E-Book, Deutsch, Band 3, 156 Seiten
E-Book, Deutsch, Band 3, 156 Seiten
Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie
ISBN: 978-3-7445-1608-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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II Prägungen und intellektuelle Einflüsse
Schütz’ Biografie vollzieht sich mit Blick auf seine Familie, seine Freundschaften sowie seine außerwissenschaftliche wie auch seine wissenschaftliche Berufstätigkeit in drei Sprachräumen: im deutschsprachigen, im französischsprachigen sowie im englischsprachigen Raum. Abgesehen von seiner deutschsprachigen Herkunft pflegt Schütz’ zeitlebens – also durchaus unabhängig von den Monaten des Pariser Exils – eine Vorliebe für die französische Kultur und Sprache. Eine Orientierung auf Arbeiten insbesondere von französischen Philosophen zieht sich entsprechend durch Schütz’ Werk. Schon früh gilt dies für seine – allerdings durchaus zeitgeist-typische – Aufnahme des Denkens von Henri Bergson.26 Sie gilt darüber hinaus aber auch für diejenige intellektuelle Strömung, die das so genannte »Neue Denken« in den 1930er-Jahren in Frankreich bestimmte. Für diese ist ein Verständnis der menschlichen Wirklichkeit als eine leibliche, endliche, fragmentierte und zudem von jedem tragenden Grund entkoppelte und somit zur Wahl gezwungene Existenz charakteristisch. Ausgehend von der Idee der Kontingenz, der Unverfügbarkeit dieses körperlichen Daseins, fasst sie den Menschen als grundsätzlich gegenüber den Bedingungen seiner Existenz immer schon Zu-spät-Kommenden. Impulse verdankt dieses Denken nicht zuletzt der Philosophie Martin Heideggers (1889-1976), der das menschliche Wesen unter dem Titel des »Daseins« als nicht fraglos und selbstverständlich (›natürlich‹) in seinem »Sein« ruhend, sondern als eine sich immer in prekärer Lage befindliche Existenz begreift, die stets ihren Bezug zum Sein entwerfen, wählen und bewirken muss. Wichtig werden für Schütz von den französischsprachigen Autoren insbesondere Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) und Jean-Paul Sartre (1905-1980). Deren Spuren in seinem Werk bleiben gleichwohl bescheiden. Während sich Schütz mit der Intersubjektivitätstheorie in Sartres Das Sein und das Nichts von 1943 gesondert auseinander setzt (2005: 117ff.), finden sich zu Merleau-Ponty und dessen Untersuchung zur Phänomenologie der Wahrnehmung von 1945 lediglich verstreute Hinweise (2003b: 97ff.; 2004b: 143, 212ff.). Und das gilt auch für das Werk des französischen Philosophen François Pierre Maine de Biran (1766-1824).27 Seine aus der Wiener Zeit stammenden Vorkenntnisse der amerikanischen soziologischen wie philosophischen Diskussionslandschaft erweitert Schütz im Laufe der Jahre seines US-amerikanischen Exils systematisch. Hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang bereits auf die Kontinuitätslinie, die in Schütz’ Werk mit Blick auf die Bedeutung des pragmatischen Motivs für die Analyse der Sinnstrukturen der sozialen Wirklichkeit auszumachen ist. Entsprechend ziehen sich Bezüge auf Aspekte der Werke von G. H. Mead, W. James und J. Dewey durch Schütz’ Arbeiten der 1940er- und 1950er-Jahre. Ungeachtet dieser Anknüpfungspunkte und Kontinuitätslinien kann Schütz jedoch nicht in dem Sinne als Pragmatist gelten, dass er den Geltungsanspruch soziologischer Typisierungen nutzenkalkulatorisch an ihre Effektivität für die Lösung praktischer Probleme binden würde. Seine Vorbehalte richten sich stets gegen jede empiristische Auflösung begrifflicher Voraussetzungen der Soziologie, wie er sie in der »behavioristischen Grundposition« von G. H. Mead identifiziert (2003a: 192, 198f.). Entscheidend ist, dass Schütz nach dem Vorbild Husserls das Problem der Geltung soziologischer Analysen – ebenso wie auch Weber – als ein Problem der »Evidenz« begreift. Danach gelten wissenschaftliche Aussagen dann, wenn sich Prognosen erfüllen, die aufgrund von Verallgemeinerungen retrospektiv gewonnener Typisierungen vorgenommen wurden. Zu weiteren amerikanischen Autoren, mit deren Werk Schütz sich intensiv beschäftigt, gehört – auch nach dem abgebrochenen frühen Kontakt – Talcott Parsons, insbesondere dessen große Arbeiten The Social System von 1951 und die ebenfalls 1951 mit Edward Shils verfasste Studie Toward a General Theory of Action. Ebenso bezieht Schütz sich regelmäßig auf das Werk von Alfred North Whitehead (1861-1947), insbesondere auf dessen Prozess und Realität von 1929 und Wissenschaft