Buch, Deutsch, 640 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 202 mm, Gewicht: 723 g
Buch, Deutsch, 640 Seiten, Format (B × H): 139 mm x 202 mm, Gewicht: 723 g
ISBN: 978-3-96362-247-2
Verlag: Francke-Buch GmbH
England, 1880: Die respektable Schneiderin Eileen Brady setzt alles daran, dass niemand ihr wohlgehütetes Geheimnis entdeckt: Als junges Mädchen wurde sie ungewollt schwanger und musste ihre Tochter kurz nach der Geburt weggeben. Und obwohl sie sich nun ihren Platz in der Gesellschaft erarbeitet hat, lässt ihre tiefste Sehnsucht sie nicht zur Ruhe kommen: Sie muss ihre Tocher finden! Ihre Spurensuche führt sie aus der Stadt in das verschlafene, ländliche Almsbrick. Dort trifft sie auf die Witwe Moira, die ein Gemischtwarengeschäft führt und ein Waisenkind aufgenommen hat. In der kleinen, aufgeweckten Maggie glaubt Eileen ihre verlorene Tochter gefunden zu haben. Sie versucht, einen Weg zu Maggies Herzen zu finden, verschließt sich aber vor den freundlichen Annäherungsversuchen der übrigen Dorfbewohner. Doch ihr Leben in Almsbrick wird erst so richtig kompliziert, als Moiras Cousin Matthew auftaucht. Verwundet und desillusioniert aus dem Soldatendienst in den Kolonien zurückgekehrt, will er sich mit einem eigenen Bauernhof ein neues Leben aufbauen. Seine Menschenkenntnis sagt ihm sofort, dass die kühle rothaarige Schneiderin etwas zu verbergen hat. Als auf seinem Hof unerklärliche Dinge passieren, bahnt sich eine ungewöhnliche Allianz an …
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1. Kapitel
Shrewsbury, Shropshire, Montag, 11. Oktober 1880
»Selbstverständlich teile ich Ihre Einwände, Lady Almsworth.« Fieberhaft dachte Eileen Brady darüber nach, wie sie am besten mit der Dame umgehen sollte, die mit vor Entrüstung geröteten Wangen vor ihr stand.
Lady Almsworth sah genau so aus, wie sie sich eine piekfeine Dame immer vorgestellt hatte, das begann schon mit ihrer hochmütigen Haltung. Darüber hinaus war sie von beeindruckender, ausladender Gestalt und Eileen konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese Frau fast wie ein Segelschiff in ihr großes und vornehmes Landgut »hineinsegelte«. Ganz genau so hatte sie nämlich gerade eben Madame Carolls Modeatelier betreten, das Geschäft, in dem Eileen als Schneiderin arbeitete. Jetzt stand sie vor Eileen in der letzten … tja, der letzten Kreation, die sie hatte anfertigen lassen.
»Ich habe Madame Caroll nicht dafür bezahlt, dass ich hinterher wie eine kranke Pute aussehe«, schnaubte Lady Almsworth.
Eileen verschluckte sich. »Nein, Mylady. Das verstehe ich«, gelang es ihr herauszubringen. Doch das war nicht genug.
Hinter ihr, im Ankleideraum des Modeateliers, standen Lucy und Mary, die beiden anderen Näherinnen, und warteten mit angehaltenem Atem. Eileen musste sich schnell etwas Überzeugendes einfallen lassen. Eine Dame wie Lady Almsworth, die mit einem Baronet verheiratet war und in einem großen Herrschaftshaus auf dem Land wohnte, würde nicht ohne Weiteres in das Atelier in der Stadt zurückkehren. Sie musste schon sehr, sehr unzufrieden sein. Und jetzt, wo der große Spiegel erbarmungslos alle Schwächen und Fehler des Abendkleides offenbarte, konnte Eileen sie auch gut verstehen.
»Gut, dass Sie mit mir einer Meinung sind, Miss Brady«, stellte die Dame schnippisch fest. »Die Frage ist jedoch, was Sie zu tun gedenken. Diese Ärmel sind schlichtweg lächerlich.«
Hinter ihr schnappte Lucy nach Atem. Weil die erfahreneren Schneiderinnen keine Zeit gehabt hatten, hatte sie das Kleid genäht. »Ich hatte Ihnen ja schon vorgeschlagen, ein farbiges Band anzubringen«, piepste das schüchterne Mädchen.
»Ihre Kollegin meint offensichtlich, ich würde in einem Theater arbeiten wollen, Miss Brady.«
Das wäre noch nicht einmal eine schlechte Idee gewesen, schließlich hatte die Frau auf jeden Fall einen Hang zum Dramatischen. Jetzt hob Lady Almsworth ihren Arm in die Höhe. Der kurze Ärmel war weiter, als auf dem Schnittmuster angegeben, das bemerkte Eileen sofort, und darunter entdeckte sie … eine Quaste? Überrascht starrte sie Lucy an. In all ihren Jahren bei Madame Caroll hatte sie noch nie so etwas Absurdes gesehen.
