Roman
E-Book, Deutsch, 376 Seiten
ISBN: 978-3-446-24250-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Kapitel 2 Der Unverwundbare 1.
Der Schweizer Informator war mager, gebeugt und hatte einen Traum von der Aufklärung als einer stillen und sehr schönen Morgendämmerung; zuerst unmerklich, dann war sie da, und der Tag brach an. So dachte er sie sich. Sanft, still und ohne Widerstand. So sollte es immer sein. Er hieß François Reverdil. Er war der Mann auf dem Schloßhof. Reverdil hatte Christian an der Hand gehalten, weil er die Etikette vergessen und nur Trauer über die Tränen des Jungen empfunden hatte. Deshalb hatten sie still dort im Schloßhof gestanden, im Schnee, nachdem Christian gesegnet worden war. Am Nachmittag desselben Tages wurde, vom Balkon des Schlosses, Christian VII. zu Dänemarks König ausgerufen. Reverdil hatte schräg hinter ihm gestanden. Es erregte Unmut, daß der neue König gewinkt und gelacht hatte. Es wurde als unpassend angesehen. Für das anstoßerregende Verhalten des Königs wurde keine Erklärung gegeben. Als der Schweizer Informator François Reverdil 1760 als Hauslehrer des elfjährigen Kronprinzen Christian angestellt wurde, gelang es ihm lange zu verbergen, daß er jüdischer Herkunft war. Seine beiden anderen Vornamen – Èlie Salomon – wurden im Anstellungsvertrag ausgelassen. Die Vorsicht war sicher unnötig. Seit mehr als zehn Jahren hatte es in Kopenhagen keine Pogrome gegeben. Die Tatsache, daß Reverdil ein Mann der Aufklärung war, war auch nicht angegeben. Er war der Auffassung, daß es sich um eine unnötige Auskunft handelte, die schaden konnte. Seine politischen Ansichten waren eine Privatangelegenheit. Vorsicht war sein Grundprinzip. Seine ersten Eindrücke von dem Jungen waren sehr positiv. Christian hatte ein »einnehmendes Wesen«. Er war zart, klein von Wuchs, fast mädchenhaft, doch mit einem gewinnenden Äußeren und Inneren. Er hatte einen schnellen Verstand, bewegte sich weich und elegant und sprach fließend Dänisch, Deutsch und Französisch. Schon nach einigen Wochen wurde das Bild komplizierter. Der Junge schien sehr schnell Zuneigung zu Reverdil zu fassen und behauptete schon nach einem Monat »keinen Schrecken vor ihm zu verspüren«. Als Reverdil sich über das verblüffende Wort »Schrecken« wunderte, meinte er zu verstehen, daß Furcht der natürliche Zustand des Jungen sei. Das »einnehmende Wesen« kennzeichnete im folgenden nicht mehr das ganze Bild von Christian. Auf den obligatorischen Spaziergängen, die zum Zweck der Kräftigung und ohne andere Anwesende durchgeführt wurden, gab der Elfjährige Gefühlen und Wertungen Ausdruck, die Reverdil zunehmend entsetzten. Sie wurden auch in ein eigentümliches sprachliches Gewand gekleidet. Christians manisch wiederholte Sehnsucht danach, »stark« oder »hart« zu werden, drückten keineswegs den Wunsch aus, eine kräftige körperliche Konstitution zu bekommen; er meinte etwas anderes. Er wollte »Fortschritte« machen, aber auch dieser Begriff ließ sich nicht auf eine rationale Weise deuten. Seine Sprache schien aus einer sehr großen Anzahl von Wörtern zu bestehen, die nach einem geheimen Code geformt waren, den ein Außenstehender unmöglich entschlüsseln konnte. Bei den Konversationen, die in Anwesenheit einer dritten Person oder bei Hofe stattfanden, fehlte diese kodierte Sprache gänzlich. Aber im Gespräch unter vier Augen mit Reverdil kehrten die Codewörter fast manisch wieder. Am eigentümlichsten waren »Fleisch«, »Menschenfresser« und »Strafe«, die scheinbar ohne Sinn verwendet wurden. Einzelne Ausdrücke wurden jedoch bald begreiflich. Wenn sie nach den Spaziergängen zu den Unterrichtstunden zurückkehrten, konnte der Junge sagen, sie gingen jetzt zu »einer scharfen Examination« oder »einem scharfen Verhör«. Der Ausdruck bedeutete im Juristendänisch dasselbe wie Folter, die zu dieser Zeit in der dänischen Rechtspraxis nicht nur erlaubt war, sondern auch fleißig benutzt wurde. Reverdil hatte scherzhaft gefragt, ob der Junge glaube, von Feuerzangen gepeinigt und gezwickt zu werden. Der Junge bejahte erstaunt. Das war doch selbstverständlich. Erst nach einiger Zeit begriff Reverdil, daß ebendieser Ausdruck kein Codewort war, hinter dem sich etwas Geheimnisvolles anderes verbarg, sondern eine sachliche Auskunft. Man folterte ihn. Das war normal. 2.
