E-Book, Deutsch, 1152 Seiten
Eliot Middlemarch
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-423-43629-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Studie über das Leben in der Provinz
E-Book, Deutsch, 1152 Seiten
ISBN: 978-3-423-43629-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
George Eliot (1819 -1880) hieß eigentlich Mary Ann Evans. Sie publizierte jedoch unter männlichem Pseudonym. Sie verkehrte in den intellektuellen Zirkeln Londons und schrieb für die liberale >Westminster Review< - eine Freidenkerin, die sich von keiner Strömung vereinnahmen ließ. Eliot gilt als die erste moderne Schriftstellerin Englands und bedeutendste Vertreterin des psychologisch-sozialen Romans. Sie starb 1880 in London.
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Vorwort
Elisabeth Bronfen
Weibliches Leben im Verborgenen?
Die Einzelschicksale, die George Eliot in ihrem Roman »Middlemarch« in acht Episoden miteinander verbindet, ergeben eine ›Studie über das Leben in der Provinz‹ – so der Untertitel. In der englischen Provinz Anfang des 19. Jahrhunderts heiraten die Familien des Großbürgertums untereinander, da wenig Fremde von außerhalb nach Middlemarch kommen. Zugleich ist der Umgang, den die Mitglieder der Gemeinde miteinander pflegen, von Vorurteilen, Gerüchten und Intrigen geprägt. Auch das Geld spielt eine große Rolle: Mal weckt es Hoffnungen, mal vereitelt es Erwartungen.
In dieser Auslegeordnung sind verschiedene Facetten von Weiblichkeit zu entdecken. Sich dem begrenzten Fokus ihrer Geschichte bewusst, erklärt die Erzählerin am Anfang des 15. Kapitels: »Ich zumindest habe so viel damit zu tun, bestimmte menschliche Schicksale zu entwirren und zu sehen, wie sie gewoben und ineinander verwoben sind, dass ich alles Licht, über das ich verfüge, auf dieses spezielle Gewebe konzentrieren muss und nicht über jene verlockende Fülle von Bedeutsamkeiten verstreuen darf, die man das Universum nennt«. Im Zentrum dieses Gewebes steht die verwaiste Dorothea Brooke, die zusammen mit ihrer Schwester Celia auf Tipton Grange wohnt, dem Gutshof ihres Onkels. Deutet ihr religiöser Wunsch nach Märtyrertum auf ein puritanisches Familienerbe, bezeugt ihre erhabene Weltanschauung zugleich einen leidenschaftlichen Freimut. Ihr Wunsch nach einem hehren geistigen Leben kann als Kompensation dafür verstanden werden, dass sie als Frau kein College besuchen kann und sich stattdessen mit wohltätigen Projekten auf dem Anwesen ihres Onkels begnügen muss. Dorothea hat aber auch einen Hang zu kühnen Entscheidungen. Die Ehe mit Edward Casaubon, einem älteren Pastor, soll ihren Wissensdurst befriedigen. Sucht er in seinen Studien unermüdlich nach dem Schlüssel zu allen Mythologien, hofft sie in dieser Forschung ihre eigene intellektuelle Erfüllung zu finden. Sein Pfarrhaus trägt den sprechenden Namen Lowick, was so viel bedeutet wie »kurzer Docht«. In diesem Haus ist es nicht nur tatsächlich sehr düster, dort wird sich auch die Heirat bald als nur spärlich von gegenseitiger Liebe erleuchtet erweisen. Dorotheas hoffnungsvolle Bewunderung für den Gelehrten trifft bei ihrem Gatten auf ein fundamentales Missverständnis, will er doch nur eine gehorsame Gehilfin, keine Mitdenkerin.
