Eichinger / Goldschmidt-Lechner / Sachs | FM4 Wortlaut 21. Aussicht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 162 Seiten

Reihe: Wortlaut

Eichinger / Goldschmidt-Lechner / Sachs FM4 Wortlaut 21. Aussicht

Der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-903081-93-2
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb

E-Book, Deutsch, 162 Seiten

Reihe: Wortlaut

ISBN: 978-3-903081-93-2
Verlag: Luftschacht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Seit vielen Jahren bietet der Radiosender FM4 Nachwuchsautor*innen und allen, die Freude am Geschichtenschreiben haben, die Chance, sich in kurzer Form literarisch auszudrücken. "Aussicht" war das Thema im Jahr 2021. Die hochkarätige Jury (Bernhard Eichner, Nava Ebrahimi, Franzobel, Marjana Gaponenko und Matthias Gruber) wählte (mit Hilfe einer redaktionellen Vorjury) aus den rund 1000 Einsendungen die zehn besten Texte für die Anthologie FM4 Wortlaut 21. Aussicht. Wir gratulieren allen 10 Gewinner*innen, insbesonders Luca Manuel Kieser (Platz 1), Sarah Rinderer (Platz 2) und Christian Hödl (Platz 3). Man wird zweifellos noch mehr von ihnen hören und vor allem lesen.

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(1)

So nämlich jagen Wale: Mit offen stehendem Maul und sich um die Längsachse drehend schrauben sie sich in die Tiefe. Und wenn ein Tintenfisch, der regungslos im Wasser steht, auch unsichtbar sein mag, dem Echolot eines Wals entgeht er nicht. Anfangs sind es so leise Töne, dass nur er selbst sie hört. Eine heimlich gesummte Melodie. Doch sobald er nah genug ist, schlägt er mit einer Geräuschsalve zu.

Während du dann wieder zu dir kommst, wirst du in die Höhe geschleift. Bald seid ihr so hoch, dass dünnes Licht ins Wasser dringt, doch alles, was du sehen kannst, ist der endlose Körper. Du erkennst etwas an seinem Rücken und versuchst es zu erreichen, doch deine Arme rutschen ab. Der Druck des Kiefers, das immer wärmer werdende Wasser, es schnürt dir die Kiemen zu. Dein linker Tentakel findet eine Stelle, an der er sich festkrallen kann, und reißt mit letzter Kraft. Schwarze Hautfetzen und weißes, fasriges Gewebe wirbeln um dich. Dann klappt die Welt zusammen, die kühle Wal-Zunge, ein unendlicher Gaumen, ein Muskel, ein Sog.

Nicht alles von dir zersetzt sich. Dein Schnabel ist unverdaubar; und so stichst du in den Pylorus, kämpfst dich in den Darm, bohrst dich dort in die Flora und gerade, als du an Rache zu glauben beginnst, bildet sich um dich eine Substanz, die dich einbalsamiert. Alles klebt an dir. Du verklumpst.

Tage, Wochen, Monate verstreichen, während denen du zu einem immer größeren Brocken anwächst, dann würgt der Wal dich hervor; und es folgt eine zweite Ewigkeit, die du in einem Film aus Erbrochenem an der Wasseroberfläche durch die Weltmeere treibst; und es lässt sich gut vorstellen, .

Apropos Moby Dick: An dem Wal hast du Spuren hinterlassen. Rings ums Maul. Abdrücke deiner Saugnäpfe. Sie werden vernarben und nur die werden sie zu Gesicht bekommen, die Wale trotz der Verbote jagen und harpunieren, mit dem Kopf achtern und auf den Rücken drehen, aufschlitzen und abflensen, köpfen und abschöpfen. Geschichten werden sie sich ausdenken von einem Seeungeheuer. Die werden sich eine Weile halten und du wirst dabei immer böser werden – Seeungeheuer wachsen beim Erzählen – doch schließlich werden sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Und dann, spätestens dann, wirst du nur noch in jenem Erbrochenen sein, was mit der Zeit auslüften, im Salzwasser hart, im Sonnenlicht hell und schließlich an Land gespült werden wird.

(2)

Geschnüffel. Knurren. Gekläff. Und dann begeistertes Bellen, das den Herrn, einen Menschen-Mann in giftgrünen Bermudas und La-Coste-T-Shirt mit gelbem Krokodil auf schwarzem Grund, herholen soll. Dieser will eigentlich weiterspazieren; er hält dich für einen Baumstumpf. Doch sein Tier gibt einfach keine Ruhe; also watschelt er doch zu dir: Aus der Nähe betrachtet siehst du aus wie ein Elefantenfuß.

Du spürst, wie ratlos er zu dir hinunterguckt; ein Baumstumpf bist du jedenfalls nicht.

Er kniet sich zu dir in den Sand; du bist kein Holz.

Er drückt auf dir herum; aber du bist auch kein Stein. Er zupft etwas von dir ab; du bist eine gräuliche, mit gelben Punkten und Streifen durchsetzte, zähe Masse. Außen spröde, innen ölig und weich. Was er abgezupft hat, zerreibt er und ein bouquethafter Geruch steigt ihm in die Nase. Vor seinem geistigen Auge flammt das Bild von schwarzen Locken auf, doch bevor er hineingreifen könnte, reißt ihn eifersüchtiges Gebell zurück. Er ermahnt sein Tier, zückt das Smartphone, schießt von dir ein Foto und jagt es durch Google googles.

