E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Enter Im Griff
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8270-7566-6
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7566-6
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan Enter, geboren 1968, gilt als eine der wichtigsten Stimmen der neuen niederländischen Literatur. Nach »Spiel« ist »Im Griff« sein zweiter Roman auf Deutsch, mit dem ihm in den Niederlanden der große Durchbruch gelang und der von der Kritik als »herausragend« (De Pers), als »literarischer Mount Everest« (NRC Handelsblad) gefeiert wurde.
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1 Da war er ja. Paul van Woerden stand mit offener Brieftasche an der Theke, blickte zufällig an der Verkäuferin vorbei und sah ihn draußen vorbeigehen. Ja, das war er, Irrtum ausgeschlossen: Vincent Voogd, der behendeste aller Bergsteiger, auch nach zwanzig Jahren auf Anhieb wiederzuerkennen. Dieselbe mürrische Miene, dieselben ausgefransten Koteletten. Er trug ein modisches Fischgratsakko, zog einen kleinen Rollkoffer wie ein widerspenstiges Hündchen hinter sich her und hielt eine Zeitung in Augenhöhe. Er war so sehr in seine Lektüre vertieft, dass er jemanden anrempelte, der sich, wie hätte es anders sein können, bei ihm entschuldigte - anstatt andersherum. Die Verkäuferin wickelte Silberpapier um Pauls Anschaffung, schnürte noch ein glänzendes Band darum. Paul bedankte sich mit einem Lächeln, das sie aber nur mit einem kirschroten Strich ihres Mundes quittierte. Er nahm seinen Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und betrat die Bahnhofshalle. Er konnte Vincent nicht gleich entdecken; in Bruxelles- Midi herrschte auf einmal doppelt so viel Betrieb wie noch vor ein paar Minuten. Alles war in Bewegung, ein Dutzend Sprachen schwirrten durch den Raum, eine Horde Schüler umlagerte einen Stand mit verführerisch duftenden Waffeln. Etwas weiter, in der niedrigen Halle, in die er gleich hineinmusste, bildete sich bereits eine Schlange vor dem Abfertigungsschalter - dort stand Vincent aber noch nicht. Paul ging zu einer freien Stelle neben einem Kiosk und stellte den Rucksack ab. Das eigelb-eiweißfarbene Eurostar-Logo leuchtete dezent, an der Längsseite des unterirdischen Bahnhofs glitzerten Delikatessenläden, eine Wein- und Spirituosenhandlung, eine Kaffeebar, eine Parfümerie und verschiedene andere kleine Läden, und er hatte ganz kurz die Vision einer verzauberten Grotte voller erwartungsfroher Gesichter - alle Reisenden ließen ihr Hab und Gut zurück und machten sich bereit für die Fahrt ins Innere der Erde. Achtung, Taschendiebe, schallte es durch die Halle. Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt, s'il vous plaît. Paul trommelte mit den Fingern auf dem Geschenk herum. Tief sog er die Luft ein (herrlich, diese Waffeln!), reckte sich, um über die Köpfe hinwegzusehen, und wurde sich mit einemmal seiner Hochstimmung bewusst, eines Glücksgefühls, das in ihm aufstieg. Er musste über sich selbst lachen - so wenig veränderte man sich im Grunde also! Ein flüchtiger Blick, ein Widerhaken der Erinnerung, und schon war er wieder in Vincents Bann. Aber sie alle hatten sich damals von Vincent betören lassen - von seinem Schneid und der eigentümlichen Leichtigkeit, mit der er alles relativierte, inklusive sich selbst; denn Vincent wusste sehr genau, dass er ein schamloser Ehrgeizling war, der gern demonstrierte, wer am geschicktesten kletterte, am besten Karten las und am