Ellison | Der unsichtbare Mann | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 688 Seiten

Ellison Der unsichtbare Mann

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1697-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 688 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1697-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Nachkriegsliteratur.« Paul Ingendaay, FAZ.

Ralph Ellison, neben Toni Morrison und James Baldwin eine der großen Stimmen der afroamerikanischen Literatur der Gegenwart, gewann 1953 den National Book Award und wurde mit seinem gefeierten New-York-Roman schlagartig berühmt. Die Geschichte von der Odyssee eines namenlosen Schwarzen, die ihn von ganz oben bis ganz unten durch alle Schichten der amerikanischen Gesellschaft führt, ist eines der Lieblingsbücher von Barack Obama und bleibt hochaktuell: als schonungslose Abrechnung mit den alltäglichen rassistischen Ideologien und als Lob auf das gewachsene Selbstbewusstsein der noch immer um ihre selbstverständlichen Rechte Kämpfenden.



Ralph Ellison (1914-1994) studierte klassische Musik am Tuskegee Institute, einer der bekanntesten (damals ausschließlich) afroamerikanischen Bildungseinrichtungen. Mit dem Schreiben begann er nach einer Begegnung mit Richard Wright. Als Professor für Literatur unterrichtete er an verschiedenen amerikanischen Universitäten, zuletzt an der New York University. Georg Goyert (1884-1966) war ein renommierter Literaturübersetzer und zeichnete sich durch zahlreiche Übertragungen namhafter Autoren aus, allen voran James Joyce. Hans-Christian Oeser ist freier literarischer Übersetzer, Herausgeber, Autor und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie.
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Prolog


Ich bin ein unsichtbarer Mann. Nein, ich bin keine jener Spukgestalten, die Edgar Allan Poe heimsuchten, auch keines jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood produziert werden. Ich bin ein Mensch aus Substanz, aus Fleisch und Knochen, aus Fasern und Flüssigkeiten – ja, man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich einen Verstand besitze. Ich bin unsichtbar, verstehen Sie, weil sich die Leute weigern, mich zu sehen. Es ist, als wäre ich von Zerrspiegeln aus hartem Glas umgeben, so wie die körperlosen Köpfe, die man mitunter auf Jahrmärkten sieht. Wer sich mir nähert, sieht nur meine Umgebung, sich selbst oder die Auswüchse seiner Phantasie – in der Tat alles und jedes, nur mich nicht.

Meine Unsichtbarkeit ist auch nicht durch die biochemische Beschaffenheit meiner Epidermis bedingt. Die Unsichtbarkeit, die ich meine, ist die Folge einer eigenartigen Disposition der Augen derer, mit denen ich in Kontakt komme, und zwar der Anlage ihrer inneren Augen, jener Augen, mit denen sie die Wirklichkeit durch ihre körperlichen Augen hindurch wahrnehmen. Ich beklage mich nicht, ich protestiere auch nicht. Manchmal hat es sogar sein Gutes, unsichtbar zu sein, auch wenn es meist ziemlich nervenzerrüttend ist. Außerdem stößt man fortwährend mit Leuten zusammen, die schlecht sehen. Oder man bekommt Zweifel, ob man wirklich existiert. Man fragt sich, ob man nicht einfach nur ein Phantom in den Köpfen der anderen ist. Etwa eine Gestalt in einem Alptraum, die der Schläfer mit aller Gewalt vernichten will. Sobald man so empfindet, fängt man aus Unmut an, den Stoß zu erwidern. Und ich muss gestehen, so empfindet man meistens. Man hat das quälende Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass man in der realen Welt existiert, dass man ein Teil all des Lärms und all der Qual ist, und dann schlägt man mit den Fäusten um sich, flucht und verwünscht die anderen, damit sie einen erkennen. Aber leider hat das nur selten Erfolg.

