Egan | Quarantäne | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

Egan Quarantäne

Roman

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

ISBN: 978-3-641-19158-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nachdem die Sterne erloschen sind ...
Am 24. November 2034 geschieht das Unfassbare: Eine riesige Barriere legt sich um unser Sonnensystem, und die Sterne erlöschen. Wir schreiben das Jahr 2068: Für den Privatdetektiv Nick Stavrianos ist der sternenlose Himmel bereits eine Alltäglichkeit geworden. Außerdem hat er andere Sorgen: Er muss die junge Laura finden, ein Mädchen, das trotz einer schweren Gehirnschädigung aus einem Pflegeheim entwischt ist. Die Spur führt nach Hongkong, ins Zentrum der Genforschung. Doch bevor er Laura findet, wird Nick selbst gefangengenommen und von skrupellosen Forschern programmiert. Und dann erkennt er, dass zwischen dem verschwundenen Mädchen und der Barriere ein unglaublicher Zusammenhang besteht ...

Greg Egan wurde am 20. August 1961 in Perth, Australien geboren. Er machte seinen Bachelor in Mathematik an der University of Western Australia und arbeitete danach als Programmierer. 1983 veröffentlichte er seinen ersten Roman, mit Quarantäne gelang ihm 1991 der internationale Durchbruch, sodass er sich seither hauptberuflich dem Schreiben widmet. Er befasst sich in seinen Romanen und Kurzgeschichten vor allem mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen und zeichnet sich vor allem durch sein beeindruckendes Fachwissen in diesen Bereichen aus. Greg Egan wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Kurd Lasswitz Preis, den Hugo Award und mehrere Seiun Awards. Er lebt und arbeitet in Perth.
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ERSTER TEIL


1


Einen Klienten, der mich im Schlaf anruft, darf man getrost als paranoid bezeichnen.

Nun ja, kein Mensch möchte, dass ein heikles Thema an einem gewöhnlichen Videophon abgehandelt wird. Selbst wenn es keine Wanzen im Zimmer gibt, so entstehen doch bei der Umwandlung des codierten Signals in Bild und Ton elektrische Streufelder, die noch einen ganzen Block weiter zu empfangen sind. Die meisten Menschen geben sich aber mit der üblichen Lösung zufrieden: eine kleine Modifikation des Gehirns, die es in die Lage versetzt, die Decodierung des Signals selbst vorzunehmen und geradewegs an die Seh- und Hörzentren weiterzuleiten. Mit dem Modul, das ich benutze, nämlich Chiffre (von Neuro-Comm, fünftausendneunhundertundneunundneunzig Dollar), kann man dem Anrufer sogar antworten, ohne tatsächlich zu sprechen: Ein virtueller Kehlkopf sorgt für optimale Sicherheit in beiden Richtungen.

Sollte man meinen. Doch auch das Gehirn hat seine kleinen, feinen Streufelder. Man nehme also einen supraleitenden Detektor – kaum größer als eine Schuppe im Haar –, hefte ihn dem Opfer unbemerkt an die Kopfhaut, und schon ist man im Bild. Problemlos lassen sich so die Nervenimpulse verfolgen, die bei dieser Art von ›Ersatz‹-Wahrnehmung durchs Gehirn wandern, und ebenso problemlos in die entsprechenden Bilder und Töne übersetzen.

Daher also Dreamer (von Axon, siebzehntausendneunhundert Dollar). Es dauert einige Zeit, bis die nötigen Vorarbeiten für dieses Modul erledigt sind; aber wenn so nach sechs Wochen das individuelle Schema erst einmal feststeht, nach dem das begriffliche Denken in Nervenimpulse umgesetzt wird (und umgekehrt), dann ist man auf die Sinnesorgane und ihre Vermittlertätigkeit nicht länger angewiesen. Was der Anrufer einem zu sagen wünscht, das weiß man einfach, ohne dass man überhaupt einen Sprecher – ob virtuell oder nicht – vor sich sieht und hört. Auf dieser Ebene der Gehirntätigkeit kann, unter normalen Umständen, von einem Abhören keine Rede mehr sein. Natürlich gibt es einen Haken an der Sache: Die meisten Menschen finden es im Wachzustand höchst störend, wenn sich fremde Gedanken einfach so in ihrem Bewusstsein kristallisieren – manche nehmen sogar Schaden daran. Deshalb sollte man besser schlafen, wenn man auf diese Weise telefoniert.