schnellsten ein Zelt aufbaute. Einmal, an einem stahlglatten Stausee im Wallis, vertrödelten sie eine halbe Stunde, weil Martin einen Kiesel neun Mal über das Wasser hatte hüpfen lassen und Vincent erst weiter wollte, wenn er selbst es zehn Mal geschafft hätte; er merkte gar nicht, dass die ganze Gruppe sich ein wenig lustig über ihn machte. Hinterher fragte man sich, warum keiner sich geärgert hatte - aber dazu musste man Vincent kennen, musste seine entwaffnende Jovialität erlebt haben. Paul wurde es warm, er zog die Regenjacke aus, legte sie über den Rucksack. Und, dachte er mit einer Mischung aus Selbstironie und Verlegenheit, und sah sich wieder am See stehen (neunzehn oder zwanzig war er, spindeldürr, Nase und Nacken verbrannt und das Haar sonnengebleicht) - wie sehnlich hatte er sich gewünscht, auch so zu sein, Vincents gusseiserne Mentalität zu besitzen, die Fähigkeit, alles Zaudern wie eine Schlangenhaut abzustreifen und durch funkelnden Übermut zu ersetzen. Ach, wie idiotisch kam er sich vor, wenn er daran dachte, wie er als Student gewesen war! Obwohl er jetzt erkannte, dass es dazugehörte, zu diesem Alter, das sich in den eigenen Schwanz biss - dieser krampfhafte Wille, jedes persönliche Manko zu vertuschen und zu überspielen! Das jedoch, dachte er, während er sich erneut umschaute und alle Sprachen durcheinander hörte und das Aroma der Waffeln einatmete, das änderte sich dann doch mit den Jahren - man nahm sich nicht mehr alles so zu Herzen, und es berührte einen weniger, was andere von einem dachten. Und war es im Nachhinein nicht ein Wunder, dass man mit so wenig Ahnung keinen größeren Scherbenhaufen angerichtet hatte? Aber da war Vincent wieder - da kam er angeschlendert, tippte lässig mit der Zeitung gegen sein Bein und studierte mit zurückgelegtem Kopf und kritisch vorgeschobener Unterlippe völlig belanglose Abfahrtszeiten der Regionalzüge auf einer Anzeigetafel unter der Hallendecke. Paul nahm seine Sachen und ging auf ihn zu. »Nun!«, sagte er - was merkwürdig war, denn so begrüßte er nie jemanden, obendrein war es ihm lauter herausgerutscht als beabsichtigt. Und aus heiterem Himmel durchzuckte ihn die Erinnerung, wie sie sich kennengelernt hatten und dass Vincent ihn als Erstes gefragt hatte, ob »diese Kerbe da« in seinem Kinn erblich sei. Paul klemmte sich das Päckchen unter den Arm und streckte die Hand aus. Vincent schien erstaunt, schüttelte sie etwas kraftlos. Jetzt, da er vor ihm stand (sie waren genau gleich groß), sah Paul erst richtig, wie sehr Vincent sich gleich geblieben war. Ja, fast derselbe geblieben, dachte er. Und wie jetzt alles wieder hochkam - der erste Eindruck der Schroffheit und Verschlossenheit und später das unwillkürliche Gefühl, privilegiert zu sein (es war fast schon Dankbarkeit), wenn Vincent einen wie selbstverständlich in irgendetwas mit einbezog. Er hatte ein paar Falten um die Augen herum, seine Züge waren vielleicht etwas markanter geworden - aber seine Haut hatte eine kerngesunde Farbe; eine leichte Röte lag auf seinen Wangen. Keine Spur von grauen Haaren oder auch nur der Ansatz einer Glatze. Ja, erstaunlich - wie kerzengerade er da wieder stand, welch reine Willenskraft er ausstrahlte. »Du wusstest doch, dass ich komme?«, fragte Paul betont munter. »Ich wusste nichts«, sagte Vincent. »Na ja - dachte eher, du nimmst den Flieger.« Sein Blick fiel auf Pauls Geschenk. »Kaffee!«, sagte Paul. »Extraklasse, hat man mir versichert. Mir ist nichts anderes eingefallen, aber das passt doch ganz gut, wo Martin sein Versprechen so gern einlöst.