»Ich habe gedacht …«, stammelte Lucy mit zitternder Stimme. »Weil das doch ein Feiertagskleid ist …«
»Ein Feiertagskleid?«, blökte Lady Almsworth. »Was denkst du dir, Kind? Das ist ein Abendkleid, das ich nach einem Fest anziehen möchte. Jedenfalls ist das meine Absicht gewesen.«
Lucys Kehle entfuhr nur ein kurzer, mitleiderregender Seufzer. Eileen hoffte von Herzen, dieses junge, unsichere Mädchen würde nicht in Tränen ausbrechen. Damit würde sie nur dafür sorgen, dass Lady Almsworth noch mehr forderte. In Situationen wie dieser war es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und professionell zu reagieren. So wie sie es gelernt hatte.
Eileen holte also tief Luft und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, obwohl sie leider nicht besonders groß war. Wenn doch nur die Sommersprossen ihrem Gesicht nicht so einen jugendlichen Ausdruck verliehen hätten! »Wir werden die Quasten unverzüglich entfernen, Mylady. Die ganze Sache beruht vermutlich auf einem bedauerlichen Missverständnis.«
»Lassen Sie mich eines deutlich sagen, Miss Brady. Ich bin geneigt zu warten, bis ich Madame Caroll selbst sprechen kann. Ich bestehe darauf, dass ein neues Kleid angefertigt wird.«
Eileen war sich nicht sicher, ob sie hoffen oder fürchten sollte, dass Madame Caroll schnell zurückkam. All die Meter nachtblauer Seide, die in diesem missglückten Abendkleid verarbeitet worden waren, all die Spitze, die vergeudet worden war … Niemand anderes würde ein Kleid kaufen wollen, das von Lady Almsworth zurückgewiesen worden war.
»Ich habe im Atelier Caroll noch nie so eine schlechte Arbeit gesehen«, fuhr Lady Almsworth fort. »Wie lange arbeiten Sie jetzt schon hier, Miss Brady?«
»Schon seit sieben Jahren, Mylady. Seit 1873.« Das war ihre Rettung gewesen, aber das durfte niemand wissen. Madame Caroll würde sie sonst auf der Stelle entlassen, egal wie gut sie mit schwierigen Kundinnen umgehen konnte.
Sie betrachtete die Quasten, die fröhlich neckend – nein, verhöhnend – an verschiedenen Stellen des Kleides herumbaumelten. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Schleifen!«
»Schleifen?«, wiederholte Lady Almsworth und auch Lucy schaute sie verdutzt an.
»Ja, in der Tat, Schleifen. Die haben wir ganz vergessen. Lucy, hole mir doch einmal die französischen Zeitschriften.«
Das Mädchen blinzelte verwirrt mit seinen großen blauen Augen. »Die … die Zeitschriften?«
Mit Mühe unterdrückte Eileen ein Seufzen. »In dem Schrank neben dem Schreibtisch. Das große Fach auf der linken Seite. Rechter Stapel. Ich habe die neueste obendrauf gelegt.« Sie sorgte regelmäßig für Struktur, das brachte später Vorteile. So wie jetzt.
Diensteifrig kam Lucy mit den Modeblättern angelaufen. Eileen wusste noch genau, wie das Modell ausgesehen hatte. »So hätte der Schnitt der Ärmel aussehen sollen.«
Lady Almsworth betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
»Darf ich es Ihnen zeigen?« Sie holte eine Schachtel mit Stecknadeln aus ihrem ordentlich aufgeräumten Nähkästchen. Anschließend zog sie den Stoff des lose fallenden Ärmels etwas in die Höhe und steckte ihn fest. Sorgfältig arrangierte sie die kleinen Fältchen. »Und hier kommt anschließend ein kleines Schleifchen hin. Nicht auffallend, sondern sehr elegant.« Sie deutete es mit einem Rest aus schwarzer Seide an.
Prüfend legte Lady Almsworth den Kopf zur Seite.
Über ihre Schulter betrachtete Eileen sie ebenfalls im Spiegel. Irgendetwas fehlte. Aber was?
»Es gibt noch mehr von dieser schwarzen Seide für den Ausschnitt«, schlug Lucy hoffnungsvoll vor.
Du lieber Himmel, nein. Lady Almsworths Dekolleté musste mit Sicherheit nicht noch mehr unterstrichen werden.
»Das Kostüm auf dieser anderen Abbildung hat kleine Rös-chen«, bemerkte die Dame in triumphierendem Tonfall. »So etwas liefern Sie sicher nicht?«
»Ich fürchte …«, begann Lucy zögernd. Doch genau das war die Lösung!