Mit Träumen hat es, trotz des Namens, nichts zu tun; ich wache einfach auf und weiß es:

Laura Andrews ist zweiunddreißig Jahre alt, einhundertsechsundfünfzig Zentimeter groß, fünfundvierzig Kilogramm schwer. Kurzes, glattes braunes Haar, blassblaue Augen, lange, schmale Nase, anglo-irischer Typ. Sehr schwarze Haut. Wie bei den meisten Australiern mit ungenügender UV-Toleranz hat man auch ihren Genen etwas nachgeholfen; nun lässt die Melaninproduktion in der verdickten obersten Hautschicht nichts mehr zu wünschen übrig.

Laura Andrews leidet an einem schweren, angeborenen Hirnschaden. Sie kann gehen, sie kann essen, aber sie kann weder sich nicht mitteilen noch irgendetwas von dem verstehen, was man ihr sagt. Die Ärzte sagen, dass sie von ihrer Umwelt wenig mehr wahrnimmt als ein sechs Monate altes Baby. Seit ihrem fünften Lebensjahr ist sie Patientin am hiesigen Hilgemann-Institut.

Vier Wochen ist es her, dass ein Wärter ihr ständig verschlossenes Zimmer öffnete, um das Frühstück zu bringen, und feststellen musste, dass sie verschwunden war. Man suchte im Gebäude, dann auf dem Gelände und rief schließlich die Polizei. Die suchte noch einmal, auch in der weiteren Umgebung, klopfte an alle Türen, um die Anwohner zu befragen – vergebens. In Lauras Zelle fand sich kein Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen, auch die Überwachungskameras hatten nicht die geringste Besonderheit aufgezeichnet. Die Polizei verhörte das Personal lange und gründlich, aber es fand sich niemand, der unter der Last eines etwaigen schlechten Gewissens zusammenbrach und gestand, das arme Mädchen weggezaubert zu haben.

Vier Wochen später noch immer keine Spur. Keiner, der sie gesehen hatte. Keine Leiche. Keine Lösegeldforderung. Die Polizei hatte den Fall offiziell noch nicht zu den Akten gelegt, doch schien alles getan. Man konnte es nur noch mit Abwarten probieren.

Manchmal ergab sich etwas beim Warten.

Meine Aufgabe soll sein, Laura Andrews zu finden und sicher ins Hilgemann-Institut zurückzubringen – oder wenigstens ihre Leiche zu finden –, sowie die nötigen Beweise zu besorgen, um die Verantwortlichen vor Gericht bringen zu können.

Mein anonymer Klient (Klientin?) vermutet, dass Laura entführt wurde, hüllt sich aber hinsichtlich eines Motivs in Schweigen. Im Augenblick habe ich kein Urteil, das ist nicht der Zustand, in dem man sich eine Meinung bilden kann: Hat man den Kopf voll mit Wissen, das einem auf diese Weise eingetrichtert wurde, dann sieht man die Sache zu sehr aus der Perspektive des Auftraggebers und geht womöglich irgendwelchen Lügen auf den Leim.

Ich öffne die Augen, schleppe mich mühsam aus dem Bett und hinüber zu dem Terminal in der Ecke des Zimmers. Ich habe es zum Prinzip gemacht, die finanzielle Seite niemals über Neuroinput abzuhandeln. Ein paar wenige Tasten, und ich sehe, dass man meinem Konto einen ausreichenden Honorarvorschuss angewiesen hat. Akzeptiere ich die Überweisung, dann bestätige ich dem Klienten, dass ich den Fall übernommen habe. Ich denke nach, ich muss die Einzelheiten noch einmal zurückrufen, ich muss wissen, was für einen Auftrag ich da übernehme: Es gibt immer einen Rest von Traumlogik bei solchen Telefonaten, ein Verdacht, dass man am Morgen erwachen und feststellen wird, dass alles nichts als Unsinn ist. Schließlich bestätige ich den Zahlungseingang.

Es ist eine heiße Nacht. Ich trete auf den Balkon und blicke auf den Fluss hinunter. Sogar früh um drei wimmelt es auf dem Wasser von Leuten, die sich vergnügen. Orange- und limonenfarben fluoreszieren die Segel der Windsurfer in der Dunkelheit; hin- und herzuckende Scheinwerfer von Zwölfmeterjachten strahlen heller als die Sonne. Auf den drei großen Brücken drängen sich Fußgänger und Radfahrer. Am östlichen Himmel, über dem Casino, blitzt und wirbelt die Leuchtreklame; gigantische Hologramme von Spielkarten, Würfeln, Champagnergläsern tanzen durch die Luft. Schläft denn keiner mehr in dieser Welt?

