Roman
E-Book, Deutsch, 100 Seiten
ISBN: 978-3-641-19156-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In ferner Zukunft ist Unsterblichkeit nicht mehr unmöglich. Der menschliche Verstand kann gescannt und in eine künstliche Umgebung einprogrammiert werden. Das Ergebnis: Die 'Kopien', künstliche Menschen mit denselben Erinnerungen und Gefühlen wie ihre Vorbilder - jedoch abhängig von einem Computersystem. Paul Durham träumt von einer Zufluchtsstätte, einer Stadt für die 'Kopien', in der sie sicher und eigenständig leben können. Seine Vision könnte das ganze Universum verändern: Raum, Zeit, Materie und Evolution ...
Greg Egan wurde am 20. August 1961 in Perth, Australien geboren. Er machte seinen Bachelor in Mathematik an der University of Western Australia und arbeitete danach als Programmierer. 1983 veröffentlichte er seinen ersten Roman, mit Quarantäne gelang ihm 1991 der internationale Durchbruch, sodass er sich seither hauptberuflich dem Schreiben widmet. Er befasst sich in seinen Romanen und Kurzgeschichten vor allem mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen und zeichnet sich vor allem durch sein beeindruckendes Fachwissen in diesen Bereichen aus. Greg Egan wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt er den Kurd Lasswitz Preis, den Hugo Award und mehrere Seiun Awards. Er lebt und arbeitet in Perth.
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1
(Vergib nicht den Mangel)
November 2050
Sechs Tage hintereinander war Maria Deluca an dem stinkenden Loch mitten in der Pyrmont Bridge Road vorbeigefahren, und jedes Mal war sie, während sie näher kam, ganz sicher gewesen, dass sie diesmal eine Arbeitskolonne antreffen würde, die endlich nach dem rechten sah. Natürlich wusste sie, dass im Budget des Jahres kein Geld für Reparaturen an Straßen und Kanalisation vorgesehen war, aber der Bruch eines Hauptkanals war ein ernstes Gesundheitsrisiko für das ganze Viertel; sie konnte nicht glauben, dass man ein solches Problem einfach ignorierte.
Am siebten Tag war der Gestank bereits aus einer Entfernung von einem halben Kilometer so schlimm, dass sie in eine Seitenstraße abbog – entschlossen, einen anderen Weg nach Hause zu finden.
Diese Gegend von Pyrmont bot einen trostlosen Anblick. Nicht alle Lagerhäuser standen leer, nicht jede Fabrik war verlassen, aber abblätternde Anstriche und verwitternde Ziegel ließen alles öde und elend aussehen. Ein halbes Dutzend Blocks westwärts bog sie wieder ab – und fand sich vor einer üppigen Gartenlandschaft mit Marmorstatuen, Springbrunnen und Olivenhainen wieder, die sich unter wolkenlosem blauen Himmel bis zum Horizont erstreckte.
Maria beschleunigte, ohne zu überlegen. Für einige Sekunden glaubte sie fast, zufällig in einen Park geraten zu sein – eine versteckte Oase in diesem verfallenen Teil der Stadt, ein gut behütetes Geheimnis, auch wenn es noch so unmöglich war. Dann, als die Illusion zusammenbrach – weil es zu viele unübersehbare Fehler gab und weil es ohnehin nicht sein konnte –, fuhr sie starrsinnig weiter, als könnte sie so die Unvollkommenheiten und die Widersprüche verschwimmen lassen und aus der Welt schaffen. Gerade noch rechtzeitig bremste sie, schon auf dem schmalen Fußweg am Ende der Sackgasse, das Vorderrad nur Zentimeter von der Mauer eines Lagerhauses entfernt.
