Elsemann | Umkämpfte Erinnerungen | Buch | 978-3-593-39519-7 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 8, 372 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 216 mm, Gewicht: 466 g

Reihe: Globalgeschichte

Elsemann

Umkämpfte Erinnerungen

Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-593-39519-7
Verlag: Campus

Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco

Buch, Deutsch, Band 8, 372 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 216 mm, Gewicht: 466 g

Reihe: Globalgeschichte

ISBN: 978-3-593-39519-7
Verlag: Campus


Spanien galt lange als Modell für einen friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Doch erst die Ermittlungen der spanischen Justiz gegen das 'Verschwindenlassen' in Argentinien und Chile führten zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Im Mittelpunkt standen dabei die 'Verschwundenen' des Bürgerkriegs und der franquistischen Repression. Nina Elsemann stellt dar, welche geschichtspolitischen Diskurse und Erfahrungen in Spanien insbesondere aus Argentinien übernommen wurden. Damit präsentiert sie den Wandel des öffentlichen Umgangs mit der Vergangenheit als Folge globaler Dynamiken und Verflechtungen.

Ausgezeichnet mit dem Ernst-Reuter-Preis der FU Berlin 2011 und dem Friedrich-Meinecke-Preis 2011.

Elsemann Umkämpfte Erinnerungen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt

Vorwort 7

1 Einleitung 9
2 Das Verschwindenlassen und die Konstruktion der desaparecidos im Kontext globaler Transfers 35
2.1 Die "Erfindung" des Verschwindenlassens im 20. Jahrhundert 36
2.2 Die Politik des Verschwindenlassens in Lateinamerika 46
2.3 Der diskursive Kampf um die desaparecidos: Von Lateinamerika zur internationalen Menschenrechtsnorm 65

3 Transnationale Aufarbeitung der Vergangenheit: Globale Normen und lokale Wirkung 89
3.1 Neue Wege der Aufarbeitung 90
3.2 Der "Fall Pinochet" 107
3.3 Die Debatte über Pinochet in Spanien: Diskursive Transfers und historische Parallelen 120
3.4 Der "Pinochet-Effekt" 140

4 Spanien nach dem "Fall Pinochet": Der Wandel im öffentlichen Umgang mit der Vergangenheit (1975-2000) 144
4.1 Das Modell der spanischen transición: "Niemals wieder" Bürgerkrieg 145
4.2 Die Rückkehr der Vergangenheit: Erste Risse im Erinnerungskonsens der transición 167
4.3 Das Ende des Schweigens: Die Wiederentdeckung der spanischen desaparecidos 183

5 Argentinien als Modell: Die spanische Erinnerungspraxis und ihre zentralen Akteure 199
5.1 Die spanischen desaparecidos und die Wirkungsmacht internationaler Menschenrechtsnormen 200
5.2 Das Ausgraben der Geschichte: Lokale Erinnerungen und transnationale Erinnerungspraxis 224

6 Die Neuverhandlung der Vergangenheit in Spanien (2000-2008) 250
6.1 Die Gegenwart der Vergangenheit: Kontroverse Begriffe und Geschichtsdeutungen 250
6.2 Politik mit der Vergangenheit: Zwischen Blockade und Institutionalisierung der Erinnerung 285

7 Schlussbetrachtung: "Argentinisierung" der Aufarbeitung? 317

Abkürzungsverzeichnis 331
Quellen 334
Literatur 338
Personenregister 370


2 Das Verschwindenlassen und die Konstruktion der desaparecidos im Kontext globaler Transfers

Grundlage der Analyse der spanischen Debatte über den Bürgerkrieg und die Diktatur entlang des desaparecido-Begriffs ist ein tief greifendes Verständnis über das Verbrechen des Verschwindenlassens und über den Begriff und die Figur des desaparecido:
"Thinking about the disappeared, then, involves several different issues: the ›real‹ existence of the men and women and children who disappeared; disappearance as a strategy of terror; and disappearance as a disavowal of death, a resistance strategy that has kept various issues and figures ›alive‹ in Argentina, from the seemingly immortal Evita to the victims of the Dirty War." (Taylor 1997a: 140)
Das komplexe Phänomen des "Verschwindens" lässt sich nur dann in seiner umfassenden Bedeutung für den spanischen Prozess fassen, wenn diese von der Kulturwissenschaftlerin Diana Taylor genannten unterschiedlichen Aspekte im Spiegel der durch die spanische Transition verschwiegenen desaparecidos der franquistischen Repression verstanden werden. Nur dann ist der Paradigmenwechsel, der mit der Bezeichnung der franquistischen Repressionsopfer als desaparecidos zum Ausdruck gebracht wurde, in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung für Spanien bewertbar. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden die historische Entwicklung des Verschwindenlassens als staatliche Repressions- und Verfolgungspraxis im 20. Jahrhundert sowie die Konstruktion des Begriffs und der Figur des desaparecido nachgezeichnet. Der Fokus liegt insbesondere auf Argentinien, das weltweit als Paradigma des Verschwindenlassens und als Ursprung der neuen Figur des desaparecido gilt. Das Verschwindenlassen zum einen und die Figur des desaparecido zum anderen stehen dabei gleichzeitig als Beispiele dafür, wie vermeintlich nationale Prozesse in einem globalen Zusammenhang eingebettet sind und als Produkt vielfältiger Transfer- und Austauschprozesse verstanden werden müssen.

