E-Book, Deutsch, Band 8, 340 Seiten
Reihe: Neue Reihe Sachbuch
Eichener Demokratie
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8438-0740-1
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Porträt einer Staatsform der Freiheit und Gleichheit. Entwicklung – Merkmale – Zukunft
E-Book, Deutsch, Band 8, 340 Seiten
Reihe: Neue Reihe Sachbuch
ISBN: 978-3-8438-0740-1
Verlag: marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Volker Eichener, geboren 1959, ist Sozialwissenschaftler, promovierte 1988 und habilitierte sich 1997. Er arbeitet seit 1999 als Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Düsseldorf. Er war Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, hielt Gastvorträge u. a. am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, an der University of California Los Angeles, an der Kanagawa-Universität Yokohama. Seine Bibliographie umfasst ca. 300 wissenschaftliche Veröffentlichungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. »Es gab niemals eine Demokratie, die nicht Selbstmord begangen hätte«; 2. Die Erzählung der Demokratie; 2.1 Formen der Willensbildung in politischen Gemeinschaften; 2.2 Naturwüchsige Formen der politischen Willensbildung in Urgemeinschaften; 2.3 Die Geburt der Demokratie in der Antike¸2.4 Die Theorie der komplexen Demokratie in der griechischen Antike; 2.5 Der Tod der Demokratie und ihre Wiedergeburt in den mittelalterlichen Städten und Reichen Europa; 3. Mehr als Wählen: Die Grundelemente der Demokratie; 3.1 Der Gesellschaftsvertrag: Die Produktion des Gemeinwohls; 3.2 Wider die Tyrannei der Mehrheit: Die Menschenrechte; 3.3 Die Gedanken sind frei: Freiheit von Meinung, Kunst und Wissenschaft; 3.4 Gegen Machtkonzentration und Machtmissbrauch: Die mehrdimensionale Gewaltenteilung; 3.5 Repräsentative Demokratie und beschränktes Mehrheitsprinzip; 3.6 Bollwerk gegen populistische Politik: Der Beitrag des Berufsbeamtentums zur Teilung der Gewalten; 3.7 Lobbyismus oder Pluralismus? Organisierte Interessen als Kanal der Interessenvertretung; 3.8 Die Bausteine der komplexen Demokratie; 4. Wie Demokratien sterben; 4.1 Mord oder Selbstmord?; 4.2 Demokratiemüdigkeit als Nährboden für Populismus; 4.3 Charismatiker und Psychopathen: Die Faszination der autokratischen Persönlichkeit; 4.4 Verlockende Autokratie: Warum Menschen immer wieder auf Autokraten hereinfallen; 4.5 Die Logik der Autokratie. Oder: Wie man ein Autokrat wird und es (eine Zeit lang) bleibt; 5. Herausforderung Globalisierung: Die Demokratisierung der Welt; 5.1 Der »political lag«; 5.2 Ernüchterung und Realismus; 5.3 Trotz allem: Chancen für eine globale Demokratisierung; 6. Die Digitalisierung beim Schopfe packen: Demokratische Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter; 6.1 Brauchen wir eine öffentliche »Deliberation«?; 6.2 Digitale Filterblasen und Echokammern?; 6.3 Die Kultur des Lügens; 7. Die Weiterentwicklung der Demokratie im 21. Jahrhundert; 7.1 Gut gemeint, aber nicht gut gemacht: Ungeeignete Rezepte; 7.2 Dem Kontrollverlust in einer komplexen Welt entgegenwirken: Foren bürgerschaftlicher Partizipation; 7.3 Die Demokratie verteidigen; 7.4 Die Demokratie leben
2. DIE ERZÄHLUNG DER DEMOKRATIE
»Wir beschwören euch bei den Göttern,
gebt den Städten keine Tyrannen!«
Herodot von Halikarnassos um 424 v. Chr.