Eines Abends stieß ich zufällig mit einem Mann zusammen. Vielleicht sah er mich, weil es schon fast dunkel war, und er beschimpfte mich. Ich sprang ihn an, packte ihn bei den Mantelaufschlägen und verlangte, dass er sich entschuldige. Er war ein großer blonder Mann, und als mein Gesicht dicht vor seinem war, blickte er mich aus seinen blauen Augen anmaßend an und verwünschte mich. Während er sich zu befreien suchte, wehte mir sein heißer Atem ins Gesicht. Ich rammte ihm meinen Schädel unters Kinn, verpasste ihm also einen Kopfstoß, wie ich es bei den Westindern gesehen hatte, und spürte, wie seine Haut aufplatzte und das Blut hervorquoll, und ich schrie: »Entschuldige dich! Entschuldige dich!« Er aber fluchte und wehrte sich weiter, und ich stieß immer wieder zu, bis er stark blutend einknickte. Mehrmals trat ich ihn, voller Wut, dass er mich immer noch beschimpfte, obwohl ihm schon blutiger Schaum auf den Lippen stand. O ja, ich trat ihn! Und in meiner Empörung zog ich mein Messer, um ihm in der menschenleeren Straße direkt unter der Laterne die Kehle durchzuschneiden. Mit der einen Hand hielt ich ihn am Kragen, und mit den Zähnen klappte ich das Messer auf – als mir plötzlich einfiel, dass der Mann mich nicht wirklich gesehen hatte; dass er glauben musste, in einem wandelnden Alptraum gefangen zu sein! Ich hielt inne, und die Klinge durchschnitt nur noch die Luft, während ich den Mann von mir weg auf die Straße stieß. Als die Scheinwerfer eines Autos die Dunkelheit durchstachen, konnte ich ihn genauer betrachten. Stöhnend lag er auf dem Asphalt, ein Mann, der beinahe von einem Phantom umgebracht worden wäre. Mein Mut schwand. Ich war angewidert und beschämt zugleich, wie ein Betrunkener, der auf geschwächten Beinen dahintorkelt. Und dann war ich belustigt: Etwas war dem dicken Schädel dieses Mannes entsprungen und hätte ihn fast totgeschlagen. Bei dieser wahnsinnigen Entdeckung begann ich zu lachen. Wäre er an der Schwelle des Todes aufgewacht? Hätte der Tod selbst ihn zu wachsamem Leben befreit? Doch hielt ich mich nicht auf. Ich lief davon in die Dunkelheit, lachte so laut, dass ich zu bersten glaubte. Am nächsten Tag sah ich sein Foto in den Daily News, die Bildunterschrift besagte, er sei auf offener Straße überfallen worden. Der arme Narr, der arme, blinde Narr, dachte ich mit aufrichtigem Mitleid, überfallen von einem unsichtbaren Mann!

Meist bin ich nicht so hemmungslos gewalttätig (wenn ich auch nicht wie früher meine Gewalttätigkeit dadurch verneine, dass ich sie einfach ignoriere). Ich erinnere mich daran, dass ich unsichtbar bin, und gehe leise meinen Weg, um die Schlafenden nicht zu wecken. Manchmal ist es das Beste, sie nicht zu wecken; nur wenig in der Welt ist so gefährlich wie Schlafwandler. Allerdings habe ich rechtzeitig gelernt, dass es möglich ist, einen Kampf gegen sie zu führen, ohne dass sie es merken. So kämpfe ich seit einiger Zeit gegen Monopolated Light & Power. Ich nutze ihre Dienstleistung, ohne dafür zu bezahlen – und sie haben keine Ahnung. Oh, einen Verdacht, dass Strom abgezapft wird, haben sie schon, aber sie wissen nicht, wo. Sie wissen nur, dass dem Hauptzähler ihres Kraftwerks zufolge irgendwo im Dschungel von Harlem eine Menge kostenfreier Strom verschwindet. Der Spaß dabei ist, dass ich gar nicht in Harlem, sondern in einem Grenzbezirk wohne. Vor mehreren Jahren (damals kannte ich die Vorteile des Unsichtbarseins noch nicht) kaufte ich ihren Strom wie jeder andere auch und zahlte ihre unverschämten Preise. Aber heute nicht mehr. Das alles habe ich längst aufgegeben, zusammen mit meiner Wohnung und meiner alten Lebensweise. Diese beruhte auf der trügerischen Annahme, ich sei wie alle anderen Menschen sichtbar. Nachdem ich jetzt weiß, dass ich unsichtbar bin, wohne ich umsonst in einem Haus, das ausschließlich an Weiße vermietet wird, in einem Teil des Kellers, der im neunzehnten Jahrhundert zugebaut und vergessen wurde und den ich entdeckte, als ich eines Nachts Ras dem Zerstörer zu entkommen versuchte. Doch damit greife ich viel zu weit vor, fast bis ans Ende der Geschichte, obwohl das Ende am Anfang und damit weit zurückliegt.

