E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Ehlert Palo Santo
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3576-6
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Eine Geschichte von Liebe und Freiheit, wippenden Palmen und dem Gefühl, die absolute Gegenwart ist jetzt oder nie!
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3576-6
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sascha Ehlert, Jahrgang 1987, ist Gründer der Popkulturzeitschrift Das Wetter - Magazin für Text & Musik, die er seit 2013 leitet. 2014 hat er den Korbinian Verlag mitbegründet und dort als Co-Herausgeber über 20 Bücher betreut. Er schreibt für Zeitschriften und Zeitungen über Musik, Literatur, Kunst und Film - unter anderem für die taz, FAS und Die ZEIT.
Autoren/Hrsg.
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Erste Szene
Wilmersdorf
(2027)
Während der gelbe Zug den Bahnhof Nollendorfplatz verließ und in das sandige Gebälk von Golos Geburtsort hineinrollte, begannen die Edibles zu wirken. Hedi hatte sie heimlich aus Los Angeles mitgebracht und dann zu seiner Überraschung hervorgezaubert, als sie in der Austernbar des KaDeWe Lobster Roll und Sekt bestellt hatten. Es gab keinen besonderen Grund zum Feiern, und es war auch gerade erst Mittag. Allerdings hatten sie einen Genussgutschein und den Wunsch, ihre Ferien ein wenig zu verlängern. Der Alltag würde sie früher oder später von ganz allein einholen.
Golo trug heute seinen neuen Hut. Er hatte den Stetson in Los Angeles auf dem Sunset Boulevard in einem kleinen Geschäft gekauft, das ganz wunderbar nach altem Leder und irgendwie harzig gerochen hatte. Golo war jemand, der den richtigen Kleidungsstücken eine große Bedeutung beimaß. Es ging ihm nicht nur darum, gut auszusehen. Er war wirklich der Überzeugung, seine geistige Verfasstheit durch das Tragen ausgewählter Akzente positiv zu beeinflussen.
Hedi war es peinlich, dass ihr Mann hier mit einem Cowboyhut Austern schlürfte. Dass Golo modisch aufgeschlossen war, liebte sie. Und der leicht verwitterte und knittrige Vintage-Stetson aus schwarz gefärbter Wolle mit einer roten und einer blauen Feder hinterm ledernen Hutband war natürlich ein besonderes Stück, das verstand sie schon. Aber man setzte Hüte nun mal beim Betreten eines Lokals ab, und überhaupt fand Hedi, dass sein Kopf zu klein war für das Ding. Aber wie sollte sie das Golo sagen? Er war ja offenbar völlig verschossen in seinen neuen Deckel. Dieses Gefühl würde Hedi ihm nicht nehmen, wohl wissend, dass sein Selbstvertrauen eine besonders zarte Blume war. Sie verdrängte also den Gedanken und kramte stattdessen ein kleines Papiertütchen aus der hinter dem Reißverschluss versteckten Geheimtasche ihrer Jacke hervor.
Golo erkannte gleich die mit Weed versetzten Gummibärchen, die sie das erste Mal probiert hatten, als sie zu zweit unter Palmen und kopulierenden Eichhörnchen auf einer Tischtennisplatte in West Hollywood im Schneidersitz gesessen hatten. Sie hatten damals kaum gesprochen, aber viel gelächelt und gegluckst, während im Hintergrund das ewige Rauschen des Sunset Boulevard an ein gefährliches Draußen gemahnte.