»Natürlich tun wir das«, unterbrach Eileen sie hastig. »Aber wir fertigen sie aus schmalen Samtbändchen an, was tatsächlich für einen noch kunstfertigeren Effekt sorgt.«
Sie machte es Lucy und Mary vor und hoffte, dass sie dieses Mal gute Arbeit abliefern würden. »Mit denselben Schleifchen wie auf den Ärmeln befestigen wir hier ein Band aus kleinen Röschen. Das unterstreicht die elegante Form des Rocks.« Und es überdeckte die Fehler. »Ich könnte Ihnen auch noch ein paar davon als Haarschmuck mitgeben.«
Lucy schnappte sich eifrig ein paar Nadeln, um die Röschen festzustecken. Eileen bemerkte, wie ihre Finger zitterten.
»Lass mich das machen.« Sie war stolz auf die Technik, die sie entwickelt hatte, um Kleider schnell und ordentlich abzustecken. Es war mittlerweile schon mindestens vier Jahre her, seit sie das letzte Mal versehentlich eine Kundin gestochen hatte, und das durfte jetzt auf gar keinen Fall passieren.
Nachdem sie die lächerlichen Quasten entfernt hatte und mit den Schleifchen fertig war, trat sie einen Schritt zurück und wartete. Lucys Gesicht war die Anspannung anzusehen. Wenn das Mädchen jetzt bloß alles ihr überlassen würde.
»Mir gefällt es«, verkündete Lady Almsworth schließlich.
Eileen versuchte sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen. Sie musste unbedingt kühl und professionell bleiben.
»Es bleibt mir allerdings ein Rätsel, warum das in dem ursprünglichen Entwurf nicht vorgesehen war.«
Lucy öffnete ihren Mund, um zu antworten, Eileen warf ihr jedoch einen so eindringlichen Blick zu, dass sie ihre Lippen sofort wieder zusammenpresste. Sehr gut.
Eileen hielt die Modezeitschrift in die Höhe. »Gerade erst aus Paris gekommen, Mylady. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass die dekorativen Elemente der neuesten Mode entsprechend angebracht werden.«
»Ich möchte nicht, dass sich noch andere Näherinnen an meinem Kleid zu schaffen machen«, ermahnte sie Lady Almsworth mit einem vernichtenden Blick auf Lucy. Erschrocken ließ das Mädchen plötzlich ihre Stecknadeln fallen. Eileen knirschte mit den Zähnen.
»Helfen Sie mir nun, mein Ausgehkleid wieder anzuziehen, Miss Brady.«
Eileen assistierte ihr schnell und behände.
»Wenn Sie gute Arbeit liefern, gebe ich Ihnen einen neuen Auftrag für die Feiertage«, erklärte Lady Almsworth. »Meine Töchter und ich möchten dann gerne neue Kleider tragen. Unter der Bedingung, dass Sie sie anfertigen.«
»Das wäre mir eine große Ehre, Mylady.« Sie hörte sich immer noch ruhig und sachlich an, denn wenn sie zu sehr am Auftrag interessiert erscheinen würde, gäbe das dieser Frau nur noch mehr Macht über sie.
Selbstverständlich musste das Atelier Carroll einen perfekten Service bieten, Lucy ließ allerdings viel zu leicht auf sich he-
rumtrampeln. Eileen wusste, dass die junge Frau ihre übergroße Sensibilität von ganz allein verlieren würde, wenn sie erst einmal einige Gegenschläge zu verdauen hätte.
Dennoch seufzte auch sie erleichtert, als sie mit einem Knicks hinter Lady Almsworth die Tür geschlossen hatte.
»Eileen, du hast mir das Leben gerettet!« Lucy, die ihre Stecknadeln wieder eingesammelt hatte, kam jubelnd auf sie zu.
Eileen erstarrte, während die Arme des Mädchens sie umschlangen. »Ach, ich bitte dich … Aber dieses Kleid war auch wirklich eine Katastrophe!«
»Aber du bist großartig gewesen!«, bestätigte Mary. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du so gefasst bleiben konntest.«
Eileen verdrehte die Augen und widmete ihre volle Aufmerksamkeit ihrem Nähkästchen, das in den vergangenen sieben Jahren beinahe ein Körperteil von ihr geworden war. Genau wie das dunkelblaue Kleid mit dem weißen Kragen, das alle Näherinnen trugen. Keinerlei Gefühle zu zeigen war der beste Weg zu überleben, das hatte sie schon gelernt. Natürlich würde sie das diesen Mädchen nicht unter die Nase reiben.
»Was ist hier passiert?« Die scharfe Stimme von Madame Carroll ließ sie zusammenzucken. Ohne dass sie es bemerkt hatten, hatte die Eigentümerin des Ateliers den Raum betreten.
Eileen räusperte sich. »Lady Almsworth hat sich mit einigen … Wünschen an uns gewandt.«
»Hast du sie zufriedenstellen können?«
»Eileen hat es perfekt gelöst«, erwiderte Lucy mit einem bewundernden Blick.
Madame Carroll betrachtete sie kritisch. Sie musste ungefähr zehn Jahre älter sein als Eileen, eine Frau, die Karriere gemacht hatte und immer unverheiratet geblieben war. So wie es Eileen vermutlich auch gehen würde. »Das Ganze ist doch hoffentlich nicht mit allzu vielen weiteren Kosten verbunden, oder?«.
