Buch, Deutsch, Band 20, 168 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 205 mm
Reihe: Caracol Prosa
Eine Erzählung aus Zürich
Buch, Deutsch, Band 20, 168 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 205 mm
Reihe: Caracol Prosa
ISBN: 978-3-907296-44-8
Verlag: Caracol Verlag der Autorinnen & Autoren
Auf dem Turbinenplatz in Zürich werden Joshua und Jonas Zeugen eines Verkehrsunfalls: Ein Radfahrer verletzt eine junge Frau so schwer, dass sie mit einem Schädelhirntrauma ins Spital eingeliefert wird. Maryam verliert aufgrund des Unfalls vorübergehend ihre Stimme, was für die Gesangsstudentin fatal ist. Als Joshua und Jonas Maryam besuchen, entsteht sofort ein Band zwischen den dreien. Noch ahnen sie nicht, wie eng ihr Leben tatsächlich verknüpft ist.
Die Erzählung umfasst das Jahr 2025, in Jahreszeiten gegliedert, und spielt an verschiedenen Orten in Zürich, wobei der Kreuzgang des Zürcher Großmünsters eine zentrale Rolle einnimmt. Sieben Streiflichter in anderen Kreuzgängen Europas schliessen den Kreis der Geschichte.
Verbunden werden die Protagonist*innen durch eine imaginär wirkende Figur, den Revenant. Letztlich unfassbar, vereint er Leben und Tod in sich, Schicksal und Gnade, sieht in allen, denen er begegnet, das Menschliche, Verwundbare. Er ist sowohl eine Figur der Peripherie, eine Präsenz im Augenwinkel, ein orientalisch-würziger Duft in der Nase, als auch Angelpunkt der Kernaussage der Geschichte: Toleranz und gegenseitiger Respekt sowie Aufrechterhaltung der Hoffnung.
Autoren/Hrsg.
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Sommer
Sie beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, obwohl sie nach den drei Stunden Gesang müde war. Aber sie war auch zufrieden. Der Abendverkehr belebte die Straße, zwei Motorradfahrer johlten ihr zu, stillsitzende Autofahrer in ihren verkehrsblockierten Gehäusen, eilende Passanten; ein Sommerabend, der ganz dem Moment des Straßengeschehens und der eigenen Beglückung gehörte – nicht den bedrückenden Bildern der Kriegsschauplätze, nicht dem täglich enervierenden Zoll-Geplapper und den verzweifelten wirtschaftspolitischen Einordnungen in den News-Kanälen.
Maryam fand sich am Escher-Wyss-Platz wieder. Es war heiß. Sie schlug die Richtung zum Sphères ein. Belebt wie immer. Sie setzte sich an einen freien Tisch, trank einen kühlenden Eistee, schaute anschließend Neuerscheinungen an, kaufte kein Buch.
Und dann überkam sie der Drang, an den Ort zurückzukehren.
Der Turbinenplatz war der Hitze ausgesetzt, nur wenige Passanten, die flanierten, miteinander im Gespräch waren, auf den Holzanlagen saßen. Auch sie setzte sich. Auf den niedrigen Steinaufsatz. Unter ihren Füßen in den leichten Sommerschuhen der harte Boden. Hier war es gewesen. Im Winter. In der Kälte. Hart, schmerzhaft, dann die Wärme, die sie ins Leben zurückgeholt hatte. Nichts war vergessen. Es war weder Angst noch Erleichterung in ihr. Sie spürte gar nichts außer der Sonne, die mit Kraft auf sie schien. Sie schloss die Augen. Der Fahrradfahrer erschien nicht. Er war ein böser Traum, der verblasste. Ihr Leben kehrte mehr und mehr zurück.
Ein tiefes Glücksgefühl überkam sie.
Sie beschloss, noch nicht nach Hause zu gehen. In der Wohngemeinschaft war an diesem heißen Sommerabend wohl auch niemand da, um zusammen zu kochen oder etwas zu trinken. Sie ging zur Tramstation und fuhr bis zum Central zurück. Dann schlenderte sie das Limmatquai entlang, sah in die golden tanzenden Wasserkringel des Flusses. Sie stieg die Stufen zum Großmünster hinauf, ging über den einen Platz, dann über den zweiten, verstellt von Baugittern. Vielleicht sollte ich mehr über Zwingli lesen, dachte sie. Seine Zeit war auch unsicher, eine des Umbruchs. Die Gittertür war verschlossen. Sie hatte das erwartet, war aber trotzdem enttäuscht. Auch die Kirche war verschlossen. Dann eben nicht, Herr Zwingli, dann ein anderes Mal, sagte sie lautlos. In der Oberdorfstraße waren viele Menschen, die spazierten, tranken, aßen. Und dann war er da, dieser Blick in ihrem Rücken. Sie drehte sich um. Sie sah ihn einige Meter von ihr entfernt stehen. Er lächelte ihr zu. Er winkte, ein Abschiedsgruß. Warte, wollte sie rufen, und doch rief sie nicht, eine Gruppe Menschen schob sich zwischen sie und ihn – und dann konnte sie ihn nicht mehr sehen.