Der erste Artikel, den er liest, läuft darauf hinaus, dass eine Mutter (38) eine Nadel in eine angeschwemmte Weltkriegsgranate steckt und explodiert. Alle anderen Artikel enden damit, dass irgendein bitterarmer uralter Fischer über Nacht zum reichsten Mann im Dorf wird. Zumindest sofern er nicht in den USA oder in Australien lebt. Denn dort stehen Wale unter so strengem Schutz, dass es sich mit ihnen ähnlich verhält wie mit Elefanten oder Krokodilen: Der Besitz ihres Fleisches, ihrer Stoßzähne, ihrer Knochen, ihres Leders oder ihres Haars ist verboten. Ganz zu schweigen vom Handel damit. Glück für den Kroko-Mann: In der EU giltst du gemeinsam mit Urin und Kot als auf natürliche Weise ausgeschieden. Und so wirst du, während dieser seinem Tier ein mit Diamanten besetztes La-Coste-Halsband bestellt, in eine Kiste gepackt, quer durch den Kontinent geschickt und dann in zwei Hälften geteilt:

(3.1)

Bereits Sindbad hat dich gekannt. Nachdem er auf seiner sechsten Reise Schiffbruch erleidet – der Kapitän verliert den Kurs, reißt sich den Turban vom Kopf, ein Sturm kommt auf und das Schiff zerschellt – strandet er auf einer Insel, von der man, wie sich später herausstellt, nur in einem unterirdischen Fluss und wundersamer Weise dadurch, dass man schläft, nach Sri Lanka entkommt. Doch bevor der Kaufmann von seinen Abenteuern erzählen kann, macht ihn jenes insulare Negativ halb wahnsinnig:

Überall Rubine und Perlen und allerlei Juwelen. Selbst der Sand glitzert und funkelt. Schönstes Aloenholz, sowohl chinesisches wie komoriner; – masn ghabt, dass Österreich ein Land voller Berge ist, dessen Töchter und Söhne von klein auf lernen, am Gipfel keine Milch zu trinken, oder, wenn sie am Gipfel Milch trinken, zumindest so langsam abzusteigen, dass die Magensäure die Milch nicht stocken lässt. Niemand, der hier aufgewachsen ist, kommt im Tal mit einem Kilo Butter im Bauch an, geschweige denn reagiert wie dein Wal einst. lautet deshalb die stolze Schlagzeile des Austrian Centre of Biotechnology, dem es gemeinsam mit der Universität Graz gelungen ist, Ambrein auf einem zur Gänze natürlichen Biosynthese-Weg zu entwickeln. Aus Germ. Hefe, Khamira, Levure.

Und das bereits 2019.

Unverständlich also, weshalb Thomas Fontaine, ausgebildet am Institut supérieur international du parfum, de la cosmétique et de l’aromatique alimentaire, dennoch Folgendes komponiert: Kopfnote Rosa Pfeffer, Mandarine und Bergamotte. Herznote Rose, Zimt, Weihrauch und Orangenblüte. Basisnote Vanille, Benzoe, Sandelholz und eben:

Du

In geheimem Verhältnis werdet ihr in ein Flakon gefüllt und habt zu warten – deine dritte Ewigkeit – bis es euch hinaufsaugt und durch den Zerstäuber hinaus in die Welt spritzt, auf dass du jenen Nebel, den ihr dort bildet, zusammenhältst und an seinen Bestimmungsort führst: Menschenhaut. Frauen-Menschenhaut. Haut zweier Handgelenke. Haut einer Kehle. Von unsichtbarem Flaum bedeckt, von so feinen Poren durchsetzt, dass die winzigen Tröpfchen, die ihr hier bildet, geradlinig darauf abrollen. Und so dünn, dass du ihren Herzschlag spürst. Dann bebt sie, die Welt, und erhitzt sich. Weil sie sich euch aufgelegt hat? von Lubin Paris. Jedenfalls dringst du mit der Hitze in sie ein. Du verbindest dich mit ihr, beziehst dich auf ihre Vergangenheit und gibst ihr damit eine Zukunft: Alexa. In wenigen Jahren wird sie Drohnenpilotin bei der US Air Force werden.

(3.2)

Deine andere Hälfte nimmt den Weg, der für deinesgleichen bestimmt ist, seit dich Johannes Hartlieb, Schwabe, Antisemit, Magier und Schoßhund des ersten aller ersten Humanisten Nikolaus von Kues, in seinem Kräuterbuch

die hochst erznei zu dem herzen

nannte. Also verbrannte man dich. Gemeinsam mit Weihrauch. Oder als kostbare Kerze. Lutschte dich als Pastille. Oder kippte dich in den Clairet, um sich geil zu machen.

Und auch heute noch landest du im von Gott geküssten Baden-Württemberg: Man zerbröselt dich und lässt dich dann drei Wochen in einer Ethanol-Wasser-Lösung auflösen, mazeriert dich, wie man sagt, zur Urtinktur. Als solche wirst du diluiert, sprich verdünnt, und zwar zu einer C-Potenz, ein Teil du, hundert Teile nicht du. Dann klopft man mit...



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