»Gewiss nicht, Madame. Wir können einfach die Samtbänder benutzen, die Mrs Tennyson bei näherem Hinsehen doch nicht gestanden haben.«
»Hervorragend.«
»Es ist nur …« Sie runzelte die Stirn. »Mein Termin im Waisenhaus …«
»Ich bleibe länger«, bot Lucy an. »Ich mache alle Röschen für dich.«
Madame Carroll kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen. »Es ist entscheidend …«
»Lucy schafft das schon«, entgegnete Eileen hastig. Für sie waren die Waisenkinder wichtig und es war ihr egal, ob Lucy bis Mitternacht durcharbeiten musste. Schließlich war sie es gewesen, die das Kostüm vermurkst hatte, und das war eine Sache, die Eileen mit Sicherheit nicht passieren würde. »Morgen früh befestige ich die Dekorationen und anschließend können wir das Kleid zu Lady Almsworth senden. Soll ich denn jetzt die Reste des Baumwollstoffs ins Waisenhaus mitnehmen und ausdrücklich darauf hinweisen, dass es ein Geschenk von Ihnen ist?«
Diese Ehre zauberte ein zufriedenes Lächeln in das Gesicht von Madame Carroll. Eileen machte einen kleinen Knicks und beeilte sich, ihren Mantel anzuziehen.
Von Madame Carrolls Nähatelier aus war man bis zum Waisenhaus mindestens eine Viertelstunde zu Fuß unterwegs, erst recht, wenn man sich wie Eileen bewusst für einen Umweg entschied, um nicht an der Kaserne vorbeizukommen.
Weil sie durch die Geschichte mit den Röschen für Lady Almsworth wertvolle Minuten verloren hatte, musste sie sich jetzt beeilen. Es war keine Zeit mehr für einen kurzen Abstecher in die Pension, in der sie mit ihrer Schwester zusammen ein Zimmer gemietet hatte. Die Gewissensbisse, die sie verspürte, vor allem jetzt, wo Nessa und ihr Sohn Seamus krank im Bett lagen, schob sie beiseite. Wenn irgendjemand verstand, wie sehr ihr die Mädchen im Waisenhaus am Herzen lagen, dann war das Nessa.
Jetzt saßen die Kinder alle, kleine wie große, schon untätig im Klassenraum, ohne dass Eileen ihre Nähstunde hatte vorbereiten können. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Eine der Ausbilderinnen hätte ihnen doch wenigstens sagen können, sie sollten sich an ihre jeweiligen Arbeiten machen. Die Mädchen hatten schließlich alle einen Auftrag, jedes auf seinem eigenen Niveau, und an dem hätten sie ohne Probleme weiterarbeiten können. Zur Not auch ohne Eileens fachkundige Begleitung.
»Holt euch alle das, was ihr für eure Arbeit braucht, und dann seid ihr gleich wieder hier auf euren Plätzen und fangt an. Das hier ist kein Kaffeekränzchen, Mädchen. An die Arbeit!«
»Erzählen Sie uns eine Geschichte, während wir unsere Handarbeiten erledigen, Miss Brady?«, fragt Biddy erwartungsvoll.
»Nur wenn du diesen Untersetzer heute fertig bekommst. Aber ich möchte ordentliche Stiche sehen, hol dir also schnell deine Spitzennadel.« Eileen hatte eine Schwäche für das siebenjährige Mädchen, das genauso rote Haare hatte wie sie selbst.
»Erzählen Sie uns dann ein irisches Märchen?«, wollte die kleine Annie wissen, die mittlerweile sehr ordentlich ein Taschentuch einsäumen konnte.
»Sie sind doch aus Irland, oder?« Das war wieder Biddy.
»Meine Eltern sind Iren gewesen«, berichtigte sie sie, während sie sich fragte, wie die Mädchen an diese persönlichen Informationen gekommen waren. »Ich bin in England geboren.«
»Ist das schon lange her?«
Von allen Seiten bekam Annie Kommentare wegen dieser unschicklichen Frage zu hören. Die Wangen des Mädchens begannen rot zu glühen. »Ich meine, dass Ihre Eltern nach England gekommen sind«, verteidigte sie sich.
Eileen half ihr, den Faden durch die Nadel zu ziehen. »Das ist schon beinahe dreißig Jahre her. Ganz schön lange, nicht wahr?«
»Aber so alt sind Sie doch noch gar nicht!« Biddy fühlte sich berufen, sie zu verteidigen, und bekam Beifall von den anderen.
»Ich werde in zwei Monaten sechsundzwanzig«, bekannte sie. und auf einmal fragte sie sich, was ihre Mutter dazu gesagt hätte. Eine Frau diesen Alters sollte nicht unverheiratet und kinderlos durchs Leben gehen. Vor allem Letzteres verursachte bei Eileen einen stechenden Schmerz.
