E-Book, Deutsch, 135 Seiten
Effenhauser Brand
Erstauflage 2016
ISBN: 978-3-88747-340-2
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 135 Seiten
ISBN: 978-3-88747-340-2
Verlag: Transit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Effenhauser, 1975 geboren, lebt als Historiker und Autor bei Cham in der Oberpfalz, nahe der tschechischen Grenze. Neben einigen Auszeichnungen für Kurzgeschichten gewann er im Januar 2015 den renommierten Irseer Pegasus (Jury: Ulrike Draesner, Markus Orths). Zuletzt veröffentlichte er den Roman »Alias Toller« (2015), der für den Friedrich-Glauser-Preis 2016 nominiert wurde.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Schreiben an Dr. Ziemer, Notiz 71 »Suchomi«, Mexiko 1985, Unglück, Golubewa, Anatoli Lebedew I, Anatoli Lebedew II, Elena, Wiktor, Prypjat, München, Genf, Zeta, Sensoren, Mexiko 1992, Kerstin, 2013
MEXIKO 1985
Im November 1985 war meine Frau Kerstin im vierten Monat schwanger. Eine schwierige Zeit. Zwei Tage vor dem Abflugtermin teilte ich ihr mit, dass ich die Dienstreise zum jährlich stattfindenden Ermittlertreffen in New York trotz ihrer Bedenken antreten würde. Das war am 25. November 1985.
Der Rückflug von der Tagung am 29. November ging ausgerechnet über Mexiko City, das zwei Wochen zuvor von einem heftigen Erdbeben erschüttert worden war. Der Zwischenstopp zog sich in die Länge. Draußen herrschte Chaos, während ich in der Wartezone amerikanische Zeitungen las (viel über die Abrüstungsverhandlungen mit Gorbatschow in Genf).
Obwohl ich wusste, dass sich meine Frau Gedanken machte, rief ich sie nicht an. Plötzlich wurde mein Name über die Lautsprecher ausgerufen. Im ersten Moment dachte ich, es sei etwas mit Kerstin. Am Schalter stand aber überraschenderweise mein mexikanischer Kollege Juan Valverde.
Valverde hatte nicht nach New York kommen können, aber von einem Kollegen erfahren, dass ich über Mexiko zurückfliege. An diesem Tag werde ohnehin kein Flieger mehr starten, meinte er, ich solle mit ihm aufs Präsidium kommen und könne dann bei ihm übernachten.
Der Anblick der Stadt war verheerend. Häuser in sich zusammengefallen, so viele Menschen verschüttet. Straßen voller Trümmer, doch der Verkehr pulsierte, als ob nichts gewesen wäre. Man ging über Leichen, buchstäblich. An einer Ecke eine umgestürzte Betonwand, darunter zusammengequetschte Autos; abgeknickte Strommasten, davor ein Lieferwagen, der Wäsche ausfährt; Menschen mit Mundschutz, die auf Schutthaufen stehen und graben; davor, mit Cola-Flaschen, zwei Helfer, die sich krümmen vor Lachen. Eine Plaza mit Geschäftsleuten und bunten Reklamen; Hochhäuser ohne Fassaden, mit Blick in die Wohnungen; auf dem Bürgersteig ein Stapel Särge und parkende Limousinen.
Ich rief Kerstin an und sagte ihr, dass ich einen Tag länger in Mexiko bleiben müsse. Sie sagte, es würde ihr nichts ausmachen, aber es klang wie ein Vorwurf.
Die Leiche hatte nichts Besonderes: mittelgroßer Mann, um die sechzig, graue, kurze Haare, breite Nase, die schon einmal gebrochen war, grauweißer Vollbart, hohe Wangenknochen, osteuropäischer Typ, leptosom, blass. Die Todesursache: präziser Herzdurchschuss, ein Profi also. Kugel Fehlanzeige, Projektil Fehlanzeige, Fundort vermutlich nicht identisch mit Tatort.
Ein Sanitäter hatte den Mann hinter einem Schutthaufen entdeckt (nackt, ohne persönliche Gegenstände, Herkunft unbekannt). Ich wollte von Valverde die Autopsie-Ergebnisse haben, aber er musste vorher noch ein Formular abzeichnen lassen – sein Chef sei in diesem Punkt sehr bürokratisch geworden, nachdem ein paar seiner Kollegen sich von Drogenbossen hatten bestechen lassen.
Da Valverdes Vorgesetzter nicht erreichbar war, gingen wir in die Stadt und waren nach wenigen Minuten in einem Park – eine Oase, keinerlei Zeichen von Zerstörung. Wir erreichten die Universitätsbibliothek, einen quaderförmigen Bau, der bunt bemalt war mit indianischen Gottheiten und mythologischen Szenen.
Da Valverdes Chef später immer noch nicht da war, gingen wir gegen 18 Uhr in eine Taberna um die Ecke. Valverde redete pausenlos über die Familie, über das Land, über die Präsidenten. Wir lachten sehr viel an diesem Abend.
Am nächsten Morgen weckte mich Valverde, indem er mit Papieren vor meiner Nase herumwedelte. Seine Frau Lorena begrüßte mich wie einen Familienangehörigen. Sein Chef hatte endlich die Erlaubnis gegeben; am Wohnzimmertisch übersetzte Valverde den vorläufigen Bericht: Das Opfer wurde hinter einem Schutthaufen im äußeren Zentrum der Stadt entdeckt. Nur ein Schuss wurde abgegeben: Er durchbohrte die rechte Herzkammer. Dem Einschusskanal zufolge stand der Täter frontal vor dem Opfer. Die Kugel trat durch den Rücken wieder aus. Da sie trotz mehrstündigen Suchens nicht aufgefunden wurde, war von postmortaler Verbringung der Leiche auszugehen. In der Wunde entdeckte man Überreste von Baumwollfasern, die mit der Kugel in den Körper eingedrungen waren. Laut mikroskopischer Analyse waren die Fasern blau. Das Opfer musste nach der Tat entkleidet worden sein, offenbar hätten die Textilien Beweiskraft gehabt.
