E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Egge Tilas Farben: Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96045-116-7
Verlag: Atelier im Bauernhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-96045-116-7
Verlag: Atelier im Bauernhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Überraschend und geheimnisvoll ist alles in diesem Roman über die Malerin Ottilie Reylaender, die 1882 in Wesselburen geboren wird, als Sechzehnjährige in Worpswede, zusammen mit Paula Becker und Clara Westhoff, das Malen lernt und Rainer Maria Rilke trifft. Sehr eigenständig sind ihre frühen Bilder, voller Mut und Ausgelassenheit, wenn auch geprägt von dem melancholischen Grundton der Landschaft des Teufelsmoors.
Doch schon bald macht sich Tila auf den Weg, geht nach Paris, München und Rom und wandert schließlich, einer Liebe wegen, 1910 nach Mexiko aus. Mit dem polnischen Glasmaler Bogdan von Suchocki durchstreift sie das Land, die Hochebenen und Städte und entdeckt das andere Licht, ihre Farben. Eine wunderbare Reise durch ein Labyrinth voller Lust und Aufmerksamkeit.
Heiner Egge nähert sich dem abenteuerlichen Lebensweg dieser Frau auf seine Art und Weise: als Spurensucher und Fährtenleser, als Entdecker einer Malerin, die auch heute noch jung und gegenwärtig ist.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel: Worpswede
Als ich vor sechs Wochen, es war der 29. April, hier eintraf, klebte ein kleiner Zettel an der Tür: Bin gleich Zurück, stand darauf. Sonst nichts. Aber ich wusste ja, wo ich suchen musste, ging hinter die Hütte und hob den Blumentopf hoch. Der Schlüsselanhänger war aus Messing, blankgerieben. Ein archaischer Frauenkörper. Heimatlos. Er konnte alles sein: Mutter, Indiomädchen, Gesche mit der Hand vor den Augen, Göttin, Glücksbringerin, Ahnenfigur. Ich nahm ihn an mich. In den hohen Kiefern, die bis an die Dorfwolken heranreichten, saßen die Tauben und gurrten, als ob sie mich nicht sähen. Ich öffnete das Vorhängeschloss, nahm den Riegel von der Krampe. Erst hinter dieser Brettertür befand sich die eigentliche Haustür, das Entree, fein gearbeitet mit Ornamenten und einem kreisrunden Fensterloch in der Mitte, rot umrandet. Drinnen war nicht aufgeräumt. Bin gleich Zurück. Ich nahm alles in Augenschein. Linkerhand: die Couch mit der indianischen Decke. Zeitungen lagen darauf, Papiertaschentücher, eine abgeknickte Blume (Nelke oder so), jede Menge Bleistifte, viele davon abgebrochen. Warum musste ein Mensch so viele Bleistifte besitzen? Und brach sie dann ab, und hatte keinen Anspitzer? (Ich habe mein Taschenmesser immer dabei.) Außerdem: ein Wollknäuel, ein Stempel ohne Kissen, Zigaretten, einzelne Streichhölzer, ein Taschentuch mit Sonne und Mond, Hammer und Nägel, ein Kamm, ein Briefblock und ein großer blauer Locher, und das alles auf der Decke mit den mexikanischen Mustern. Liegen konnte auf dieser Couch niemand mehr. Darüber befand sich ein winziges, vergittertes Fenster, in der Ecke ein Regal mit Büchern, mit Muscheln und Steinen. Rechterhand: ein kleiner runder Tisch. In einer Keramikvase Tulpen, die auf Wasser warteten. Zwei zierliche Korbstühle, einer mit einem Kissen, das man schnell zum Lieblingskissen erwählen könnte. Auf dem Fußboden das Telefon, weinrot, aber nicht mehr mit Wählscheibe. In der Mitte des kleinen Raumes: die Leiter. Sie führte steil nach oben, wohin, sah man nicht. Die Luke war knapp bemessen. Weiße Federbetten quollen über den Rand. Es roch nach Tila, nach frisch geschnittenem Zedernholz; ich erinnerte mich. Als ich mich an der Leiter