Es war vor rund 2700 Jahren, als der griechische Dichter Hesiod eines der überzeugendsten Argumente für die Demokratie vorbrachte: Wenn ein Herrscher über die Macht verfügt, einen ganzen Staat zugrunde zu richten, dann ist es die logische Folge, dass die Bürger selbst die Geschicke des Staats in die Hand nehmen, um für Gerechtigkeit, Wohlfahrt und Frieden zu sorgen (Hesiod: Werke und Tage 29, 240 ff., vgl. auch Kõiv 2002: 145 f.). Dieses Argument hat bis heute nichts von seiner Kraft verloren. Autokraten neigen dazu, den Staat, an dessen Spitze sie sich setzen, zu ruinieren. Wir werden sehen, dass das nahezu zwangsläufig ist, denn es sind dieselben Eigenschaften, die jemanden befähigen, sich zum Autokraten emporzuschwingen, die auch die Katastrophe herbeiführen.
Demokratie heißt nicht, dass alle Entscheidungen, die getroffen werden, gut und richtig sind. Demokratie muss nicht heißen, dass politische Beschlüsse stets das Gemeinwohl hervorbringen. Demokratie muss noch nicht einmal bedeuten, dass sich stets der Wille der Mehrheit durchsetzt – wir werden noch sehen, dass es gute Gründe gibt, das Mehrheitsprinzip zu begrenzen. Aber Demokratie heißt, dass es nicht möglich ist, dass ein einzelner Mensch oder eine kleine Clique ein ganzes Land in den Ruin treiben.
2.1 Formen der Willensbildung in politischen Gemeinschaften
Der Mensch ist »seiner Natur nach ein gemeinschaftsbildendes Lebewesen« (???? p???t???? – ), hatte bereits Aristoteles erkannt. Menschen leben immer in mehr oder minder großen Gemeinschaften – Familien, Sippen, Dorfgemeinschaften, Städten, Staaten –, und wenn das so ist, dann müssen die gemeinschaftlichen Angelegenheiten irgendwie geregelt werden. Handlungen, die auf die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens abzielen, bezeichnen wir als »Politik«. Zum politischen Handeln gehören die Durchsetzung von Interessen, die Festlegung von Regeln zur Lösung oder Vermeidung von Konflikten, die Entscheidungsfindung und die Umsetzung von Beschlüssen. Den Grad, zu dem man in der Lage ist, seine Interessen durchzusetzen und eine für das Kollektiv wirksame Entscheidung zu beeinflussen, bezeichnen wir als Macht. Politik ist untrennbar mit der Ausübung von Macht verbunden.
Grundsätzlich gibt es verschiedene Arten der Willensbildung innerhalb menschlicher Gemeinschaften, sei es im Staat, in einem Verein oder in der Familie. Die politische Philosophie der Antike unterschied im Wesentlichen drei Formen, wie über Angelegenheiten der Gemeinschaft entschieden wird:
1.Einer (oder Eine) entscheidet allein. In Bezug auf Staaten wurde das früher meist als »Monarchie« bezeichnet, von altgriechisch µ???? () = »ein« und ???? () = »Herrschaft«, zusammengesetzt zu µ??a???a () = »Alleinherrschaft«. Heute verstehen wir, etymologisch nicht korrekt, unter Monarchie das Königtum, gleich ob der König oder die Königin gewählt wurde oder durch Erbfolge an die Macht kam. Aber Alleinherrschaft kann auch mit anderen Titeln einhergehen, z. B. »Präsident«, »Staatsratsvorsitzender«, (Revolutions-)»Führer« oder (»Größter Führer«, ein Titel, mit dem der kubanische Präsident Fidel Castro bezeichnet wurde).
2.Eine kleine Gruppe fällt die Entscheidungen. Wenn einige wenige das Sagen haben (z. B. ein »Ältestenrat«, ein »Adel«, ein Parteikader), nennen wir das »Oligarchie«, von altgriechisch ?????? () = »wenige« und ???? () = »Herrschaft«, zusammengesetzt zu ????a???a () = »Herrschaft von wenigen«. Das antike Wort »Aristokratie« (???st???at?a) bedeutete dagegen wörtlich »Herrschaft der Besten«, dass nämlich besonders befähigte Personen ausgewählt wurden, um die Geschicke der Gemeinschaft zu lenken. Dass wir heute eine Adelsherrschaft als Aristokratie bezeichnen, ergab sich aus dem Lauf der Geschichte, als die Befähigung durch Abstammung ersetzt wurde.