Vor acht Jahren hatte sie ihre Eltern zum letzten Mal gesehen. In jenem Herbst hatte sie nicht anders gekonnt, als das Dorf zu verlassen und in die große Stadt Shrewsbury zu flüchten. Ihre Schwester Nessa wohnte dort schon, seit sie eines Tages mit dem Stallknecht Seamus Kerivan durchgebrannt war, und Eileen hatte gehofft, dass sie ihr helfen würde. Sie schauderte bei der Erinnerung an Seamus’ abwehrende Reaktion, nachdem sie vor seinem kleinen Arbeiterhäuschen ihre Situation dargelegt hatte Er hatte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen, ohne dass er Nessa irgendein Mitspracherecht eingeräumt hatte. Sie schauderte noch mehr bei dem Gedanken an das furchtbare Armenhaus, in dem sie letztlich gelandet war. Doch sie hatte sich hochgearbeitet: Madame Carroll war mit ihrer Arbeit sehr zufrieden und gab ihr viele Aufträge. Sie hatte gezeigt, dass sie stark war, stark genug, um ihre falschen Entscheidungen hinter sich zu lassen.
In dem Raum war es still geworden. Etwas unsicher schauten die Mädchen zu ihr. Sie lächelte ihnen ermutigend zu.
»Feiern Sie Ihren Geburtstag mit Ihren Eltern?«, wollte die zwölfjährige Iris wissen, für die sich Eileen auch gut eine Zukunft als Näherin vorstellen konnte. Sie war mit ihrem Mustertuch voller komplizierter Stiche und Motive schon sehr weit vorangekommen und arbeitete ziemlich genau.
Eileen schüttelte den Kopf. »Sie sind beide an einer Seuche gestorben«, antwortete sie. Und das sorgte dafür, dass sie nie mehr zurückkehren konnte, dass sie niemals erfahren würde, ob ihr Vater sie noch einmal unter sein Dach gelassen hätte. Er hatte sie damals gewarnt, als Johnny Cole auf Heimaturlaub ins Dorf zurückgekommen war und seine Aufmerksamkeit ganz und gar Eileen gewidmet hatte. Sie hatte nicht auf ihren Vater gehört und jetzt konnte sie ihm nie mehr zeigen, dass sie die Schande letztlich doch überwunden hatte.
Und hier saß sie nun und unterrichtete eine Gruppe Mädchen, die keine Ahnung hatten, wie viel es sie gekostet hatte, ihren guten Ruf wiederherzustellen. »Los jetzt, macht euch an die Arbeit«, befahl sie streng. »Und ich erwarte, dass ihr euer Bestes gebt.«
Sie ging von einem Mädchen zum anderen und kontrollierte ihre Fortschritte. Dass sie viel von ihnen verlangte, machte sich bezahlt. Das konnte sie an der Art und Weise sehen, wie die älteren Mädchen ihre Aufträge ausführten. Für sie lag eine erfolgreiche Zukunft in Reichweite.
Biddy sollte sie allerdings lieber im Auge behalten, doch sie sagte sich, dass das Kind noch klein war und viel zu lernen hatte. Das Mädchen gab jedenfalls sein Bestes.
»Gut gemacht«, lobte sie das Mädchen, als der Untersetzer fast fertig war. »Jetzt musst du aufpassen, damit das letzte Stückchen nicht ausfranst. Anschließend werde ich euch heute etwas über die kleinen grünen Männchen erzählen …«
»Die Leprechauns!«, rief Annie so begeistert, dass sie sich beinahe in den Finger stach.
»Was ist das denn?«, wollte ein neues Mädchen wissen.
»Kobolde«, erklärte Iris. »Sie haben einen grünen Anzug an, helfen im Haushalt, sind aber auch oft ungezogen.«
»Und sie lieben Milch über alles!«
»Und genau wie Miss Brady sind sie Iren.«
»Sie haben auch rote Haare, oder?«, sagte Biddy.
»Genauso rot wie deine und meine.« Eigentlich wollte Eileen lieber nicht mit diesem kleinen Völkchen verglichen werden. Wegen der Kinder verschwieg sie die gemeine Seite dieser Gestalten in ihren Geschichten und brachte die Mädchen nur mit deren Lausbubenstreichen zum Lachen. Gleichzeitig beobachtete sie genau, ob sie dabei auch weiterarbeiteten.
»Sie haben heute gar keine Puppen dabei«, stellte Iris nach der Geschichte fest, während sie kurz von ihrem Musterläppchen aufschaute. »Haben Sie keine Zeit gehabt, um neue zu machen?«
»Ich hatte keine Zeit, um sie abzuholen.« Blieb diesem Mädchen denn auch gar nichts verborgen? Sie wusste, dass Iris ganz verrückt nach den Baumwollpuppen war, doch Eileen hatte nie die Kinder im Waisenhaus im Blick gehabt, als sie angefangen hatte, sie herzustellen. »Das nächste Mal bringe ich euch eine mit einem blauen Kleidchen mit.«
Die kleinen Kreationen waren eigentlich als Trost für sie selbst bestimmt, vielleicht sogar als Versprechen.
