E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Ellroy Blutschatten
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1023-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1023-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
James Ellroy, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1981 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.
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1
Kurz vor Mitternacht legte der Gewitterguß los, ersäufte das Autogehupe und den Lärm der Kracher, die normalerweise das neue Jahr am Strip ankündigten, und schwemmte 1950 auf einer Woge aus Reifengequietsch mit Sirenenuntermalung zum Außenrevier von West-Hollywood.
Um 0.03Uhr gab es bei einer Massenkarambolage an der Ecke Sunset Boulevard und La Cienega ein halbes Dutzend Verletzte; die Polizisten vor Ort bekamen Augenzeugenberichte: Den Unfall hatten der Idiot in dem braunen DeSoto und der Armeemajor im Dienstwagen von Camp Cooke verursacht, die beide, Hunde mit papierenen Faschingshüten auf dem Schoß, freihändig um die Wette gefahren waren. Zwei Festnahmen, ein Anruf beim Tierasyl an der Verdugo Street. Um 0.14Uhr löste sich eine unbewohnte Veteranenbude an der Sweetzer in einen Haufen durchweichter Fertigteile auf und begrub ein Teenagerpärchen unter sich, das im Keller am Fummeln war – zwei Tote fürs Bezirksleichenschauhaus. Um 0.29Uhr gab es an einer neonbeleuchteten Kunstrasenauslage, die Sankt Niklaus und seine Helfer zeigte, einen Kurzschluß, bei dem die Flammen am Stromkabel entlang bis zu dessen Ende im Innern schlugen – einem mit einem Wirrwarr von Adaptern verbundenen Stecker, der einen hell erleuchteten Weihnachtsbaum samt Krippenszene speiste – und drei Kinder schwer verbrannten, die eingewickelte Geschenke um ein illuminiertes Jesuskind gehäuft hatten. Am Schauplatz ein Feuerwehrauto, eine Ambulanz und drei Streifenwagen des Sheriff-Büros sowie ein kleineres Kompetenzgerangel, als die Stadtpolizei von Los Angeles in voller Mannschaftsstärke anrückte, nachdem ein Grünschnabel in der Funkzentrale den Einsatzort am Sierra Bonita Drive irrtümlich dem Zuständigkeitsbereich der City – nicht dem des County – zugeschlagen hatte. Danach fünfmal Alkohol am Steuer; danach ein Haufen Besoffener und Ruhestörer, als die Clubs am Strip dichtmachten; danach ein bewaffneter Raubüberfall vor Dave’s Blue Room, die Opfer zwei Bauerntölpel aus Iowa, die der Rose Bowl wegen in der Stadt waren, die Täter zwei Neger, die in einem 47er Mercury mit lila Schwanzflossen geflüchtet waren. Als der Regen kurz nach 3Uhr auströpfelte, sagte Detective Deputy Danny Upshaw, der diensthabende Schichtleiter des Reviers, voraus, daß die Fünfziger ein beschissenes Jahrzehnt werden würden.
Von den Besoffenen und nichtalkoholisierten Missetätern im Arrestkäfig abgesehen, war er allein. Sämtliche Schwarzweißen und Zivilstreifenwagen waren draußen auf Friedhofsschicht; kein Vorgesetzter, kein Telefon- oder Büromädchen, kein Zivilbulle war im Dienstraum. Kein Streifenpolizist in Khaki und olivem Tuch stolzierte herum und grinste belämmert über seinen öden Auftrag – der Strip, Hochglanzweiber, Weihnachtskörbe von Mickey Cohen, der echte Ärger wegen der Stadtgrenze mit dem Los Angeles Police Department, der Stadtpolizei. Keiner glotzte ihn schief an, als er zu seinen Kriminologiehandbüchern griff: Vollmer, Thorwald, Maslick – rasterweises Absuchen des Tatortes, Erklärung von Blutflecken, wie krempelt man einen sechs mal acht Meter großen Raum in einer knappen Stunde nach Beweismaterial um.