Aus der Nähe war die Wandmalerei nicht sonderlich beeindruckend; deutlich sah man die Pinselstriche, die Perspektive stimmte nicht. Langsam schob Maria sich rückwärts – sie musste sich nicht weit entfernen, um zu sehen, warum sie genarrt worden war. Aus einem Abstand von vielleicht zwanzig Metern verschmolz der gemalte Himmel tatsächlich mit dem echten; man musste sich anstrengen, wollte man die Grenzlinie im Auge behalten. Nur mit äußerster Konzentration war der feine Unterschied im Farbton zu erkennen. Es war, als sträubte sich irgendein Untersystem tief in ihrem visuellen Cortex, eine himmelblaue Mauer für unmöglich zu halten – als wäre es lieber bereit, sich der Täuschung zu ergeben. Noch weiter zurück verloren auch Gras und Skulpturen ihr zweidimensionales, gemaltes Aussehen – und an der Ecke, wo sie in die Sackgasse eingebogen war, da passte wieder alles, war die Illusion perfekt, so dass die breite Allee in der Mitte des Bildes dem gleichen Fluchtpunkt entgegenstrebte wie die jäh endende Straße davor.
Dies war die richtige Stelle, um das Kunstwerk zu betrachten, und sie blieb eine Weile stehen, das Fahrrad aufgebockt. Der Schweiß in ihrem Nacken war in der Brise angenehm kühl, und langsam begann die Morgensonne zu stechen. Dieser Anblick konnte einen in seinen Bann schlagen, und der Gedanke, wie viel Mühe der oder die Maler sich beim Verschönern ihrer tristen Umgebung gegeben hatten, hatte etwas Ergreifendes. Gleichzeitig fühlte sich Maria getäuscht. Von diesem Bild kurze Zeit genarrt zu werden machte ihr nichts aus. Schlimmer war, dass sie – sosehr sie sich auch bemühte – die Illusion nicht mehr heraufbeschwören konnte. Sie konnte hier stehen und das Kunstwerk bewundern, so lange sie wollte – aber nichts würde auch nur einen Funken jener Freude zurückbringen, die sie empfunden hatte, als sie noch getäuscht worden war.
Sie wandte sich ab.
Zu Hause packte sie die eingekauften Lebensmittel aus, dann nahm sie das Fahrrad und hängte es an den Haken an der Decke des Wohnzimmers. Ihr kleines Reihenhaus war hundertvierzig Jahre alt und hatte die Form eines Waschpulverkartons; zwei Geschosse hoch, aber kaum breit genug für eine Treppe. Die Reihe hatte ursprünglich aus acht dieser Häuschen bestanden; vier davon auf der einen Seite waren umgebaut, die Trennmauern entfernt worden, damit ein großes Architekturbüro darin Platz fand. Die drei auf der anderen Seite waren um die Jahrhundertwende abgerissen worden, als man eine Schneise für eine Straße schlug, die nie gebaut worden war. Das letzte Häuschen lag nun unter Denkmalschutz, und Maria hatte es für einen Bruchteil dessen kaufen können, was eine moderne Wohnung kostete. Die Enge und die merkwürdige Raumaufteilung gefielen ihr – wenig Platz, glaubte sie, hieß mehr Kontrolle, weil die Dinge immer in Reichweite waren. Der Grundriss war ihr vertraut wie ihre Westentasche. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas in diesem Haus verlegt zu haben. Sie hätte die Enge mit niemandem teilen können, aber für sie allein war es genau das Richtige. Außerdem war sie der Meinung, dass eine Wohnung in gewisser Weise wie ein Fahrzeug war, mit dem man sich nicht physisch, aber geistig fortbewegte. Und verglichen mit einer Ein-Mann-Raumkapsel oder einem U-Boot war das Platzangebot mehr als üppig.
Oben im Schlafzimmer, das gleichzeitig ihr Arbeitszimmer war, schaltete Maria das Terminal ein und überflog eine Zusammenfassung der Nachrichten, die seit dem letzten Mal in ihrem elektronischen Postkasten eingegangen waren. Einundzwanzig Anrufer hatten sich gemeldet, und alle Sendungen waren als »Reklame« eingestuft. Keine Nachricht von Freunden oder Bekannten und erst recht kein Angebot einer bezahlten Arbeit. Ihr persönliches Postfilterprogramm KAMELAUGE hatte sechs Spendenaufrufe für wohltätige Zwecke identifiziert (jeder wäre eine Spende wert gewesen, doch Maria konnte sich Mitleid nicht leisten), fünf Lotterien und Preisausschreiben, sieben Versandhauskataloge (die damit prahlten, speziell auf ihre Bedürfnisse und Wünsche zugeschnitten zu sein – aber KAMELAUGE hatte sie durchgesehen und nichts von Interesse finden können), drei Interaktiveos.