Dieser Gedanke beschäftigte sie noch, nachdem sie die Unterrichtsstunde beendet hatte und sich die Mädchen zum Essen fertig machten. Sie zog sich ihren Mantel an, um zur Pension von Mrs Jones zu laufen. Ein Versprechen … Wem wollte sie damit eigentlich etwas vormachen? Sie hatte in den vergangenen Jahren so viel erreicht, sogar ein besseres Leben als das, das ihre Eltern mit ihrem Pachtbauernhof in dem kleinen Dorf geführt hatten. Sie bekam im Atelier einen guten Lohn. Wäre sie bereit, das alles aufzugeben? Wofür genau?
»Wenn das mal nicht unsere irische Erzählerin ist!«
Mit einem Ruck drehte sie sich nach dem Lehrer aus dem Jungenflügel um. Dass ausgerechnet er sie hier bei ihren Grübeleien erwischen musste!
»Mr Rivers.«
»Wärst du etwa gegangen, ohne mir wenigstens kurz guten Tag zu sagen?« Er blieb neben ihr stehen, die Hände auf dem Rücken und ein entwaffnendes Grinsen im Gesicht. George Rivers mit seinen dunklen Augen und dem kleinen Bärtchen sah attraktiv aus, er selbst schien sich dessen allerdings nicht besonders bewusst zu sein.
»Ich bin ziemlich spät dran«, antwortete sie. »Heute laufe ich anscheinend die ganze Zeit der Uhr hinterher. Und Sie müssen doch sicher auch gleich in den Speisesaal, nicht wahr?«
»Du bleibst hartnäckig beim ›Sie‹, merke ich.« Sein amüsierter Blick dämpfte die Zurechtweisung etwas ab. »Ich habe dich doch schon vor ein paar Wochen gebeten, George zu mir zu sagen.«
»Das wäre unpassend.«
Darauf reagierte er nicht. »Ich bin froh, dass du ins Waisenhaus gekommen bist, obwohl du eigentlich keine Zeit hast.«
»Ich würde meinen Nähunterricht bei den Mädchen nur ungern ausfallen lassen.« Sie hatte allzu häufig das Gefühl, ihre Entscheidungen verteidigen zu müssen.
»Das beweist wieder einmal, wie sehr sie dir am Herzen liegen. Dafür hast du meine vollste Bewunderung, Eileen.«
Sie errötete wegen des Kompliments und vergaß darüber die Förmlichkeiten. »Dein Einsatz für die Jungen ist viel größer.«
»Auch diese Kinder verdienen eine Chance im Leben.« Er lächelte. »Deshalb habe ich mich gefragt, Eileen …«
Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen.
»Könntest du dir jemals … unter den entsprechenden Umständen … könntest du dir vorstellen, hier zu uns zu kommen und deine Stellung bei Madame Carroll aufzugeben?«
»Meine Stellung aufgeben?« Mit großen Augen schaute sie ihn an. Er wusste doch, dass sie ihren Lohn brauchte, oder? Sie und ihre Schwester lebten schließlich davon. Natürlich konnte sie nicht mit dem Arbeiten aufhören, das konnte keine Frau, die …
Mit einem Mal wurde ihr klar, was er nicht gesagt, allerdings sehr wohl gemeint hatte. In den vergangenen Jahren hatten regelmäßig Näherinnen bei Madame Carroll gekündigt ... weil sie heiraten wollten. Du lieber Himmel, wie war es so weit gekommen?
»George, ich …«
»Denke einfach einmal darüber nach.« Sein Blick war nun sehr ernst. »Ich glaube, ich kenne dich mittlerweile sehr gut, Eileen.«
Nein, überhaupt nicht.
»Du bist immer besorgt darum, einen angemessenen Abstand zu wahren und keine unüberlegten Entscheidungen zu treffen.«
Sie hatte aus ihren Fehlern gelernt, ja. Weil sie es nicht mehr wagte, ihn anzuschauen, richtete sie ihren Blick auf seine Uhrkette. Ein sicheres Objekt, das seinen respektablen Status unterstrich. Genau aus diesem Grund konnte sie ihn nicht heiraten.
»Versprich mir also nur das eine, Eileen: dass du darüber nachdenken wirst.«
Fassungslos, sogar ein bisschen gerührt, schluckte sie.
»Miss Brady!«
Die Eingangstür flog auf und vor Schreck setzte ihr Herz einen Schlag aus. Ohne ihm eine Antwort zu geben, wandte sie sich von George ab. Der Sohn von Mrs Jones kam auf sie zugelaufen. »Sie müssen sofort mitkommen in die Pension«, keuchte er.