vorbeigeschlängelt hatte, fand ich in der Küche, die sich im hinteren Raum des winzigen Hauses verbarg, eine Schale mit frischem Obst. Selbst Feigenkakteen hatte sie hineingelegt. Ich berührte alles nur mit den Augen. In den Schubladen lagen die Tuschkästen, kleine Skizzenblöcke. Das Gästebuch musste erst noch angelegt werden. Ach, ich war müde. Obwohl ich nur eine kurze Reise hinter mir hatte: immer nur nach Nordosten. Die letzten Kilometer war der Zug, den sie hier Moorexpress nannten, durch flachen Bodennebel gefahren. Umsteigen hatte ich nicht müssen. Vorsichtig fing ich an, die Leiter hinaufzuklettern. Die Sprossen waren rund und aus hartem Holz. Ich schob den Kopf durch die Luke. Das Bett war halb aufgeschlagen. Bin gleich zurück. Ich horchte, aber alles blieb still. Vorsichtig trat ich den Rückzug an, schweigend. Mit wem auch hätte ich reden sollen? Halb elf; ich wollte nicht mehr warten. Bevor ich die Hütte verließ, klebte ich einen kleinen Zettel unter den anderen: Bin zum Weyerberg. Der Weyerberg ist gar kein Berg, sondern nur ein nach oben gewölbtes Feld, schlechter, sandiger Boden. Der Mais würde dort nicht sehr hoch wachsen. Früher baute man auf solchen Äckern Roggen und Kartoffeln an, oder überließ das Feld Sandbirken, die sich von alleine aussäten. Sandig war der Weg, auch gabelte er sich. Alle Wege tragen hier Dichternamen, weil sie manchmal von Dichtern begangen wurden in dunstiger Ferne. Aber zum Glück sind es Feldwege geblieben, den Göttern sei es gedankt. Wer mir entgegenkam, den grüßte ich. Zeit meines Lebens bin ich ein Jäger gewesen. Ich habe dadurch einen anderen Blick erhalten: Ich sehe, wo der Hase läuft. Wer das Gras geglättet hat in der Nacht. Wo die Lerche brütet. Der Tag wurde warm. Mir war nach einer Pause, einer großen Mittagspause. Mochte mich ausstrecken, lang machen, nahm die mittlere der Bänke. Warm war das Holz in meinem Rücken. Ich schlief ein, ohne zu merken, dass ich schlief. Als ich erwachte, sah ich auf einer Kuppe ganz in der Nähe einen riesigen Steinhaufen, der sich aus dem Mittagslicht herausschälte, aber gleichzeitig in großer Gefahr schien, jeden Moment in sich zusammenzustürzen. Er erinnerte mich an die bröckelnden Tempelbauten der Azteken, der Mayas, der Inkas. Ein Volk fraß das andere. Auch wenn ich nie dort gewesen war, kam er mir in den Sinn, der Vogel, der die Flügel ausbreitete und sich zur Sonne erhob. Darunter lag das Torfmoor, lagen die blinkenden Wasserläufe, lag die immerwährende Schweigsamkeit der Bewohner. Ich richtete mich von meiner Bank auf. Mir war sehr warm geworden. Viel zu nah an die Sonne geraten, verbrannt das Gesicht. Hoher Mittag auf dem Weyerberg. Ein Schatten war schnell gefunden, zumindest ein Halbschatten. Etwas unterhalb des Monuments lagen ein paar Steinblöcke, als wenn jemand dort eine Treppe hatte bauen wollen. Dorthin setzte ich mich, allein mit meinen Gedanken, die wie kleine Frauen und Männer auf mich zuliefen. Manchmal fällt der Blick in etwas Tieferes, und man wundert sich. Dass ich Tila kennenlernte, war auch so ein Wunder. Sie hatte ihren Zug verpasst, und ich war eine halbe Stunde zu früh für meinen. Es gab nur eine Bank in dem Wartehaus neben dem Umsteigebahnhof. Sie hatte einen viel zu großen Koffer dabei. Ich las in einem seltsamen Buch. Wir sprachen nichts miteinander, saßen aber auf derselben Bank und wollten in dieselbe Richtung. Es fing an zu regnen, ganz leicht an zu regnen. Wir waren die einzigen Wartenden, jeder auf seine Weise. Wir hörten den Regen fallen. Ganz langsam, fast zeitlos, drehte ich meinen Kopf. Ich muss sie wohl sehr intensiv und auf meine eigenartige, nicht näher zu beschreibende Art angeguckt haben, denn nach etwa zehn Minuten sagte sie: „Wenn Sie vorhaben, in den nächsten Wochen eine Anzeige aufzugeben, unter ‚Kontakte‘ oder auch ‚Verloren/Gefunden‘, dann könnte ich Ihnen jetzt schon mal sagen, wie ich heiße.