2.1 Die "Erfindung" des Verschwindenlassens im 20. Jahrhundert

Auch wenn es historisch betrachtet weiter zurückliegende Erfahrungen mit dem Verschwindenlassen gibt, beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung nur mit dem 20. Jahrhundert, in dem die Praxis des Verschwindenlassens perfektioniert wurde und ein neues und unvergleichbares Ausmaß erreichte. Das Verschwindenlassen im 20. Jahrhundert ist in einem engen Zusammenhang mit der Totalisierung der Kriegsführung seit dem Ersten Weltkrieg zu sehen. Zum Kennzeichen des "Totalen Krieges" wurde die Auflösung der Grenzen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten und die Entgrenzung des Krieges, die ihren Ausdruck in der bewussten Kriegsführung gegen die feindliche Zivilbevölkerung fand.
Die Politik des Verschwindenlassens wird in der Regel mit einer spezifischen Repressions- und Verfolgungspraxis lateinamerikanischer Militärregierungen und -diktaturen, insbesondere während der siebziger Jahre im Cono Sur, assoziiert. Das Verschwindenlassen ist aber keineswegs als lateinamerikanische Singularität zu verstehen. Wie der UN-Bericht von Manfred Nowak im Jahr 2002 deutlich gemacht hat, ist das systematische Verschwindenlassen zwar zunächst in den sechziger und siebziger Jahren als staatliches Repressionsmittel in Lateinamerika bekannt, in der Folgezeit jedoch zu einer wahrhaft universell auftretenden Erscheinung geworden (vgl. United Nations Economic and Social Council 2002).
Auch wenn sich die Entstehung des Begriffs in einem spezifischen lateinamerikanischen Kontext verorten lässt, ist die dazugehörige Praxis mitnichten eine lateinamerikanische Erfindung. Weder lassen sich die genauen Ursprünge des Begriffs mit Exaktheit zurückverfolgen, noch sind die konkreten historischen Vorläufer des Verschwindenlassens von Oppositionellen durch staatliche Sicherheitskräfte eindeutig auszumachen. In der Forschungsliteratur wird in der Regel der deutsche "Nacht- und Nebelerlass" von 1941 als direkter Vorläufer angeführt. Andere Interpretationen benennen daneben auch die Erfahrungen aus dem Algerien- und dem Vietnamkrieg. Dagegen hat der Rechtswissenschaftler Kai Cornelius darauf hingewiesen, dass das Verschwindenlassen bereits spätestens mit der stalinistischen Repression zu einem Massenphänomen geworden sei, die Ereignisse in der Sowjetunion von der einschlägigen Forschung in der Regel aber nicht beachtet würden, da sie "entweder vergessen oder die Erinnerung daran inopportun zu sein" (2006: 401) scheine. In Erweiterung dazu wird mit dem Spanischen Bürgerkrieg im Folgenden ein weiteres verdrängtes oder von der Forschung kaum zur Kenntnis genommenes Beispiel angeführt, das als Vorläufer des "Nacht- und Nebelerlasses" Beachtung finden muss. Während des Spanischen Bürgerkrieges kam es zur Umsetzung eines systematischen Plans zum Verschwindenlassen durch die aufständischen Militärs, der in qualitativer und quantitativer Hinsicht ohne Zweifel an die nationalsozialistische Praxis einige Jahre später heranreichte. Die systematische Praxis des Verschwindenlassens in Spanien muss daher ebenfalls in den Kontext der Totalisierung der Kriegsführung im 20. Jahrhundert eingereiht sowie im wissenschaftlichen Forschungskontext ergänzt werden.


Nina Elsemann, Dr. phil., ist Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.