiner Vorstellungskraft. Oder zumindest dachte ich das am Anfang. Aber hier in der Bank, in meiner kleinen Schreibkammer, wird mir klar, dass ich meinem roten Tagebuch nicht allzu viele Wahrheiten anvertraut habe. Und ich habe es versteckt. Ich muss also gewusst haben, dass du nicht widerstehen konntest, dass du dem Geheimnis nachgehen musstest.

Du hast mich fast fünfzehn Jahre lang gemalt. In dieser Zeit hatte ich öfter Geheimnisse. Ich ließ sie auf meiner Haut landen wie Libellen. Einmal hast du sogar einen fein ziselierten, zarten, durchsichtig geäderten Libellenflügel auf meinen Innenschenkel gemalt, und ich dachte – er weiß Bescheid!

Unsere Kinder wurden in deine Hände geboren. Was gibt es da noch für dich zu wissen?

Man hat mir beigebracht, dass das Leben sich aus seinen prägenden Startbedingungen entwickelt und später nur noch schwer beeinflussen lässt. Wenn es mit der Liebe genauso ist, dann war sie von Anfang an von bösen Vorzeichen überschattet. In der Nacht vor unserer Hochzeit träumte ich von wilden Hunden, die mich anfielen und in Stücke rissen. Deinen Vater hast du kaum gekannt, und deine Mutter hatte ein seltsames Hüftleiden, so dass sie sich dir auf eine schiefe Art entgegenkrümmte. Und du bist dreizehn Jahre älter als ich – eine Unglückszahl. Aber jetzt kommt das Entscheidende: Du willst mich besitzen. Und mein Fehler: Ich habe dich geliebt und im Glauben gelassen, es könnte dir gelingen.

Nachdem ich dein nettes Abendessen verlassen hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer und setzte mich an den Schreibtisch. Schwarzbären. Wölfe. Und das Soufflé. Alles klar. Ich strich über das kühle Eichenfurnier meines Schreibtischs und ertastete den Ring, wo deine Coladose stand – eine klebrige Stelle, die du nicht weggewischt hast.

*

Irene ging hinauf in die Küche und wusch das Geschirr ab, das die Kinder ordentlich abgestellt hatten. Sie waren jetzt in ihren Zimmern und machten Schularbeiten. Nachher würde sie alle der Reihe nach herabholen und die Aufgaben und die Klavierübungen mit ihnen durchgehen. Nebenan, im Fernsehzimmer, sah Gil CNN und telefonierte dabei. Den Ton hatte er weggedreht. Unaufhaltsam rückte der Tag auf sein Ende vor. Die Hunde schliefen im Korridor, am Fuß der Treppe. Ganz gleich, wie sich die Familie übers Haus verteilte: diese zwei Burschen, sechsjährige Schäferhundmischlinge, hielten ihren Posten am zentralen Ein- und Ausgangspunkt des Hauses. Gil nannte sie Pförtnerhunde. Und es stimmte, sie waren neugierig und aufmerksam. Weder aufdringlich noch übermäßig verspielt, einfach nur wachsam und umsichtig. Irene fand, dass sie Würde ausstrahlten, etwas Gravitätisches hatten – wie Diplomaten. Immer wenn Gil aus dem Häuschen geriet, stand einer von ihnen auf und versuchte, ihn abzulenken. Einmal, als er herumbrüllte wegen der Mahngebühr für ein verschollenes Video, kam einer der Hunde gelaufen und hob das Bein über Gils Schuh. Während Gil Florian anbrüllte, plätscherte die Hundepisse auf seinen Schuh, und Irene registrierte es mit Stolz.

*

Als die Kinder im Bett waren, schlüpfte Irene ins Badezimmer, verriegelte die Tür, ließ die Wanne volllaufen und tauchte ins heiße Wasser ein. Die Wanne war groß, tief und altmodisch, Irene konnte die Hüften heben und die Beine bis zum glucksenden Überlauf strecken. Vor zweihundert Jahren als Indianerin, dachte sie, hätte ich unbedingt zu einem Stamm mit einer heißen Quelle gehört – und diesen Luxus erbittert gegen die Bleichgesichter verteidigt. Ein Leben ohne heißes Bad? Kaum vorstellbar. Wahrscheinlich war das ihre Schwäche, diese Genusssucht, eine Art Makel. Aber es ging ja nicht nur um das wohlige Brennen des heißen Wassers, auch um das Gefühl der Nacktheit. Dass sie mit ihrem Körper allein sein konnte. Dass keine Anforderungen an ihre Nacktheit gestellt wurden, nicht von ihrem Mann, dessen Reaktionen darauf viel zu komplex waren, nicht von ihren Kindern, die, als sie noch klein waren, ihre Nacktheit als fröhliches Ereignis empfunden hatten, nicht einmal vom Spiegel, der verlangte, dass sie ihre Nacktheit auf Frauenart wahrnahm – mit den Augen der anderen.

Wenn sie mit Gil ausging, umgab sie sich mit einer Aura der Nachlässigkeit. Sie wusste, dass sie faszinierte – gerade deshalb. Sie trug ihr Haar in wilden Strähnen und schminkte sich aufwendig in Farbtönen, die nicht unbedingt modern waren. Blassgrüner Lidschatten, hellvioletter Lippenstift, Rouge auf den Wangen. Manchmal trug sie eine dicke weiße Pudermaske wie eine Geisha. Sie war langgliedrig, groß, dunkel und zurückhaltend. Ein Kunsthändler hatte sie als Pantherfrau bezeichnet, und Gil hatte sich wochenlang darüber amüsiert, aber Irene gefiel es, dass man in ihrem Schweigen eher einen erotischen Reiz als eine Verlegenheit sah. Alle ihre Macht beruhte auf dieser gespielten Nonchalance.