»Geht es Nessa schlechter?« Ihr Herzschlag wurde schneller. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm sie ihren Hut von
George entgegen. »Oder dem kleinen Seamus?«
»Ihre Schwester ist sehr schwach, Miss. Mama sagt, dass Sie gleich kommen müssen, wenn Sie sie noch einmal sprechen wollen.« Der Junge neigte seinen Kopf. »Für Seamus ist es schon zu spät.«
Hinter ihren Rippen spürte sie einen Schmerz und es kam ihr so vor, als würde ein Band ihre Brust fest zusammenschnüren. Das lag aber nicht daran, dass Eileen den ganzen Weg zur Pension von Mrs Jones gerannt war. Gott, bewahre bitte meine Schwester!
Sie hatte in den letzten Jahren kaum noch gebetet – die Scham über ihr Verhalten hatte sie davon abgehalten –, aber sie wollte ihre Schwester nicht verlieren, jetzt, wo sie sich gerade wiedergefunden hatten. Erst vor einem Jahr hatte Nessa sie aufgesucht, nachdem sie sich bei verschiedenen Nähateliers nach ihr erkundigt hatte. Anscheinend hatte sie schon damit gerechnet, dass Eileen ihren Beruf wieder aufnehmen würde. Nessas Mann, mit dem sie seinerzeit aus dem Dorf weggelaufen war, hatte sie mit dem kleinen Seamus sitzengelassen ohne einen Penny, mit dem sie Essen hätten kaufen können. Sie waren damals alle beide schon krank. Von Nessa hatte Eileen erfahren, dass ihre Eltern und ihre Brüder während einer Choleraepidemie gestorben waren, die in ihrem Dorf gewütet hatte. Zunächst hatte sie es kaum glauben können. Als sie ihr Leben ließen, war sie gerade dabei gewesen, ihr eigenes wieder aufzubauen, hatte sie ihre Stellung bei Madame Carroll bekommen, die nicht gewusst hatte, was mit ihr geschehen war. Von diesem Zeitpunkt an hatte sie ein neues Leben begonnen. Nichts erinnerte schließlich mehr an ihre Schande. Johnny Cole war mit seinem Regiment nach Indien verlegt worden, hatte sie gehört, und das war auch besser so. Alles war wieder so, wie es sein sollte, abgesehen von der Leere, die sie in sich verspürte, und der Scham wegen all der falschen Entscheidungen, die sie getroffen hatte.
Deswegen konnte sie es, nach all diesen Jahren allein in der Stadt, nicht übers Herz bringen, Nessa und den kleinen Seamus ihrem Schicksal zu überlassen, so wie das mit ihr selbst geschehen war. Deswegen hatte sie Madame Carroll gefragt, ob sie für sie gemeinsam ein Zimmer außerhalb des Schneiderateliers suchen dürfe, um nicht wie die anderen jungen Frauen über ihrem Arbeitsplatz wohnen zu müssen. Sie hatte die Pension von Mrs Jones gefunden und Überraschung geheuchelt, als bei Nessa die Symptome der Schwindsucht nicht mehr länger zu verbergen gewesen waren. Doch Mrs Jones hatte sie weiter bei sich wohnen lassen. Eileen hatte Nessa und Seamus von ihren 80 Pfund pro Jahr unterhalten … und sie konnte sich nicht vorstellen, sie jetzt wieder zu verlieren.
»Da sind Sie endlich!« Mrs Jones klang besorgt. »Ich habe den Jungen sofort ins Waisenhaus geschickt, aber es ging alles so schnell.«
»Sie haben getan, was Sie tun konnten.«
»Wir haben den kleinen Seamus in ein anderes Zimmer gelegt, nachdem es vorbei war.« Händeringend ging Mrs Jones mit zur Treppe. »Sie weiß es noch nicht, Miss Brady.«
Eileen nickte einfach nur und biss sich so fest auf ihre Unterlippe, dass sie Blut schmeckte. Wenn sie doch nur wüsste, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Mit schwierigen Kunden fiel ihr das leichter.
Sie war auf das vorbereitet, was sie im Zimmer antreffen würde, schließlich war Nessa in der letzten Zeit immer schwächer geworden und hatte schon seit einigen Wochen das Bett gar nicht mehr verlassen. Aus der blühenden, molligen, jungen Frau mit dem ansteckenden Lächeln, die seinerzeit für ihre große Liebe das Dorf und ihre Familie verlassen hatte, war nun eine stark abgemagerte Frau mit bleichen, eingefallenen Wangen und stumpfen Haaren geworden.
Nessa wurde wach, als Eileen die Zimmertür schloss, und versuchte, die Hand nach ihr auszustrecken. »Zum Glück bist du da.«
Eileen lächelte verkrampft. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie schaute sich nach irgendetwas um, was sie tun konnte, denn das war immer die beste Medizin. Nessas Kissen aufschütteln, ihr die Stirn abtupfen, Wasser holen … »Hast du Durst?«
»Du kannst nichts mehr für mich tun.« Nessa hörte sich ruhig an – kurzatmig, aber ruhig. »Du musst mir etwas versprechen.«
Eileen spürte, wie die Panik in ihr aufstieg. Noch jemand, der ein Versprechen von ihr wollte. Wenn sie jetzt etwas zusagte, würde Nessa sterben. Konnte sie das verhindern? Hatte sie noch etwas in der Hand?