3.Wenn alle (erwachsenen) Mitglieder eines Gemeinwesens oder zumindest alle Haushaltsvorstände an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, spricht man von »Demokratie«, von altgriechisch d?µ?? () = »Volk« und ???t?? () = »Herrschaft«, zusammengesetzt zu d?µ???at?a () = »Volksherrschaft«.
Häufig kommen Mischformen vor: Etwa, dass ein Alleinherrscher demokratisch gewählt wird, dann aber allein regiert. Oder, dass ein Alleinherrscher bei wichtigen Entscheidungen die Zustimmung eines oligarchischen Rats einholen muss. Oder, dass das Volk demokratisch eine Gruppe von Entscheidern wählt, wie es in unseren modernen parlamentarischen Regierungssystemen der Fall ist, die ein antiker Staatsphilosoph als Mischform aus Demokratie und Aristokratie bezeichnet hätte (weil sich das Volk ja die Besten als Repräsentanten wählt). Wenn alle an der Willensbildung beteiligt sind, kann die Art der Entscheidungsfindung durchaus variieren – relative, einfache, absolute, qualifizierte Mehrheit, Akklamation, Konsens, Einstimmigkeit. Auch hinsichtlich der Intensität der Herrschaft kommen unterschiedliche Grade vor, und zwar unabhängig davon, wie viele an der Entscheidungsfindung beteiligt sind:
•Mit »Autokratie«, von altgriechisch a?t?? () = »selbst« und ???t?? () = »Herrschaft«, zusammengesetzt zu a?t????te?a () = »Selbstherrschaft«, bezeichnen wir eine Herrschaft einer einzelnen Person oder einer Personengruppe, die keinen ernsthaften verfassungsmäßigen Beschränkungen unterworfen ist (bzw. sich die Verfassung selbst zurechtlegen kann) und die sich durch pure Machtausübung selbst legitimiert. Autokratien gehen aus Demokratien hervor, indem der oder die Herrscher sukzessive Macht an sich reißen, verfassungsmäßige Beschränkungen außer Kraft setzen und sich von der demokratischen Legitimation unabhängig machen, indem sie z. B. Wahlen manipulieren oder sich durch Beseitigung von Kritikern und Konkurrenten Mehrheiten verschaffen.
•Von »Diktatur« (von lateinisch = »ansagen«) sprechen wir, wenn der Herrschende oder die Herrschenden den Beherrschten ihren Willen aufzwingen können, ohne auf deren Meinung, dritte Instanzen oder verfassungsmäßige Beschränkungen Rücksicht nehmen zu müssen. Eine Diktatur ist damit eine verschärfte Form der Autokratie.
•Herrscht jemand besonders willkürlich und schrankenlos, bezeichnen wir ihn als »Despoten«, von altgriechisch desp?t?? () = »Herr«.
•Kommen auch noch Gewalt und Unterdrückung der Beherrschten hinzu, sprechen wir von »Tyrannei«, von altgriechisch t??a???? () = »Gewaltherrschaft«.
Für die Zwischenstufe von Herrschern, die zwar durchaus demokratisch gewählt sein können, aber dennoch so viel Macht haben, dass sie autoritär und ziemlich unumschränkt regieren können, hat die englischsprachige Politikwissenschaft den Begriff eingeführt (Lai/Slater 2006). Immerhin sind auch schon deutsche Bundeskanzler (Konrad Adenauer, Helmut Kohl) auf internationalen Listen von gelandet, ebenso wie einigen Frauen (Indira Gandhi, Margaret Thatcher) die zweifelhafte Ehre zugesprochen wurde, den vollkommen ungegenderten Titel zu erhalten (Wikipedia 2022a, b). Die langjährig starke Position der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich gelegentlich mit einsamen Entscheidungen über die Mehrheitsmeinung in ihrer eigenen Partei und die Regierungskoalition im Bundestag hinwegsetzte (»alternativlos«), hat dann schließlich dazu geführt, dass auch die Bezeichnung geprägt wurde (Greenstein/Tensley 2016).
Alle denkbaren Spielarten und Mischformen der politischen Organisation finden wir nicht nur auf der Ebene von Staaten, sondern auch in der Mikropolitik kleiner Gemeinschaften, seien sie formell organisiert (wie eingetragene Vereine,...