und moderne Welt von 1926, sowie auf George Santayana (1863-1952) und dessen Werke Realms of Being von 1942 und Dominations and Powers von 1951.28 Die multilinguale Komponente (später tritt das Spanische hinzu, Griechisch und Latein beherrschten Angehörige von Schütz’ Generation selbstverständlich) wird bei Schütz flankiert von einer ausgeprägt interdisziplinären Orientierung.29 Das intellektuelle Klima der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verweist ihn konzeptionell immer schon auf eine grundlagentheoretische Verbindung von Philosophie und Soziologie. Eine entsprechende interdisziplinäre Konstellation ist auch für die Entstehung von Schütz’ Werk charakteristisch. Dieses entfaltet sich im Rahmen eines Reflexionsdreiecks: in philosophischer Hinsicht besonders in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Edmund Husserls, in soziologischer Hinsicht ganz wesentlich über den Anschluss an Max Webers verstehende Soziologie und in ökonomischer Perspektive vornehmlich unter Bezug auf die praxeologische Wirtschaftstheorie von Ludwig von Mises. In produktiver Aufnahme, Kritik und Umwandlung konzeptioneller Anregungen dieser drei Autoren entsteht das spezifische Profil von Schütz’ Lebensweltanalyse. Es sind theoretisch zentrale Übereinstimmungen jeweils zweier dieser Autoren gegenüber dem jeweils dritten sowie die Berücksichtigung ihrer jeweiligen Gegenthesen, die Schütz im Rahmen seines Ansatzes zu synthetisieren vermag. Diese Synthese ermöglicht es ihm, eine jedem seiner Referenzautoren gegenüber eigenständige theoretische Perspektive und zugleich eigenständige Form der Theoriebildung zu realisieren. Schütz’ systematische Leistung liegt also in einem produktiven Überschreiten der Grenzen von Webers empirischer Soziologie, Mises’ apriorischer Praxeologie und Husserls transzendentaler Phänomenologie.30 Jeder Ansatz einer Darstellung des theoretischen Profils von Schütz’ Werk, der dessen nicht unmittelbar durchgehaltene Kontinuität mit seinen Vorlagen kritisch vermerkt, geht somit systematisch an der emergenten Gestalt der von ihm entwickelten theoretischen Perspektive vorbei.31 Dieses originäre Profil von Schütz’ Lebensweltanalyse lässt sich auf die Formel eines unmittelbaren wechselseitigen Verstehens- und Erklärungszusammenhangs von ›Wirklichkeit‹, ›Wissen‹ und ›Handeln‹ bringen: Soziale Wirklichkeit erschließt sich dem alltäglichen wie wissenschaftlichen Verstehen über die Analyse von Sinnstrukturen, die die in der Sozialwelt Lebenden aufgrund des ihnen verfügbaren Wissens im Rahmen ihres Handelns erzeugen. Anschluss an die Wiener Ökonomik Schütz’ Ansatz zur Analyse der Sinnstrukturen der sozialen Wirklichkeit ist wesentlich von seiner Auseinandersetzung mit der Österreichischen Grenznutzenschule geprägt; sie hat durch diesen disziplinären wie theoretischen Hintergrund entscheidende Anregungen und ihre spezifische konzeptionelle Ausrichtung erhalten. So sind einige der zentralen Dimensionen, in denen Schütz nach einer Lösung seiner Fundierungsfrage der verstehenden Soziologie wie auch nach der Grundlegung einer soziologischen Handlungsanalytik sucht, orientiert an den Problemstellungen und Konzeptualisierungen der für ihn besonders durch Ludwig von Mises repräsentierten Fassung der Wiener Ökonomik. Anhand der Beiträge von Mises lassen sich die – ihrerseits auch über eine Auseinandersetzung mit der Soziologie Webers gewonnenen – Kerngedanken der »Österreicher« (so Max Weber) skizzieren und ihrer spezifisch gewendeten Aufnahme in Schütz’ Werk gegenüber stellen.32 Von besonderer Bedeutung sind dabei sechs Gesichtspunkte von Mises’ Konzeption, die sich insgesamt auf Webers Bestimmung der Soziologie als einer Wissenschaft beziehen, die es mit sozialem Handeln und der Analyse subjektiv gemeinten Sinns zu tun hat. Diese Gesichtspunkte beziehen sich auf: (1) den handlungstheoretischen Zugriff bzw. methodologischen Individualismus, (2) die Zeitlichkeit, (3) die subjektive Wertlehre und das Prinzip des Wählens, (4) Analyse der Sinnstrukturen der Handlungswirklichkeit, (5) die Nicht-Erfassbarkeit des subjektiv gemeinten Sinns sowie (6) die Apriorität der Analyse. Erstens: Konstitutiv ist für die Wiener Ökonomik ein handlungstheoretischer Zugriff, der »›pragmatisch‹ fundiert«,33 d. h. an den Kategorien von Mittel und Zweck orientiert ist: »Der Ausgangspunkt unseres Denkens«, so Mises (1933: 22), »ist nicht die Wirtschaft, sondern das Wirtschaften, d.i. das Handeln«. Und...