Bereits sechs Wochen nach der Hochzeit hat die naive Braut ihre feurige Einbildungskraft der Realität anpassen müssen. Sie beginnt zu begreifen, wie fruchtlos jene Forschung ist, die Casaubon in seiner Bibliothek gefangen hält. Durch dessen Vetter Will Ladislaw, der auf Wunsch von Arthur Brooke nach Middlemarch gekommen ist, um bei seiner neu gegründeten Zeitung mitzuwirken, erhält Dorothea die Gelegenheit, ihre brachliegende Leidenschaft auf ein neues Anliegen zu übertragen. Sie versucht ihrem Gatten einzureden, den mittellosen Idealisten in seinem Testament zu begünstigen. Dabei ahnt sie nicht, dass sie damit in dem bereits von Selbstzweifel gepeinigten Geistlichen eine blinde Eifersucht schürt – Shakespeares Desdemona ganz ähnlich. Casaubon seinerseits wittert in der Inbrunst, mit der seine junge Gattin sich für den unliebsamen Vetter einsetzt, sowohl Kritik an seiner Forschung als auch Rebellion gegen seine Vorherrschaft. Achtzehn Monate nach ihrer Trauung wird er Dorothea zwar im Gegensatz zu Othello für diese Untreue nicht ermorden, doch ihr Gatte vollzieht mit einem Testamentsnachtrag einen Rufmord: Sollte seine Witwe Will heiraten, würde sie den geerbten Besitz gänzlich verlieren. Die Ironie dieses boshaften Eingriffs: In seiner blinden Eifersucht hat Casaubon jenes Begehren richtig erkannt, welches sich Dorothea erst ganz am Ende des Romans offen eingestehen kann.
Geschärft wird dieses Portrait einer in ihrem Tatendrang beeinträchtigten jungen Frau durch drei weitere Lebensentwürfe, die es kontrastieren. Dorotheas Schwester Celia entspricht ganz dem viktorianischen Weiblichkeitsbild. Von fröhlichem und umgänglichen Gemüt gezeichnet, ist ihr die Bereitschaft ihrer Schwester zur Selbstkasteiung ebenso fremd wie deren Hunger nach Wissen. Celia setzt alles auf eine unbekümmerte Lebenslust und ist gewandt in der Kunst des Singens und Klavierspielens, die damals als angemessene Ausdrucksformen weiblicher Kreativität galten. Ihre liebenswürdige und unschuldige Erscheinung ist allerdings mit einem gesunden Menschenverstand gekoppelt. Weniger klug und fantasievoll als ihre Schwester ist Celia auch weniger bereit, sich etwas vorzumachen. Zwar streitet sie sich mit Dorothea nie, zugleich ist sie diejenige, die mit ihrem nüchternen Blick die Schwester immer wieder auf deren Selbsttäuschungen aufmerksam macht.
Nach ihrer Heirat mit Sir James Chettam bekommt Celia als erste im Roman einen Sohn und stellt somit die Nachkommenschaft sicher. Gänzlich mit dem beschränkten Wirkungsfeld zufrieden, das ihr das Leben auf Freshitt Hall bietet, verkörpert sie eine ruhige, von Lebensweisheit geprägte weibliche Stabilität. Die pragmatische Tugendhaftigkeit, die sie von Anbeginn zur Schau stellt, braucht keine Veränderung, und so nimmt sie am wenigsten Platz im Roman ein. Die Erzählerin interessiert sich für sie nur als Beispiel für eine Frau, die den an sie herangetragenen Erwartungen perfekt entspricht, weil sie sich diese unhinterfragt zu eigen machen kann. Um darin ein Stück weibliche List zu erkennen, muss man zwischen den Zeilen lesen: Denn im Gegensatz zu Dorothea kann Celia sich bei ihrem Gatten erfolgreich durchsetzen, weil sie die weiblichste aller Waffen – die Tränen der empfindsamen Gattin – perfekt beherrscht.