Den Todeszeitpunkt hatte der mexikanische Pathologe sehr unpräzise angegeben: Am 27. November hatte man die Leiche gegen 8 Uhr 45 entdeckt, der Mord muss »ein bis vier Stunden vorher« erfolgt sein. Zumindest war der Mann relativ schnell obduziert worden, was einen entscheidenden Hinweis gerettet hatte: Im Magen des Toten hatte man neben Brotresten ein kleines, zusammengeknülltes Stück Papier gefunden, hellgrün, weitgehend unverdaut, das Mordopfer musste es in den letzten Minuten seines Lebens verschluckt haben (der Mann wusste also um die Gefahr, möglicherweise war er vor der Tat gekidnappt worden). Bei dem Papier handelte es sich um eine Busfahrkarte. Die Magensäure hatte die Druckerschwärze aufgelöst, man konnte nichts mehr erkennen.
Valverde zögerte zunächst, die Schrift mit Chemikalien sichtbar zu machen, das Ticket hätte dabei zerstört werden können.
Um 11 Uhr 25 tränkten wir im Labor des Präsidiums das Beweisstück mit Spiritus, legten es unter eine kleine Glashaube, an der wir oben eine Vakuumpumpe befestigten. Valverde schaltete auf mein Zeichen die Pumpe ein. Ich zündete eine Lunte an. Hinter dem Glas entstand eine Flamme, die sogleich wieder erstickte. Auf dem versengten Papier zeigten sich dort, wo die Fasern noch von Druckerschwärze gesättigt waren, etwas heller als beim verbrannten Rest, Buchstaben und Zahlen:
Ciudad de Mexiko/estación central – Tula/excavacion arqueológica Tula/excavacion arqueológica – Ciudad de Mexiko/estación central 23 de noviembre 1985
Valverde hätte auch ohne mich nach Tula fahren können. Aber er wusste genau, dass ich Feuer gefangen hatte.
Zuerst fand ich Tula unspektakulär. Doch als wir oben auf der Pyramide ankamen, war ich sprachlos. Riesige Menschensäulen standen da, fünf Meter hoch, die Krieger der Tolteken. Glatt herausgemeißelt aus schwarzem Vulkangestein, in Tracht, bewaffnet, mit unheimlichen Grimassen, weit offenen Augen und Mündern.
Unten lagen die Ballspielplätze. An den Seiten der Pyramide waren mehrere Reliefs angebracht: ein Vogelmensch, der aussieht wie eine Medusa; Jaguare und Kojoten mit übergroßen Zähnen; Adler, die Herzen auffressen; und immer wieder eine gefiederte Schlange, mit gespaltener Zunge, ein Wesen von zweierlei Gestalt, Leben und Tod. Valverde erklärte mir all diese Götter.
Nach längerem Schweigen sagte er: »Vielleicht ist er hier ermordet worden. Vielleicht wusste er, was auf ihn zukommt.«
Im Tourismusbüro zeigten wir der Angestellten das Foto des Mordopfers. Sie hatte den Mann noch nie gesehen. Valverde bat sie, das Foto ihren Kollegen zu zeigen und sich zu melden, falls ihn jemand erkennen sollte. Das Gleiche sagte er später dem Busfahrer.
Wir fuhren auf der gleichen Strecke zurück wie der Getötete. Valverde war eingeschlafen. Weite Teile der Landschaft waren ausgedörrt, überall vulkanisches Gestein, überall Staub, dann auf einmal Gewitterwolken. Der Bus stoppte. Keine Häuser weit und breit, aber die meisten Fahrgäste stiegen aus. Ich bat den Fahrer, einen Moment zu warten und folgte ihnen. Nach etwa zwanzig Metern, hinter einer Anhöhe, tauchte eine Industrieanlage auf (Fertigungshallen, Fahrzeuge, Gasflaschen, Leute mit Schutzhelmen und Schutzanzügen). Ich kehrte um, steckte dem schlafenden Valverde eine kurze Nachricht in die Brusttasche und ließ den Bus ohne mich weiterfahren.
Ich mischte mich unter die Arbeiter und gelangte, nachdem das Firmentor geöffnet worden war, auf das Gelände. Was hier hergestellt wurde, ließ sich nicht erkennen, die gelagerten Materialien (Kupferrollen, Kunststoffbahnen, verschieden große Gehäuse aus Metall) gaben keinerlei Hinweis. Es begann zu donnern und blitzen, der Regen prasselte, die Leute rannten in die Hallen. Neben einem mit Plastikschrott gefüllten Container befand sich das Büro. An der Tür das Firmenlogo: ein Schwan mit Flügeln wie Feuerzungen. Ich klopfte an, öffnete die Tür, hinter dem Schreibtisch saß eine Mestizin, an ihrem Hals ein hühnereigroßes Geschwür, ansonsten war sie auffallend hübsch.
Sie konnte kein Englisch. Ich zeigte ihr das Bild des Toten, das sie eingehend betrachtete; sie schüttelte den Kopf. Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft, und die Gelassenheit der Frau (sie lächelte, während sie das Foto in der Hand hielt) befremdete mich. Beim Verlassen des Büros erkannte ich den Geruch: Pfeifentabak; er drang durch die Tür, die an der anderen Seite des Büros einen Spaltbreit geöffnet war.
In der Fertigungshalle lagerten in einem Gitterkasten Hunderte von Platinen, wie sie in elektrischen Geräten Verwendung finden. Vielleicht war die Firma...