Die Erinnerung an die Leichtigkeit jener Ferien hatte Golo unendlich lieb gewonnen. Einerseits, weil er sich in diesen Minuten oder Stunden auf der Tischtennisplatte als ganz und gar verbunden mit Hedi erkannt hatte. Andererseits, weil er sich für die Dauer seines Highs so intensiv wie nie zuvor als Teil eines großen Ganzen gespürt hatte. Die Gummibärchen, die Eichhörnchen, die Palmen, die Tischtennisplatte, sein Körper. Sie gehörten alle zusammen. Er dachte, so müsse der Himmel sein. Sein altes Dasein, in dem er in schmerzhafter Regelmäßigkeit Attacken der Scham, der Einsamkeit und der Isolation zu überstehen hatte, war Geschichte – so zumindest hatte er es damals in West Hollywood empfunden. Golo war, so glaubte er, endlich nicht mehr allein in der Welt. Als er einen halben Tag später neben Hedi aus einem Traum aufgewacht war, war er so unendlich glücklich gewesen.
Ein Zustand, der nicht lange anhalten konnte – ihr Leben in Deutschland wartete ungeduldig auf sie. Und mit Deutschland kam auch der Durchfall, der Golo in Berlin immer dann heimsuchte, wenn er sich auch nur ansatzweise glutenhaltig ernährte oder Alkohol trank oder wenn er einfach nur einen schlechten Tag hatte.
Immerhin ging es ihm heute ausnahmsweise ausgezeichnet. Am Morgen hatte die Sonne geschienen, Hedi hatte ihn eingeladen, und so saßen sie mit gut gefüllten Bäuchen und beseelt vom Schaumwein nebeneinander in der U4 und hielten einander an den Händen, als ihr Leben aus der scheinbaren Sicherheit herauskatapultiert wurde.
Golo bemerkte, wie sein Zeitgefühl zerlief, sich ein Noise-Cancelling-Filter auf die Welt legte. Er sah Hedi an, die Anstalten machte, aufzustehen. »Warte«, dachte oder sagte Golo: »Viktoria-Luise-Platz!« Hedi war aber bereits aufgesprungen und griff nach seiner Hand. »Natürlich folge ich ihr«, raunte er sich selbst zu. Immer öfter war sich Golo nicht sicher, ob er seine Gedanken tatsächlich mit seinen Lippen zu Worten formte oder ob nur er sie hören konnte.
Dann geschah etwas – in der Sekunde, in der seine und Hedis Füße den Bahnsteig berührten. Golo konnte von einem Moment zum nächsten nicht mehr behaupten, dass er noch er selbst war. Er fühlte, wie sein Herz in seiner Brust schlug. Er legte den Mittelfinger auf seine linke Brustwarze. Er konnte sie unter seinem schwarzen T-Shirt spüren. Sie fühlte sich fest an. Darunter, dachte er, hatte sich ein Druck aufgebaut. Seit Jahren kehrte diese Spannung in seiner Brust immer wieder. Bisher hatten die Ärztinnen und Ärzte, die er dann und wann aufsuchte, ihn jedes Mal weggeschickt. »Komm wieder, wenn du vierzig bist.«
Es roch nach alter Luft. Der Bahnsteig war leer und er empfand das Licht als ungewöhnlich warm. Golo folgte den Beschriftungen, die zurück an die Oberfläche führten. Er schaute nur geradeaus, nach vorne, nicht auf seine Füße, nicht nach hinten, nicht zur Seite. Dann kam das Tageslicht. Berlin ist nicht Los Angeles, aber an einem der späten Wintertage, an dem Helios endlich wieder den Himmel über der Stadt dominiert, war es hier schon aushaltbar. Und Berlin war nun mal seine Geburtsstadt. An sie war er auf eine intuitive Weise gebunden, für die es nicht die passenden Worte gibt, fand Golo. Dann wurde sein Bewusstsein davongespült.