Die Füße auf dem Schreibtisch, die Gegensprechanlage zu den Funkwagen leise gedreht, machte sich Danny ans Lesen. Hans Maslick ließ sich darüber aus, wie man bei stark verbranntem Fleisch Fingerabdrücke nahm und welche chemische Verbindung sich am besten dafür eignete, verkrustetes Gewebe zu entfernen, ohne die Haut unter der Oberfläche des Abdruckmusters zu versengen. Maslick hatte seine Technik im Jahre 1931 im Anschluß an einen Gefängnisbrand in Düsseldorf perfektioniert. Er hatte eine Menge Leichen und Fingerabdruckbogen zur Verfügung; in der Nähe gab es ein Chemiewerk mit einem ehrgeizigen jungen Laborassistenten, der scharf darauf war, ihm zu helfen. Gemeinsam machten sie sich mit Volldampf an die Arbeit: Ätzende Lösungen brannten sich zu tief ein, mildere Verbindungen drangen nicht durch das verkohlte Fleisch. Beim Lesen kritzelte Danny chemische Formeln auf einen Notizblock; er stellte sich vor, Maslicks Assistent zu sein und Seite an Seite mit dem großen Kriminologen zu wirken, der ihn jedesmal väterlich umarmen würde, wenn ihm ein glänzender logischer Schritt gelang. Alsbald wandte er im Geiste das Gelesene auf die vor der Krippe angekokelten Kinder an, nahm im Alleingang Abdrücke von winzigen Fingern, verglich sie mit denen in den Geburtsunterlagen, eine Vorsichtsmaßnahme der Krankenhäuser für den Fall, daß Neugeborene vertauscht wurden–
»Boss, wir haben was Heißes.«
Danny blickte auf. Hosford, ein Deputy in Uniform, der an der Nordgrenze des Abschnitts arbeitete, stand in der Tür. »Was? Warum haben Sie’s nicht durchgegeben?«
»Hab ich. Sie müssen–«
Danny stieß Text und Notizblock zur Seite. »Was ist los?«
»Männliche Leiche – an der Allegro, ’ne halbe Meile vom Strip hoch. Himmel Arsch und Zwirn, sowas hab ich noch nie–«
»Sie bleiben hier, ich geh los.«
Die Allegro Street war eine enge Wohnstraße, teils spanische Bungalows mit Innenhöfen, teils Baustellen, vor denen Schilder LUXUSAPPARTEMENTS in Tudor-, französischem Landhaus- und modernem Stromlinienstil verhießen. Danny fuhr sie in seinem Zivilwagen ab und ließ ihn ausrollen, als er eine Sperre aus Sägeböcken mit roten Blinkern sah, hinter denen drei schwarz-weiße Streifenwagen standen und mit ihren Scheinwerfern eine unkrautüberwucherte Baulücke bestrahlten.