Eine andere Art Bodenständigkeit wird von Mary Garth verkörpert, der Tochter eines Grundstückverwalters, die sich im Gegensatz zu Dorothea und ihrer Schwester ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muss. Auch sie akzeptiert die Grenzen, die ihr das Schicksal ihrer Geburt vorgibt. Es entspricht ebenfalls dem Standesdünkel, den George Eliot mit ihrem Roman zu spiegeln sucht, dass Mary von einer schlichten Erscheinung ist, klein gewachsen, mit einem gewöhnlichen Gesicht und braunem, lockigen Haar. Mit Ehrlichkeit als ihrer entscheidenden Tugend hat sie weder Verständnis für leere Ambitionen noch für einen dem eigenen Status unangemessenen Genuss. Die Bauernschläue, die ihr erlaubt, sich ihren von wirtschaftlichen Rückschlägen gezeichneten Lebensumständen anzupassen, ist mit einer guten Portion satirischem Witz versehen. Dieser bildet das adäquate Beiwerk zu jener moralischen Haltung, für die sie von George Eliot als Leitbild eingesetzt wird: Von ihrer Überzeugung, dass man aufrichtig leben muss, weicht Mary nie ab. Am eindrücklichsten zeigt sich diese Strenge in ihrem Umgang mit ihrem Jugendfreund Fred Vincy, der sich in der falschen Erwartung, eine große Erbschaft zu machen, hoffnungslos verschuldet, und diejenigen, die ihm vertrauen, in den Ruin zu stürzen droht. Sie liebt ihn zwar, doch in eine Ehe will sie nur dann einwilligen, wenn er von seiner verschwenderischen Lebensweise absieht und einen ordentlichen Beruf ergreift.
Die einzige Ambition, die Mary sich zu hegen erlaubt, betrifft somit das ganz persönliche Glück. Sie will sich weder einem Gatten gehorsam unterwerfen, noch sich im Schatten seines Wohlstandes ausruhen. Die Handlungsfähigkeit, die ihr eingeräumt wird, mag ihrem Stand entsprechend zwar gering sein, sie aber darf ihren Bräutigam dazu erziehen, sich ihrer Liebe würdig zu erweisen. Mit ihrem Beharren auf Umsicht verkörpert Mary Garth somit eine weitere Facette des viktorianischen Weiblichkeitsideals. Ganz dem puritanischen Arbeitsethos entsprechend kommt die Forderung, die sie nicht nur an sich, sondern auch an ihre Mitmenschen stellt, einer bereitwilligen Selbsteinschränkung gleich. Dass die Erzählerin jene Standhaftigkeit lobt, mit der Mary an ihrer Aufrichtigkeit festhält, könnte man aber auch als verstohlene Kritik verstehen. Zwar darf Mary sich den Ehemann nach ihren eigenen Vorstellungen erziehen, doch das Familienglück geht mit dem Verzicht auf jegliche soziale Abweichung einher. Es ist regelrecht an das Verbot geknüpft, die Standesgrenze der Kaufleute zu überschreiten, aus der sie stammt. Die gänzlich private Reform, für die sie eintritt, ist eine Selbstbildung zur Bescheidenheit, kein offener politischer Wandel.
Wesentlich schillernder wird Rosamond Vincy gezeichnet, die Schwester von Fred Vincy und Marys Jugendfreundin. Auch sie verkörpert eine weitere Facette des damaligen Weiblichkeitsideals: die elegante viktorianische Lady. Rosamonds Schönheit wird wiederholt mit ihren engelhaft blonden Haaren begründet, doch sie sticht zugleich auch durch ihre elegante Erscheinung, die Angemessenheit ihrer Sprache und ihren herausragenden Geschmack hervor. Ihre musikalische Darbietung als Sängerin ist ebenso vollkommen wie ihre Stickarbeit makellos und ihre Zeichnungen exquisit sind. Als Tochter eines der erfolgreichsten Fabrikanten von Middlemarch hat der Wohlstand, in dem sie groß geworden ist, in ihr zusammen mit einer guten Portion Snobismus auch eine Gesellschaftsfantasie geschürt: Sie will eine gute Heiratspartie machen, wünscht sich Wohlstand und soziale Anerkennung, die mit diesem im viktorianischen Großbürgertum einhergeht. Erfolgreich stellt sie dem Arzt Tertius Lydgate nach, der nach Middlemarch gekommen ist, um sich einen Namen mit Forschungen zu ansteckenden Erkrankungen zu machen. Wie Dorothea ist auch Rosamond von Ehrgeiz getrieben, da auch sie von jenem kulturellen Kapitel stellvertretend profitieren will, das ihre Einbildung ihrem zukünftigen Gatten zugeschrieben hat.
Dass es sich bei ihrer amourösen Verblendung um den Glamour...