»Seamus …«, flüsterte Nessa.
»Mach dir um ihn keine Sorgen.« Was machte sie sich Vorwürfe, dass sie nicht rechtzeitig zu Hause gewesen war, bevor er starb. Sie brachte es nicht über sich, Nessa die Wahrheit zu sagen, jetzt, wo sie so schwach war.
»Ich mache mir keine Sorgen, ich weiß, dass er im Himmel ist.« Nessa ergriff ihre Hand, sobald Eileen auf dem Rand des Bettes saß. »Jetzt werde ich mein Kind nie zu einem Mann heranwachsen sehen, Eileen. Mein Junge ist nicht mehr und ich werde bald auch nicht mehr sein.«
»Sag das nicht!«
»Hör mir zu.« Nessas Blick war so eindringlich, dass Eileen sich fragte, ob das Fieber zurückgekehrt war. »Du bleibst nicht allein zurück, du hast noch Familie.«
Eileen erstarrte. »Unsinn. Du hast mir selbst gesagt, was mit ihnen geschehen ist.«
»Du musst die Brosche weitergeben, Eileen.«
Ihr Gesicht musste ungefähr genauso bleich geworden sein wie das von Nessa. Sie wusste von dem Schmuckstück, einer versilberten Brosche mit kleinen grünen Steinchen in einem keltischen Motiv, die in der Familie von Mutter zu Tochter weitergegeben wurde. Wenn Nessa nicht mehr war, war sie die älteste. Die Einzige. »Es gibt niemanden, dem ich sie geben könnte.«
»Ich habe um Vergebung gebetet, Eileen.«
»Für wen? Für was?«
»Es war so dumm von mir, mit Seamus Kerivan durchzubrennen.«
»Nun …« Sie war nicht die Einzige, die dumme Sachen gemacht hatte, die den falschen Menschen ihr Vertrauen geschenkt hatte. Seamus war jedenfalls ordentlich mit ihr verheiratet, auch wenn er sie später trotzdem verlassen hatte.
Nessas Griff um ihre Finger wurde fester. »Vergebung, Eileen. Ich habe mitbekommen, wie unruhig du bist. Du wirst erst Frieden finden …«
Ein schwerer Hustenanfall unterbrach sie. Eileen ignorierte das Blut im Taschentuch und verkniff sich die Tränen.
Das Reden und das Husten hatten Nessa so erschöpft, dass sie mit geschlossenen Augen ins Kissen zurücksackte. Ihr Griff um Eileens Hand wurde schlaffer.
Alarmiert stand Eileen auf, wusste aber nicht recht, was sie tun sollte.
Wie konnte sie Nessa helfen, wie konnte sie das Unvermeidliche hinauszögern, ihr Leiden verringern? Es gab nichts, was sie noch ausrichten konnte.
»Es ist gut.« Der Hauch eines Lächelns huschte über Nessas Gesicht, ihre Stimme war jedoch kaum mehr als ein Seufzen. »Such sie, damit du zuschauen kannst, wie sie aufwächst …«
Eileen erschauerte. Nur ein einziges Mal hatte sie mit Nessa darüber gesprochen. Kurz und widerwillig. Das war eine Geschichte, mit der sie abgeschlossen hatte, die ihr Geheimnis bleiben musste.
Allerdings schien ihre Schwester nicht länger schweigen zu wollen. »Du wirst Frieden finden, Eileen. Zeig ihr, dass sie geliebt ist.« Auf Nessas Stirn erschienen Falten.
»Das werde ich tun«, antwortete Eileen hastig. »Ich werde unser Erbe nicht verloren gehen lassen.« Doch wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen? Es war schon so viel Zeit vergangen, so viele Jahre, in denen sie verborgen hatte, wie tief sie gefallen war. Verzweiflung stieg in ihr auf.
Auf Nessas ausgemergeltes Gesicht war das Lächeln zurückgekehrt. Es schien, als wollte sie noch etwas sagen, sie brachte jedoch nicht mehr als einen tiefen Seufzer über die Lippen. Anschließend wurde es ganz still im Zimmer. Zu still.
Tränen quollen aus Eileens Augen. Es war vorbei. Ihr war es jedenfalls gelungen, ihre Schwester mit einem friedvollen Gefühl gehen zu lassen, doch sie selbst hätte am liebsten geschrien, geweint und gejammert.
Das durfte sie sich nicht zugestehen. Angespannt presste sie ihre Handballen an ihre Schläfen. Sie musste Mrs Jones informieren und dann den Totengräber kommen lassen. Es musste viel geregelt werden und das würde dafür sorgen, dass sie den Verstand nicht verlor.
Anschließend … Konnte sie tun, worum Nessa sie gebeten hatte, und sich auf die Suche machen?
Die Worte ihrer Schwester hatten eine alte Sehnsucht in ihr neu entfacht. Doch sie zweifelte, dass sie jemals wieder Frieden finden würde.