Das Wichtigste ist, dass ich ein Zuhause gefunden habe – oder ein Loch in der Erde, eine Höhle, wenn Sie so wollen. Aber hüten Sie sich vor dem Schluss, mein Zuhause sei feucht und kalt wie ein Grab, nur weil ich es ein Loch nenne. Es gibt kalte und warme Höhlen. Meine Höhle ist warm. Und vergessen Sie nicht, dass ein Bär sich für den Winter in seine Höhle zurückzieht und dort bis zum Frühling lebt, dann kommt er wieder hervorgetapst wie das Osterküken, das aus dem Ei schlüpft. Das alles sage ich nur, um Sie darauf hinzuweisen, dass die Annahme, ich sei tot, weil ich unsichtbar bin und in einer Höhle wohne, falsch ist. Ich bin weder tot noch scheintot. Nennen Sie mich Jack den Bären, denn ich befinde mich in einer Art Winterschlaf.

Meine Höhle ist warm und voller Licht. Ja, voller Licht. Ich bezweifle, dass es in ganz New York einen helleren Ort als meine Höhle gibt, heller als der Broadway oder das Empire State Building in einer Traumnacht für jeden Fotografen. Aber ich treibe Schindluder mit Ihnen. Diese beiden Orte sind mit das Dunkelste in unserer gesamten Zivilisation – Verzeihung, unserer gesamten Kultur (ein bedeutsamer Unterschied, wie ich gehört habe) –, vielleicht klingt das wie ein Scherz oder wie ein Widerspruch in sich, aber so (durch Widerspruch, meine ich) bewegt sich die Welt: nicht wie ein Pfeil, sondern wie ein Bumerang. (Hüten Sie sich vor denen, die von der Spiralbewegung der Geschichte reden; sie bereiten einen Bumerang vor. Halten Sie einen Stahlhelm griffbereit.) Ich weiß Bescheid; mir sind so viele Bumerange über den Kopf geflogen, dass ich heute die Dunkelheit des Lichts sehen kann. Und ich liebe das Licht. Vielleicht klingt es seltsam, dass ein unsichtbarer Mann Licht braucht, sich nach Licht sehnt und Licht liebt. Aber vielleicht liegt es ja genau daran, dass ich unsichtbar bin. Licht bestätigt meine Realität, erzeugt meine Gestalt. Ein schönes Mädchen erzählte mir einmal von einem immer wiederkehrenden Alptraum, in dem sie in der Mitte eines großen dunklen Zimmers lag und fühlte, wie sich ihr Gesicht immer weiter ausdehnte, bis es den ganzen Raum ausfüllte, eine formlose Masse wurde, während ihre Augen als widerliche gallige Gallerte den Kamin hinaufliefen. Genauso geht es mir. Ohne Licht bin ich nicht nur unsichtbar, sondern auch gestaltlos; und wer sich seiner Gestalt nicht bewusst ist, lebt einen Tod. Ich selbst wurde, nachdem ich bereits an die zwanzig Jahre existiert hatte, erst lebendig, als ich meine Unsichtbarkeit entdeckte.

Aus diesem Grund führe ich meinen Kampf gegen Monopolated Light & Power. Aus diesem tieferen Grund, meine ich: Er lässt mich meine Vitalität spüren. Außerdem bekämpfe ich sie, weil sie mir so viel Geld abgeknöpft hat, bis ich endlich lernte, mich zu schützen. In meiner Höhle im Kellergeschoss brennen genau 1369 Lampen. Jeden Zoll der Decke habe ich mit Drähten bespannt. Und es sind keine fluoreszierenden Glühbirnen, sondern ältere, die im Verbrauch teurer sind, solche mit Kohlefäden. Die reinste Sabotage, wissen Sie. Ich habe schon damit begonnen, die Wände mit Drähten zu bespannen. Ein Trödler, den ich kenne, ein Visionär, hat mir Draht und Fassungen besorgt. Nichts, weder Sturm noch Flut, darf sich unserem Bedürfnis nach Licht, nach immer mehr und immer hellerem Licht in den Weg stellen. Wahrheit ist Licht, und Licht ist Wahrheit. Wenn ich mit allen vier Wänden fertig bin, kommt der Fußboden an die Reihe. Wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Aber wenn man so lange wie ich unsichtbar gelebt hat, wird man erfinderisch. Ich werde das Problem schon lösen....



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