Die Aufgabe des Informators bestand darin, dem absoluten Herrscher Dänemarks mit uneingeschränkter Gewalt Schulunterricht zu erteilen. Doch war er nicht als einziger mit dieser Aufgabe betraut. Reverdil trat seinen Dienst auf den Tag genau hundert Jahre nach der Umwälzung von 1660 an, die die Macht des Adels weitgehend gebrochen und dem König die Alleinherrschaft zurückgegeben hatte. Reverdil schärfte dem jungen Prinzen auch ein, welche Bedeutung seiner Stellung zukam; daß er die Zukunft des Landes in der Hand hatte. Er unterließ es jedoch aus Gründen der Diskretion, dem jungen Prinzen den Hintergrund darzustellen: daß der Verfall der königlichen Macht unter den früheren Königen, und deren Degeneration, jenen Personen am Hof die totale Herrschaft in die Hände gespielt hatte, die jetzt seine eigene Erziehung, Ausbildung und Denkweise kontrollierten. Der »Junge« (Reverdil benutzt diesen Ausdruck) scheint angesichts seiner zukünftigen Königsrolle ausschließlich Beunruhigung, Widerwillen und Verzweiflung empfunden zu haben. Der König herrschte zwar allein, aber die Beamtenschaft hatte die gesamte Macht in Händen. Alle fanden das natürlich. Die Pädagogik war, was Christian betraf, diesem Umstand angepaßt. Die Macht war von Gott dem König verliehen. Dieser übte seinerseits die Macht nicht aus, sondern delegierte sie. Daß der König die Macht nicht ausübte, war keine Selbstverständlichkeit. Die Voraussetzung dafür war, daß er geisteskrank, schwer alkoholisiert oder arbeitsunwillig war. War er das nicht, mußte sein Wille gebrochen werden. Die Apathie und der Verfall des Königs waren so gesehen entweder angeboren, oder sie konnten anerzogen werden. Christians Begabung hatte seine Umgebung zu der Überzeugung gebracht, daß ihm Willenlosigkeit anerzogen werden mußte. Reverdil beschreibt die Methoden, die bei dem »Jungen« angewendet wurden, als »die systematische Pädagogik, die angewendet wird, um, zum Zwecke der Erhaltung des Einflusses der eigentlichen Herrscher, Machtlosigkeit und Verfall zu bewirken«. Er ahnte bald, daß man am dänischen Hof auch willens war, die geistige Gesundheit des jungen Prinzen zu opfern, um das Resultat zu erzielen, das man bei den voraufgegangenen Königen hatte sehen können. Der Zweck bestand darin, in diesem Kind »einen neuen Friedrich« zu erschaffen. Sie wollten, schrieb Reverdil später in seinen Memoiren, »durch den moralischen Verfall der Königsmacht ein Machtvakuum schaffen, in dem sie selbst ungestraft ihre Macht ausüben konnten. Man hatte dabei nicht bedacht, daß in diesem Machtvakuum eines Tages ein Leibarzt namens Struensee zu Besuch kommen könnte«. Es ist Reverdil, der den Ausdruck vom »Besuch des Leibarztes« benutzt. Er ist kaum ironisch gemeint. Im Gegenteil, er beobachtet mit klaren Augen, wie der Junge zerbrochen wird, und voller Zorn. Von Christians Familie sagte man, daß seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war, daß er seinen Vater nur als ein übles Gerücht kannte und daß Graf Ditlev Reventlow, der seine Erziehung plante und leitete, ein rechtschaffener Mann war. Reventlow war eine starke Natur. Erziehung war seiner Meinung nach »eine Dressur, die der dümmste Bauer durchführen kann, wenn er nur eine Peitsche in der Hand hat«. Deshalb hatte Graf Reventlow eine Peitsche in der Hand. Großes Gewicht sollte auf »seelische Unterwerfung« gelegt werden und darauf, daß »die Selbständigkeit gebrochen« werden müsse. Er zögerte nicht, diese Prinzipien auf den kleinen Christian anzuwenden. Die Methoden waren kaum ungewöhnlich in der Kindererziehung dieser Zeit. Das Einzigartige und das, was das Resultat auch für die Zeitgenossen so aufsehenerregend machte, war, daß es sich hier nicht um irgendeine Erziehung innerhalb des Adels oder des Bürgertums handelte. Derjenige, der zerbrochen werden sollte, durch Dressur und seelische Unterwerfung, um aller Selbständigkeit beraubt zu werden, mit der Peitsche in der Hand, war der von Gott ausersehene absolute Herrscher in Dänemark. War er dann glücklich zerbrochen, unterworfen und willenlos gemacht, würde dem Herrscher alle Macht gegeben werden, und er würde sie seinen Erziehern abtreten. Weit später, lange nach dem Ende der dänischen Revolution, fragt sich Reverdil in seinen Memoiren, warum er nicht eingriff. Er gibt darauf keine Antwort. Er beschreibt sich als einen Intellektuellen, und seine Analyse ist klar und deutlich. Aber keine Antwort, nicht auf diese Frage. Reverdil trat seine Stelle als untergeordneter Sprachlehrer für Deutsch und Französisch an. Er konstatiert bei seiner Ankunft die Resultate der Pädagogik der ersten zehn Jahre. Es ist wahr: er war ein Untergebener. Graf Reventlow bestimmte die Richtlinien. Eltern gab es ja keine. »So vergingen fünf Jahre, und während der ganzen Zeit war ich traurig gestimmt, wenn ich das Schloß verließ; ich sah, wie man unaufhörlich die geistigen Fähigkeiten meines Schülers zu zerstören suchte und ihn nichts von all dem lehrte, was zu seiner Berufung zum Herrscher und seiner Machtausübung nötig war. Er hatte keinen Unterricht über die bürgerliche Gesetzgebung seines Landes erhalten; er hatte weder eine Vorstellung davon, wie die Regierungsbüros ihre Arbeit aufteilten oder wie das Land in seinen Einzelheiten verwaltet wurde, noch davon, wie die...