E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Ein Erik-Winter-Krimi
Edwardson Tanz mit dem Engel
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0515-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der erste Fall für Erik Winter
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Ein Erik-Winter-Krimi
ISBN: 978-3-8437-0515-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Åke Edwardson, geboren 1953, lebt mit seiner Frau in Göteborg. Einige Monate im Jahr verbringt das Ehepaar im Süden Spaniens, in Marbella. Bevor Edwardson einer der weltweit erfolgreichsten Krimiautoren wurde, arbeitete er als Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten.
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1
Es war ein Jahr gewesen, das nicht lockerlassen wollte. Es hatte sich im Kreis gedreht, sich selbst in den Schwanz gebissen wie ein tollwütiger Satanshund. Wochen und Monate waren doppelt lang gewesen.
Von Erik Winters Standort aus schien der Sarg in der Luft zu schweben. Von links brach die Sonne durch ein Fenster, und das Licht hob den Sarg von der Bank dort auf dem Steinboden. Alles verwandelte sich in ein Rechteck aus Sonne, und das war das einzige, was er sah.
Er hörte die Lieder über den Tod, aber er bewegte die Lippen nicht. Ein Kreis aus Stille umgab ihn. Es war nicht die Fremdheit. Es war auch nicht die unmittelbare Trauer, wenigstens noch nicht. Es war ein anderes Gefühl; es gehörte zum Alleinsein und zu jenem Zwischenraum, der entsteht, wenn die Finger loslassen.
Die Wärme, die vom Blut kommt, gibt es nicht mehr, dachte er. Wie wenn ein Weg zurück zugewachsen wäre.
Erik Winter erhob sich mit den andern, verließ die Kirche und trat hinaus ins Licht, um dem Sarg zum Grab zu folgen. Als die Erde auf dem Holz landete, war es zu Ende, und er stand eine kleine Weile still, und dann spürte er die Wintersonne im Gesicht. Wie eine Hand, die man in lauwarmes Wasser taucht.
Er ging langsam durch die Straßen nach Westen, zur Anlegestelle der Fähre. Jetzt ist ein Krieg im Leib eines Menschen vorbei, und er findet Frieden. Alles ist Geschichte, und ich empfinde allmählich große Trauer. Am liebsten möchte ich mich über längere Zeit mit dem großen Nichts befassen, und dann möchte ich das Unkraut auf den Pfaden der Zukunft jäten, dachte er und richtete so etwas wie ein Lächeln zu dem niedrigen Himmel.
Er ging an Bord und die Treppen hinauf und stellte sich auf das Autodeck. Mit schwarzem Schnee bedeckte Autos fuhren herauf. Es polterte höllisch, und er hielt sich das linke Ohr zu. Die Sonne schien noch, deutlich, aber kraftlos über dem Meer. Er hatte die Lederhandschuhe abgestreift, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde, und nun zog er sie wieder an. Es war kälter denn je.
Er stand allein an Deck. Die Fähre schob sich langsam von der Insel hinaus, und als sie einen kleinen Wellenbrecher passierte, dachte Winter kurz an den Tod und daran, daß das Leben weitergeht, lange nachdem der Sinn des Lebens aufgehört hat. Die Bewegungen sind die gleichen, aber der eigentliche Sinn bleibt zurück.
Er blieb stehen, bis die Häuser achteraus so klein wurden, daß er sie in der hohlen Hand unterbringen konnte.
In dem kleinen Lokal saßen Leute. Die Gesellschaft zu seiner Rechten sah aus, als wollte sie in ein Freiheitslied ausbrechen, aber statt dessen wanderte sie hinüber zu den großen Fenstern.
Winter trank zunächst nichts. Er beugte sich über den Tisch und wartete, daß die Kirchenlieder in seinem Kopf verstummten, und dann bestellte er eine Tasse Kaffee. Ein Mann setzte sich ihm gegenüber, und Winter reckte seinen langen Körper.
»Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?« fragte er.
»Selbstverständlich«, antwortete der Mann.
Winter machte ein Zeichen in Richtung Theke.
»Man muß es wohl selbst holen«, sagte der Mann.
»Nein. Sie kommt her.«
Die Frau nahm Winters Bestellung wortlos entgegen. Ihr Gesicht wirkte im Licht der tiefstehenden Sonne durchsichtig. Winter konnte nicht sehen, ob sie auf ihn blickte oder auf den Kirchturm in dem Dorf, das sie hinter sich gelassen hatten. Er fragte sich, ob man die Glocken auf der anderen Seite hörte oder auf der Fähre, wenn sie auf dem Weg zur Insel war.
»Sie kommen mir bekannt vor.« Er drehte sich auf dem Stuhl, so daß er dem Mann zugewandt saß.
»Ich muß in der Tat das gleiche sagen«, erwiderte der Mann.
Er hält die Beine in einer eigenartigen Stellung, dachte der Besucher. An solchen Kaffeetischen ist es nicht gut, groß zu sein. Es sieht aus, als hätte er Schmerzen, und ich glaube nicht, daß es am Licht auf seinem Gesicht liegt.
»Unsere Wege haben sich mehr als einmal gekreuzt«, sagte Winter.
»Ja.«
»Es hört nie auf.«
»Nein.«
»Hier kommt der Kaffee.« Winter betrachtete die Kellnerin, als sie die Tasse vor Kriminalkommissar Bertil Ringmar stellte. Es dampfte aus der Tasse, und der Dampf stieg vor Ringmars Gesicht auf, verdünnte sich auf Stirnhöhe und breitete sich in einem Kreis um seinen Kopf aus. Der Bursche sieht wie ein Engel aus, dachte Winter.