Er kehrte in seinen Körper zurück, als Hedi ihn die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufzog. Auf einen Schlag war er wieder da und total high. »Wirkt es bei dir noch nicht?«, fragte er Hedi. Sie fühlte sich zwar etwas leichter, ihr Gang kam ihr selbst federnder vor als sonst, aber ihre Gedanken waren glasklar. Auf dem kurzen Fußweg vom U-Bahn-Ausgang zum Gründerzeithaus, das Golo und sie seit inzwischen bestimmt fünf Jahren bewohnten, hatte sich in ihr ein nagender Selbstzweifel festgesetzt. Jetzt, nach der Rückkehr aus den Ferien, müsste sie beginnen, sich an ein neues Projekt zu wagen. Eigentlich hatte Hedi, seit sie für ihr Studium Berlin zum ersten Mal verlassen hatte, immer eher zu viele als zu wenig Ideen mit sich herumgeschleppt. Erst hatte sie Kurzfilme gedreht, dann zwei achtzigminütige Dokus. Nun war es an der Zeit, dass sie sich an ihren Lebenstraum wagte. Einen Spielfilm, gedreht irgendwo anders, Hauptsache nicht im gruseligen Deutschland, das sie überhaupt nur noch von Berlin aus ertragen konnte.
Auf das Land, in dem sie geboren war, schaute sie mit anschwellender Verachtung. Obwohl sie natürlich wusste, dass düstere Gefühlsregungen niemals eine Lösung waren. Parallel dazu wuchs in ihr die Angst vor einem großen Krieg, den sie dieses Mal nicht, wie bisher, lediglich betroffen und aus der Ferne betrachten würde. Hedi war davon überzeugt, dass der kommende Krieg einer war, der sie auch körperlich anbelangte. Müssten Menschen, die wie sie das bevorstehende Unheil erahnten, nicht jetzt rebellieren, gegen die spaltenden, die hetzenden Fratzen in den sozialen Netzwerken und ihre Pendants in den verbliebenen Zeitungen? Bevor es zu spät war? Kunst zu schaffen, die die Wirklichkeit hinterfragte und dann genau hinsah, wenn die meisten wegschauten, was sollte das überhaupt? Was konnte es ausrichten, wenn der Zeitgeist dem Krieg entgegenstrebte?
»Und jetzt haben sie auch noch angefangen, einander abzustechen, die Linken und die Rechten. Es wird nicht gut enden, Golo, ich sag es dir.« Hedi war übergangslos von ihren Gedanken in ein Gespräch mit Golo übergegangen, der wiederum bei ihren Worten seinen rasenden Herzschlag spürte. Waren Hedis unheilvolle Befürchtungen oder das kleine Gummitierchen dafür verantwortlich? Welches Tier war es gewesen? Ein Elefant? Ein Dino? Oh Gott! »Hedi, mir geht es nicht gut.«
Golo musste sich hinlegen. Ohne die Jacke und Schuhe auszuziehen, schlich er in das Schlafzimmer. »Ich habe gelesen, dass die Deutschen sich ihre größten Sorgen seit ein paar Monaten nicht mehr um den Zustrom von Geflüchteten machen. Jetzt ist es der Atomkrieg. Und den Leuten hier, wenn diese tief sitzende Lust, sich vor der Apokalypse zu fürchten, erst mal ausbricht, dann ist denen doch alles zuzutrauen.« Hedi hatte die Jacke abgelegt und sich ihre Schlappen angezogen. Sie stand schnurgerade im Türrahmen, während er bereits, alle viere von sich gestreckt, auf dem Bett ruhte. »Hedi, ich hab Angst vor einem Herzinfarkt. Können zu viel Edibles das Herz explodieren lassen?« Er suchte in ihrem Gesicht nach Mitgefühl, aber Hedi war noch nicht fertig. »Ich glaub, nur Filmemachen reicht in so gefährlichen Zeiten nicht. Ich muss, ich weiß nicht, ich glaub, ich muss …« Hedis Augen wurden glasig.
Sie starrte an die Decke, während Golo ihre knubbelige Nase fixierte, die er so liebte. Seine Hände ruhten auf seiner nervös rasenden Brust. »Golo, ich muss etwas machen«, fügte sie hinzu. »Flugblätter verteilen, von Haustür zu Haustür gehen, Menschen dazu bringen, mit mir gemeinsam irgendetwas zu unternehmen. Sonst...