Ich blicke hinauf in den schwarzen, leeren Himmel und gerate, unerklärlicherweise, fast in Verzückung. Wir haben heute keinen Mond, keine Wolken, keine Planeten, und die einförmige Schwärze verweigert jederlei Anhaltspunkt, jederlei tröstliche Illusion über die Ausdehnung des Raums. Es könnte das andere Ende des Weltraums sein, worauf ich starre, es könnte auch die Innenseite meiner Augenlider sein. Ein Gefühl von Übelkeit und Schwindel steigt auf – kein Wunder, wenn Platzangst und die erneute Einsicht in die schlicht un-menschlichen Dimensionen der Barriere miteinander im Wettstreit liegen. Ich schaudere – sehr kurz, sehr heftig –, dann ist es vorbei.

Karen, meine verstorbene Frau, steht plötzlich neben mir auf dem Balkon. Auch diese Halluzination ist das Produkt eines Neuromoduls. Sie legt einen Arm um meine Hüfte und sagt: ›Nick? Was ist los?‹ Ihre Hand ist kühl, sie spreizt die Finger und streicht wie mit Spinnenbeinen über meinen Bauch. Fast hätte ich sie gefragt, ob sie jemals die Sterne vermisst habe. Aber ich lasse es sein. Das würde lächerlich sentimental klingen. Gut, dass ich mich gerade noch beherrschen kann.

Ich schüttle den Kopf. »Nichts.«

Das Grün auf dem Gelände des Hilgemann-Instituts ist so üppig und saftig, wie die Gentechnik – und ein leistungsfähiges Bewässerungssystem – es nur erlauben, auch wenn man im Hochsommer nichts als braune, vertrocknete Pflanzen erwarten sollte. In der Vormittagshitze glitzert der Rasen, als läge noch der Morgentau darüber; zweifellos wird er aus unterirdischen Leitungen ständig bewässert. Unter Bäumen, die irgendwie an Ahorn erinnern, schlendere ich den Weg zum Hauptgebäude entlang. Das Image, das man sich hier leistet, ist wirklich kostspielig. Ein so unbekümmerter Umgang mit Wasser muss bei den heutigen Preisen, die fast schon eine Strafe sind, mit astronomischen Summen zu Buche schlagen. Dabei sollen sie sich in den nächsten Monaten verdoppeln. Die dritte Kimberley-Pipeline, die das Wasser von den Stauseen zweihundertfünfzig Kilometer weiter im Norden hierher transportieren soll, ist inzwischen schon viermal teurer als geplant geworden. Die Pläne für eine Entsalzungsanlage sind auf Eis gelegt, wieder einmal – vermutlich hat eine Überschwemmung des Markts für Meeresmineralien dem Projekt den Todesstoß gegeben.

Der Weg mündet in eine kreisförmige Auffahrt, die ein Rondell umschließt, ein einziges Meer von Blumen in allen Farben. Genmanipulierte Kolibris (Marke IS) schweben über den Blüten, schießen wieder davon; ich bleibe stehen und beobachte sie eine Weile. Nur zu gerne würde ich einmal erleben, wie einer der Vögel seine Programmierung vergisst und aus dem Rondell entflieht. Ein vergeblicher Wunsch, natürlich.

Das Gebäude ist aus Holzimitat gebaut, im Stil eines Hotels oder Rasthauses im Grünen. Hilgemann-Institute gibt es auf der ganzen Welt, obwohl man keinen Menschen dieses Namens finden wird, der dafür verantwortlich zu machen wäre. Jedermann weiß, dass International Services seinen Marketingberatern ein kleines Vermögen bezahlte, damit sie den bestmöglichen Namen für den Geschäftszweig ›Psychiatrische Einrichtungen‹ fanden. (Ob das Wissen um die Herkunft des Namens dem Geschäft schadet oder im Gegenteil...


Egan, Greg
Greg Egan wurde am 20. August 1961 in Perth, Australien geboren. Er machte seinen Bachelor in Mathematik an der University of Western Australia und arbeitete danach als Programmierer. 1983 veröffentlichte er seinen ersten Roman, mit Quarantäne gelang ihm 1991 der internationale Durchbruch, sodass er sich seither hauptberuflich dem Schreiben widmet. Er befasst sich in seinen Romanen und Kurzgeschichten vor allem mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen und zeichnet sich vor allem durch sein beeindruckendes Fachwissen in diesen Bereichen aus. Greg Egan wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Kurd Lasswitz Preis, den Hugo Award und mehrere Seiun Awards. Er lebt und arbeitet in Perth.


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