Sie musste Gils Kontrollblick abschütteln. Sich unbeobachtet fühlen können. Dann wäre sie auch das lästige Gefühl der Selbstbeobachtung los. Das Baden war deshalb etwas Spirituelles, das nicht nur reinigte, auch regenerierte. Irene konnte ihre Selbstwahrnehmung in rein körperliche Empfindungen überführen – schwereloses Schweben, wohliges Erschlaffen ihrer Hände, leichtes Schwitzen auf der Stirn, ihr Haar enganliegend wie eine Kappe, das sanfte Brennen hinter ihren geschlossenen Lidern, das panikartige Pochen in ihrem Hals.

*

Der Satz ging ihm immer noch durch den Kopf – Ich verliere noch den Verstand wegen dieser Geschichte –, als er an die Badezimmertür klopfte.

Darf ich reinkommen?

Ich hab abgeschlossen. Ich bin in der Wanne.

Was machst du da?

Ich bade.

Wie lange denn noch?

Ich lese.

Was liest du denn?

Irene schwappte Wasser über ihre Brüste und blickte genervt auf die Tür.

Ein Tagebuch, sagte sie schließlich.

Gil verstummte, aber sie wusste, dass er wartete.

Oh. Wessen Tagebuch?

Irene überlegte kurz.

Das Tagebuch von Christoph Kolumbus. Von seiner ersten Reise.

Ach wirklich? Gil lehnte sich an den Türpfosten. Sie konnten sich genau hören.

Er beschreibt seine erste Begegnung mit einem menschlichen Wesen der Neuen Welt – ein junges Mädchen, das auf sein Schiff zuschwimmt. Erinnerst du dich? Ein historischer Moment. Gil, bist du noch da?

Ja.

Hast du dich mal gefragt, was aus dem Mädchen wurde? Hat er sie zur Sklavin gemacht, oder ist sie an einer Krankheit aus der Alten Welt gestorben? Keiner von ihrem Stamm hat die nachfolgenden zehn Jahre überlebt. Wie ist sie umgekommen? Wir Frauen schwimmen immer voller Vertrauen auf die Männer zu! Neugierig wie die Fischotter. Dabei müssten wir auf der Hut sein wie die Schlangen.

Irene musste lachen. Ein seltsames helles Lachen, das hohl von den Kachelwänden widerhallte. Gil wandte sich wütend von der Tür weg.

Wie kannst du so was sagen! Er ging weg, zu leise für ihre Ohren. Du bist die Schlange! Du hast mein Herz vergiftet!

*

Kaum hatte Gil die Worte ausgesprochen, Schlange, Gift, kam ihm eine Idee. Er ging ins Atelier hinauf und stellte sich vor die Holztafel, die er bemalen wollte. Gil arbeitete immer an mehreren Bildern gleichzeitig, und er malte gern auf Holz, obwohl es schwierig war, geeignetes Material zu finden. Spanplatten verschmähte er. Er stöberte in Holzlagern, Deponien, bei Gebrauchtwarenhändlern herum. Manchmal konnte er eine massive Eichentür aus einem Abrisshaus ergattern. Amerikanische Weißeiche. Die Mona Lisa war auf Weißpappel gemalt worden. Türen benutzte er am liebsten. Er konnte sie in zwei Hälften sägen, aufs richtige Maß bringen, abschmirgeln, aber wenn er auf eine Holztafel malte, die früher eine Tür gewesen war, ging etwas von der ursprünglichen Funktion auf das Bild über. Es öffnete und schloss sich wie einst die Tür. Von der Aura ihres Türseins, von der Bestimmung der Tür, neue Räume zu eröffnen, blieb etwas im Bild erhalten.

Gil hatte den Untergrund schon vorbereitet, mit Hasenleim gestrichen, dann mit Gesso, dann mit Sandpapier bearbeitet und die ganze Prozedur Schicht um Schicht wiederholt, bis sich die Grundierung samtig anfühlte. Jetzt stand er vor der leeren Fläche. Er setzte sich eine Stunde hin und starrte sie an, ging weg, kam wieder, brachte ein paar Markierungen an, entfernte sich wieder und kehrte zurück. Er visualisierte und verwarf Bildideen. Diese Phase durchlief er hunderte, manchmal tausende Male, bevor er sich auf eine Szene festlegte oder Irene Modell sitzen ließ oder hinausging und noch mehr Skizzen machte, zurückkam und sie ausprobierte, sich sein Bild zusammensuchte, bis es im Kopf die endgültige Form annahm. Die Schlange, das Gift, der Hass. Er dachte diese Dinge. Gils Hass war ein wertvoller Treibstoff, er schärfte seinen Blick und brachte Klarheit. Wo lag die Wahrheit? Die Fläche war eine offene Frage. Er trat näher heran und zeichnete ein paar Umrisse. Sein Herz klopfte. Er setzte sich wieder. Sein Marderblick, flink und wendig, war fest auf das Bild gerichtet.

Plötzlich roch er seine Mutter. Sie war...



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