»Einfache« audiovisuelle Botschaften wurden allgemein in gebräuchlichen, leicht zu lesenden transparenten Datenformaten verschickt; Interaktiveos dagegen waren ausführbare Programme, in Maschinensprache codiert und verschlüsselt. Sie waren absichtlich so konzipiert, dass es leichter für ein menschliches Gegenüber war, mit ihnen zu kommunizieren, als von dessen Postfilterprogrammen überprüft zu werden. KAMELAUGE hatte alle drei Interaktiveos laufen gelassen (auf einem doppelt abgeschirmten virtuellen Rechner – der Simulation eines Rechners in einem simulierten Rechner) und ihnen vorzumachen versucht, dass sie mit der echten Maria Deluca zu tun hatten. Zwei von ihnen – Altersvorsorge und Krankenversicherung – waren darauf hereingefallen. Doch das dritte hatte irgendwie seine Umgebung erkannt und sich gegen weiteren Zugriff gesperrt, bevor KAMELAUGE etwas von Belang erfahren konnte. Theoretisch hätte KAMELAUGE das Programm dekompilieren und herausfinden können, was es gesagt hätte, wenn es auf KAMELAUGE hereingefallen wäre – aber das würde Wochen dauern. So blieb Maria nur übrig, es entweder ungesehen zu löschen oder sich persönlich damit auseinandersetzen.
Maria startete das Interaktiveo. Das Gesicht eines Mannes erschien auf dem Bildschirm. »Er« blickte in ihre Augen und lächelte freundlich, und plötzlich war ihr, als wäre da eine gewisse Ähnlichkeit mit Aden. Genug Ähnlichkeit, damit sie für einen kurzen Augenblick mit einer winzigen Veränderung der Mimik reagierte? Eine Reaktion, die ihre von KAMELAUGE erzeugte Softwaremaske nicht gezeigt hätte? Maria wusste nicht, ob sie sich ärgern oder so viel Raffinesse bewundern sollte. Sie und Aden hatten nie eine gemeinsame Wohnung gehabt – aber ganz ohne Frage hatten Datenanalyse-Agenturen gleichzeitig die in ein und demselben Restaurant oder sonst wo benutzten Kreditkarten korreliert, um Partner einer Zielperson zu identifizieren, die in einer eigenen Wohnung lebten. Das soziale Geflecht eines Konsumenten nachzuvollziehen war schon seit Jahrzehnten gängige Praxis bei der Jagd nach neuen Klienten, doch die Daten so einzusetzen war ein neuer Trick.
Nachdem die Reklame überzeugt war, mit dem menschlichen Adressaten persönlich zu sprechen, begann sie mit dem Sermon, den sie Marias digitalem Abbild verweigert hatte. »Maria … ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar, aber ich hoffe, dass Sie mir eine Minute Ihrer Aufmerksamkeit schenken werden.« Das Interaktiveo machte eine kurze Pause, die Maria suggerieren sollte, dass ihr Schweigen eine Art Zustimmung wäre. »Ich weiß auch, dass Sie ein intelligenter Mensch sind, eine Frau mit Ansprüchen, die weiß, was sie will – und die ganz bestimmt nichts im Sinn hat mit jeder Art von Aberglauben, mit den wirren Mythen der Vergangenheit, jenen Märchen, die die Menschheit in ihren Kindertagen zu ihrem Trost erfunden hat.« Maria wusste, was jetzt kommen würde; das Programm las es in ihrem Gesicht – sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich hinter einem Filter zu verstecken – und beeilte sich, einen Fuß in ihre Tür zu stellen. »Aber nicht wahr, kein denkender Mensch verwirft eine Idee, ohne sich zuvor die Mühe gemacht zu haben, sie zu überdenken – kritisch natürlich, ohne Vorurteil. Und wir von der Kirche Des Gottes, Der Keinen Unterschied Macht …«
Maria deutete mit zwei Fingern auf das Interaktiveo, und es war verschwunden. Sie fragte sich, ob ihre Mutter der Grund für diesen Missionsversuch war – eher unwahrscheinlich. Sie würden sich automatisch an die Angehörigen...