« Vincent nickte, mit dem Anflug eines Grinsens. Denn natürlich hatte er nicht vergessen, wie Martin jeden Morgen als Erster den Reißverschluss seines Zeltes öffnete und mit dienstlichem Eifer alle weckte, den Tag plante und einen so starken Kaffee kochte, dass sich einem der Magen zusammenzog. »Hast du etwas?« Vincent nickte. Eine Flasche japanischen Whiskey, japanisch eingepackt. »Und das will was heißen. Scheint eine richtige Kunst zu sein - obwohl Japaner früher oder später alles zu Kunst erklären, einschließlich sich selbst.« Um seinen eigenartig breiten Mund lag noch immer dieser gewisse Zug, der ihm einen Hauch von Unberechenbarkeit und Abenteuer verlieh. Zugleich aber hatte sein Blick etwas Müdes; klar, er war früh aufgestanden, um den Zug nach Brüssel zu erreichen. Paul kam in den Sinn, dass Vincent nun schon fünf Jahre an einem meteorologischen Institut in Tokio arbeitete, er aber immer noch nicht recht wusste, was er dort eigentlich machte. Der Kontakt war eine Zeitlang eingeschlafen, erst seit einigen Monaten mailten sie wieder regelmäßig. In seiner letzten Nachricht hatte Vincent beiläufig geschrieben, er werde zu Martin fahren - er wolle seine Eltern in Zeeland besuchen und sei dann »ohnehin in der Gegend«. Und er hatte sogar den Zug erwähnt, den er nehmen würde. War das etwa kein deutlicher Wink gewesen, gemeinsam zu fahren? Das gab den Ausschlag - denn er hatte gezögert; er war zwar schon neugierig zu erfahren, wie es den anderen ergangen war, doch Martins Einladung hatte ihn eigentlich überrascht. »Nun!«, rutschte es ihm wieder heraus. Er zeigte zum Abfertigungsschalter und zum Zoll und sagte förmlich: »Falls Monsieur keine Einwände haben?« Sie stellten sich hinten an. Der Besuch bei seinen Eltern, sagte Vincent, als Paul sich danach erkundigte, habe ein paar Tage zu lange gedauert. Er habe sich hauptsächlich mit seiner Mutter unterhalten, weil sein Vater taub werde, und sie habe immer nur wissen wollen, wann er denn endlich eine Japanerin heirate. Sie hatte nämlich gelesen, neunzig Prozent der Europäer dort täten das, unverheiratet zu bleiben sei für sie das schlimmste Unglück, das einem Menschen widerfahren könne. Paul lachte, doch es fiel ihm schwer zuzuhören; Vincent war auf einmal zu lebendig, um sich gleichzeitig tief im Labyrinth seiner Erinnerungen zu befinden. Es lag an seiner Stimme, an seiner Art zu reden, freundlich herablassend und zersetzend, als könne all das, was er über andere sagte, auch auf einen selbst zutreffen - es kam Paul alles so unheimlich bekannt vor; wenn einer von ihnen damals diesen Ton anschlug, wusste man sofort, er ahmte Vincent nach, und für einen Augenblick, als würde er aus dem Schlaf hochschrecken, hatte er diesen Vincent auch tatsächlich vor sich - mitten in seiner Studentenbude, in der ausgestreckten Hand ein grasgrünes Buch mit dem Titel Der richtige Umgang mit Kindern, und hörte ihn trocken sagen: »Glaub mir, bei Mädchen läuft es genauso.