“ „Genau das hatte ich vor“, antwortete ich so schlagfertig, dass sie meine Überraschung nicht einmal im Ansatz erkennen konnte. „Und wie soll die Anzeige lauten?“ „Oh, ich bin noch dabei, sie zu formulieren ...“ Da lachte sie laut auf, dass ihre gesprenkelten Augen leuchteten, und sagte: „Das will ich Ihnen dann mal ersparen. Also, ich heiße Tila, bin 39 Jahre alt und will meine Urgroßmutter besuchen.“ „Urgroßmutter?“ „Ja, wen sonst? Aber vielleicht“, fügte sie hinzu, „habe ich mir ein bisschen zu viel Zeit damit gelassen.“ Nun hätte ich meinen Namen sagen müssen, aber auf die Idee kam ich gar nicht. Wer war ich denn überhaupt? Lieber fragte ich, indem ich auf ihren Koffer blickte: „Was ist eigentlich da drin?“ „Ach, nur etwas Papier und Farben, er wiegt gar nichts. Das ist alles, was ich von meiner Urgroßmutter besitze, der Rest hängt in den Museen der Welt.“ „Ihre Urgroßmutter war Künstlerin?“, wagte ich zu fragen. „Sie hat die Welt gesehen. Und was sie sah, hat sie gezeichnet und gemalt. Die Farben waren ihr heilig. Ottilie hieß sie.“ Ich nickte, hatte nun aber gar keine Augen mehr für das Gepäckstück, sondern nur für die Urenkelin, wie sie dasaß und auf die Uhr sah. Halb drei am Nachmittag, Wartehaus irgendwo hinter Gnarrenburg. Nette Augen, wilde kastanienfarbene Korkenzieherlocken, olivgrüne Jacke über verwaschenen Jeans, mexikanische Umhängetasche, eine Feder hinterm Ohr. Zu ihren (unseren) Füßen dieser zu große, rindslederne Koffer, zerkratzt und voller Furchen. Sie roch nach Zedernholz, nach weit, weit weg. Ich daneben: unrasiert, ohne Alter, ohne Namen. „Bekommt Ihre Urgroßmutter oft Besuch?“, wollte ich noch fragen, aber da fuhr unser Zug schon ein, der Moorexpress von Bremervörde nach Osterholz. Er bestand nur aus einem einzigen Wagen. Den Koffer trug sie mit zwei Fingern. Wir setzten uns möglichst weit voneinander entfernt, aber doch so, dass uns nichts entging. Draußen war nicht viel zu sehen. Schnurgerade Straßen, mit ebenso schnurgeraden Gräben daneben. Die Häuser waren klein, boten aber ein gutes Alibi, um interessiert zu tun. Da und dort stand eine Mühle in den Vorgärten. Das Gras war frühlingsgrün, erstes Vieh auf den Weiden. Die Bahnübergänge waren meistens unbeschrankt. Einmal rief sie zu mir rüber: „Wo kommen Sie eigentlich her?“ „Aus Wesselburen“, rief ich leise zurück. Da hob sie die Augenbrauen und hielt mich für einen Lügner. „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Warum nicht?“ Sie schob die Oberlippe über die Unterlippe und wurde nachdenklich. „Dort wurde meine Urgroßmutter geboren, 1882. Am 19. Oktober, nachmittags um drei, der Himmel war bedeckt.“ „Tatsächlich?“ „Ja. Ottilie Reylaender, Tochter des Königlichen Obergerichtsvollziehers Arthur Reylaender und seiner Frau Auguste Sophie. Getauft am 28. desselben Monats in der St.BartholomäusKirche zu Wesselburen in Holstein, nahe der Nordsee.“ „Aha“, antwortete ich und begrüßte den Zufall, der nun, in diesem aus der Zeit geratenen Moorexpress, zwischen uns Platz genommen hatte. „Dann stehen wir ja im gleichen Taufregister, Ihre Frau Urgroßmama und meine Wenigkeit.“ Nun kam Tila, ohne den Koffer zu vergessen, doch zu mir auf die Holzbank. Der Zug ging in eine...