Er ließ den Chevy am Bordstein stehen und ging hin. Eine Traube Deputys in Regenmänteln hatte die Taschenlampen auf den Boden gerichtet; Rotlicht flackerte über ein Schild der ALLEGRO SIEDLUNGSGESELLSCHAFT – BESTER WOHNRAUM AB FRÜHJAHR 1951. Die Lampen der Streifenwagen leuchteten kreuz und quer über das Grundstück und brachten leere Schnapsflaschen, durchweichtes Bauholz und Papierfetzen zum Vorschein. Danny räusperte sich; einer der Männer fuhr herum und zog ruckartig die Waffe. Danny sagte: »Ruhig, Gibbs. Ich bin’s, Upshaw.«
Gibbs steckte seine Knarre wieder ins Holster, die anderen Cops traten auseinander. Danny blickte auf die Leiche hinab, spürte, wie ihm die Knie weich wurden, und machte auf Kriminologe, damit er nicht ohnmächtig wurde oder kotzen mußte:
»Deffry, Henderson, laßt eure Lampen auf dem Verstorbenen. Gibbs, schreiben Sie auf, was ich sage:
Toter weißer Mann, nackt. Ungefähres Alter dreißig bis fünfunddreißig. Der Leichnam liegt auf dem Rücken, Arme und Beine gespreizt. Würgemale am Hals, die Augen wurden entfernt, und die leeren Höhlen sondern eine gelatineartige Substanz aus.«
Danny ging neben der Leiche in die Hocke; Deffry und Henderson bewegten ihre Lampen, damit er aus der Nähe etwas sah. »Die Genitalien sind gequetscht und geschwollen, auf der Eichel befinden sich Bißspuren.« Er griff unter den Rücken des Toten und spürte nassen Dreck; er legte die Hand neben dem Herzen an die Brust und stellte trockene Haut und einen Rest Körperwärme fest. »Auf dem Leichnam befindet sich kein Niederschlag, und nachdem es zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens heftig geregnet hat, dürfen wir annehmen, daß das Opfer innerhalb der letzten Stunde hier abgeladen wurde.«
Sirenengeheul näherte sich dem Schauplatz. Danny schnappte sich Deffrys Taschenlampe und ging besonders nah ran, um das Schlimmste zu untersuchen. »Der Körper weist sechs ovale, unregelmäßige Wunden auf, die kreisförmig zwischen Nabel und Brustkorb angeordnet sind. An den Rändern zerfetztes Fleisch, die Eingeweide überzogen mit daraus austretendem geronnenen Blut. Die Haut um jede Wunde ist entzündet und markiert so unmittelbar die Rißspuren, wie–«
Henderson sagte: »Knutschflecken, ist doch arschklar.«
Danny fühlte sich in seinem Lehrbuchspielchen unterbrochen. »Wovon reden Sie?«
Henderson seufzte. »Na ja, Liebesmale. Wie wenn einem ’ne Braut am Hals rumsaugt. Gibbsey, zeig dem Zivilen hier mal, was das Garderobenmädchen im Blue Room zu Weihnachten mit dir angestellt hat.«
Gibbs kicherte und schrieb weiter; Danny stand auf, sauer, daß er von einem livrierten Lackbullen von oben herab behandelt wurde. Wenn er nicht redete, haute ihn die Leiche um; seine Beine waren wie Gummi, und sein Magen schlug Purzelbäume. Er richtete die Stabfunzel auf den Boden, ließ das Licht um den toten Mann streichen und sah, daß die Erde von Polizeistiefeln gründlich zertrampelt war und die Streifenwagen jede mögliche Reifenspur vernichtet hatten. Gibbs sagte: »Ich bin mir nicht sicher, daß ich alle Wörter richtig geschrieben habe.«
Danny fand wieder zu seiner Lehrbuchstimme. »Spielt keine Rolle. Machen Sie einfach weiter und geben Sie’s morgen früh Captain Dietrich.«
»Ich hab aber um acht Feierabend. Der Skipper kommt vor zehn nicht rein, und ich hab Karten für die Bowl.«
»Sorry, aber Sie bleiben, bis die Tagschicht Sie ablöst oder die Laborleute aufkreuzen.«
»Das Labor vom County ist an Neujahr zu, und ich hab doch die Karten–«
Ein Wagen der Gerichtsmedizin hielt vor den Sägeböcken, stellte die Sirene ab; Danny drehte sich zu Henderson um. »Absperrseile, keine Reporter, keine Neugierigen. Gibbs hält hier die Stellung, Sie und Deffry quetschen die Anwohner aus. Sie kennen doch die Tour: Zeugen fürs Abladen, verdächtige Herumtreiber, Fahrzeuge.«
»Upshaw, es ist zwanzig nach vier in der Früh.«
»Gut. Fangt jetzt an, dann seid ihr vielleicht bis Mittag fertig. Laßt einen...