« Und dann seine unverwechselbare Art, sich zu bewegen: ein wenig steif und hampelig, als wären seine Arme und Beine im Weg - umso mehr imponierte er als Bergsteiger, denn er kletterte wie ein Gecko. Er habe (Vincent sprach über die Schulter, während er mit gespreizten Armen die Leibesvisitation über sich ergehen ließ) über einen Kollegen eine neue Wohnung angeboten bekommen, ländlicher, trotzdem immer noch in der Stadt. Aber, sagte er, im Grunde könne man sich keine Vorstellung von Tokio machen, wenn man nicht dort gewesen sei. Der Kontakt zu Kollegen sei nach wie vor eine bizarre Sache, es sei ihm nicht gelungen, die lächerliche Hierarchie zu durchbrechen, und er müsse ehrlicherweise zugeben, dass all seine Bekannten dort Expats seien. Paul nahm seine Armbanduhr vom Band, schüttelte das Handgelenk, nachdem er sie wieder umgetan hatte. »Ach nee«, sagte Vincent, »ist das immer noch die Uhr mit dem Sprung?« Paul nickte mit einem gewissen Stolz. Und auch diese Art Bemerkung schlug eine vertraute Saite in ihm an, und jetzt - daran hatte er seit fünfzehn Jahren nicht mehr gedacht - fiel ihm wieder ein, dass Vincent die Gewohnheit hatte, mit der Hand Fliegen aus der Luft zu greifen und sie so heftig auf eine Tischplatte oder einen flachen Stein zu werfen, dass sie tot liegen blieben. Sie gingen am Zug entlang. Paul zählte die Wagen, hörte Schritte auf dem Pflaster, regelmäßig wie das Ticken einer Uhr. Wir fahren, wir fahren in die Welt. Er nahm alles in sich auf - die Menschen, die mit weit aufgesperrten Augen ihr Ticket studierten oder vergnügt die Arme ausstreckten und sich das Gepäck hinaufreichen ließen oder an einer letzten Zigarette saugten. Was für eine euphorische, elektrisierte Atmosphäre! Was für ein Tempo, was für eine Energie - und genau das war die Essenz der großen Bahnhöfe Europas; wie hell erleuchtete Bienenkörbe aus Stein, so sah er sie vor sich, so verteilten sie sich in einem Netz stählerner Adern über die Kontinente; hier entsprang ein Herzschlag, der Leben um die Welt pumpte. »Man braucht sich übrigens nicht an die Reservierung zu halten«, fiel ihm ein. »Martin hat es mir noch gemailt. Ein Trick der Bahn - alle Fahrgäste in die vordersten vier Wagen, und das Personal kann es ruhig angehen lassen.« Vincent schien ihn nicht zu hören; er steckte eine Hand in die Hosentasche, zog sie wieder heraus und öffnete sie. Auf seinem Handteller lag ein tropfenförmiger hellgrauer Kieselstein. Ohne hinzuschauen, rollte er ihn ein paarmal zwischen den Fingern hin und her und steckte ihn wieder ein. Im gleichen Moment, eine Glücksknospe öffnete sich in seiner Brust, durchzuckte Paul die Erinnerung an andere Male, alle anderen Male, als sie an einem sonnenüberfluteten Morgen wie diesem, am Anfang von ein paar herrlichen Wochen, ihr Gepäck an den Wagen eines wartenden Zuges entlanggeschleppt hatten. So also war es, einander wiederzusehen! Launisch, fragmentarisch wie der Blick in einen zersprungenen Spiegel - mit scharfen Kanten und blinden Flecken. Und war Vincent immer so zerstreut gewesen, oder war das früher wegen seiner Unerschütterlichkeit weniger aufgefallen? Jetzt hielt es Paul davon ab - ihn auszufragen und es sich in ihrer alten verschwörerischen Ironie bequem zu machen. Aber auch Vincent stellte keine Fragen. Und was, wenn sie sich nichts mehr zu sagen hätten und jedes Gespräch mit einer alten Anekdote ankurbeln müssten? - Dann musste es eben so sein. Ja, es musste sein; denn dieser Tag würde so oder so ein Erfolg. »Was hast du da übrigens gerade gelesen?«, fragte er. »Was?« »Ich hab dich vorhin gesehen - was stand denn Aufregendes in der Zeitung, dass du fast jemanden umgerannt hättest?« Vincent hielt jäh inne. Er sah Paul an, mit nicht ganz geschlossenem Mund. »Diese Halunken«, und zu Paul: »Pass du auf !« Er stellte seinen Koffer ab und lief mit großen Schritten zum Zoll zurück. »Lass doch«, rief Paul ihm nach. »Wir haben nur noch ein paar Minuten. Du kannst nicht einfach den nächsten nehmen!« Doch er rief ohne Nachdruck, eher amüsiert. Überraschend war es nicht, das war Vincent, wie er leibte und lebte. Das war Vincents Kern oder seine Vorstellung vom Leben - denn er war fest davon überzeugt, die Dinge ließen sich beschwören: ob es nun um eine Umsteigezeit von vier Minuten ging, von der eine internationale Reise abhing, oder um einen Felsvorsprung, auf den man sich mit den Zehenspitzen stellte und der das ganze Gewicht samt Ausrüstung tragen musste. Paul spürte, dass er wenig geschlafen hatte; ein Gähnen blähte sich wie ein Ballon in seinem Gaumen auf, er erstickte es in der Faust. Sein Kopf fühlte sich schwerelos an. Er rieb sich über die glattrasierte Wange und dachte an Sommer und Gebirge. Was für ein Geschenk, was für ein Rätsel, wie man ständig alles parat hatte - sich aber nur selten danach umsah, höchstens flüchtig, wie man sich ein Foto anschaute, das man einmal von einem Panorama gemacht hatte; und dass die Erinnerung unter raschelnden Schichten neuer Ereignisse voller Menschen und Urlaubsreisen, voller Bücher und Silvesterfeiern und Umstürze in der Welt begraben wurde und dass sich jetzt, durch die einfache Tatsache, dass er Martins Einladung angenommen hatte und in einen Zug gestiegen war, eine Brise erhob, die die aufgehäufte Zeit fortblies und ihm zeigte, dass es darunter frisch und lebendig war wie vor zwanzig Jahren. Und mitten in einer aus den Lautsprechern schallenden Durchsage in einem lächerlichen Niederländisch kehrte auch die Gespanntheit zurück, die er heute Morgen plötzlich unter der Dusche verspürt hatte - denn er hatte etwas vor mit diesem Tag. Noch sieben, acht dahineilende Stunden, und er würde Lotte nach vierzehn Jahren wiedersehen. War es wirklich vierzehn Jahre her, die Hochzeit und das Fest in dem verwinkelten, schlossähnlichen Haus ihrer Eltern, zu dem alle Bergsteiger gekommen waren? Am Telefon hatte sie kühl und scharf geklungen, und genau wie früher hatte sie spöttisch auf seine Aufgedrehtheit reagiert - er erinnerte sich, dass sie dann immer etwas mit ihrem Gesicht machte, etwas, was er noch nie bei jemand anderem gesehen hatte. Sie zog die Stirn kraus, war es das? Nein - dieses Bild stand ihm deutlich vor Augen, Lotte vor einer Hütte in den Bergen, mit einem Becher Tee, den sie mit beiden Händen umklammerte, sie blies hinein, bis er lauwarm geworden war. (Sie hatte auffallend lange, aber nicht besonders elegante Hände.) Er konnte sich ihr Gesicht leicht vergegenwärtigen, ihr glattes dunkelblondes Haar; ihr offenes Lachen, bei dem sie ihre ebenmäßigen Zähne zeigte - nein, es war etwas anderes, vielleicht war er der Einzige, dem es aufgefallen war. Oder nicht; Martin natürlich auch. Jedenfalls hatte er sich einmal, als er sie von weitem sah, überlegt, dass man diese Eigenheit an ihr entweder besonders mochte oder sie aus demselben Grund sofort unsympathisch fand. Ihr Kinn - das war es. Sie zog das Kinn mit einem herrischen Ruck schief, zu sich hin, und kaute dann auf der Innenseite der Wange herum. Er sah es wieder vor sich - und nun erschien auch die weniger schöne Falte über ihrer Nase. Doch damit hatte man sie noch nicht eingefangen, immer blieb etwas an Lotte, was sich selbst mit dem feinsten Sinnesorgan nicht erfassen ließ - etwas hinter einem Satz, den sie nicht zu Ende sprach, eine unwillige Locke, die sie sich aus dem Gesicht blies. Da kam Vincent, die zurückeroberte Zeitung zum Knüppel zusammengerollt.