»Was machst du hier?« fragte er.
»Ich fahre mit einer Fähre und trinke Kaffee.«
»Warum achten wir immer auf unsere Worte, wenn wir miteinander sprechen?« sagte Winter.
Bertil Ringmar nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich glaube, daß wir sehr empfänglich für die Farbtöne der Worte sind«, sagte er und stellte die Tasse auf die Tischplatte. Winter konnte sein Gesicht in der Platte gespiegelt sehen, verkehrt herum. Vorteilhaft für ihn, dachte er.
»Hast du Mats besucht?« fragte Ringmar.
»In gewisser Hinsicht.«
Ringmar sagte nichts.
»Er ist tot«, sagte Winter.
Bertil Ringmar umklammerte die Tasse. Er spürte eine Mischung aus Kälte und Wärme, aber er ließ nicht los.
»Es war eine schöne Feier«, erzählte Winter. »Ich wußte gar nicht, daß er so viele Freunde hatte. Er hatte nur einen Verwandten, aber er hatte viele Freunde.«
Ringmar sagte nichts.
»Ich hatte erwartet, vor allem Männer in der Kirche zu sehen, aber es waren auch viele Frauen da«, sagte Winter. »Es waren wohl sogar vor allem Frauen.«
Ringmar blickte durch das Fenster auf etwas hinter Winter, und er riet, daß es der Kirchturm war.
»Es ist eine verfluchte Krankheit«, sagte Ringmar und sah Winter an. »Du hättest anrufen können, wenn du gewollt hättest.«
»Mitten in deinem Gran-Canaria-Urlaub? Mats war ein guter Freund, aber ich habe die Trauerarbeit selbst bewältigt. Oder fange jetzt damit an«, sagte Winter.
Sie saßen stumm da und lauschten den Maschinengeräuschen.
»Es sind mehrere Krankheiten«, sagte Winter nach einer Weile. »Am Ende war es die Lungenentzündung, an der Mats gestorben ist.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ja.«
»Er hatte den Scheiß schon lange.«
»Ja.«
»Verdammt.«
»Einen Moment glaubte ich, daß er glaubte, er könne es schaffen.«
»Hat er das zu dir gesagt?«
»Nein. Aber ich habe es so aufgefaßt, daß er es einen Moment lang dachte. Der Wille kann genügen, wenn alles andere sich verabschiedet hat. Ein paar Minuten glaubte ich auch daran.«
»Ja.«
»Dann nahm er die kollektive Schuld auf sich. Danach war Schluß.«
»Hast du nicht gesagt, er hätte davon gesprochen, daß er Polizist werden wollte? Als er jung war?«
»Hab’ ich das gesagt?«
»Ich glaube schon.«
Winter strich sich das Haar aus der Stirn. Er hielt in der Bewegung inne, die Hand um die dicken Strähnen im Nacken gelegt.
»Vielleicht damals, als ich mit der Polizeischule anfing«, sagte er. »Oder als ich davon sprach, es zu versuchen.«
»Vielleicht.«
»Das ist ein Weilchen her.«
»Ja.«
Es rüttelte im Schiffsrumpf, als wäre er im Sund eingeschlafen und nun in seiner Ruhe gestört worden. Die Leute sammelten ihre Habseligkeiten ein und schlossen die Mäntel fester vor dem Aussteigen.
»Er wäre ja willkommen gewesen«, sagte Ringmar und blickte auf Winters Ellenbogen. Winter ließ seine Haare los und legte die Hände auf die Tischplatte.
»Ich habe gelesen, daß sie in England per Annonce homosexuelle Polizisten suchen«, sagte Ringmar.
»Sind das homosexuelle Polizisten, die sie für neue Stellen haben wollen, oder sind es Schwule, die sie zu Polizisten ausbilden wollen?« fragte Winter.
»Spielt das eine Rolle?«
»Entschuldigung.«
»Die kulturelle Vielfalt ist in England weiter entwickelt«, fuhr Ringmar fort. »Es ist eine rassistische und sexistische Gesellschaft, aber man sieht ein, daß man auch bei der Polizei verschiedene Sorten von Menschen braucht.«
»Ja.«
»Vielleicht bekommen wir auch bei uns einen Schwulen.«
»Meinst du nicht, daß wir den schon haben?«
»Einen, der es wagt, dazu zu stehen.«
»Wäre ich schwul, würde ich dazu stehen, nach dem, was ich heute erlebt habe«, sagte Winter.
»Mhm.«
»Vielleicht auch vorher. Ja, das glaube ich.«
»Ja.«
»Es ist falsch, sich herauszuhalten. Es ist nichts anderes, als an einer verdammten gemeinsamen Schuld zu tragen. Auch du trägst eine Schuld«, sagte Winter und sah den Kollegen an.
»Ja«, sagte Ringmar, »ich bin voller Schuld.«
Die Gesellschaft an den großen Fenstern sah wieder aus, als wolle sie ein kleines Lied an die Freiheit anstimmen, wenn sie nur nicht so vom Dasein bedrückt gewesen wäre. Die Fähre passierte einen Leuchtturm. Winter schaute durchs Fenster.
»Was hältst du davon, an Deck zu gehen und die Stadt zu begrüßen«, sagte er.
»Draußen ist es kalt«, sagte Ringmar.
»Ich glaube, ich brauche das.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich?«
»Stell meine Geduld nicht auf die Probe, Erik.«
Der Tag war ältlich und grau. Das Autodeck schimmerte stumpf wie Kohle. Die Felsen um den Schiffsrumpf hatten die gleiche Farbe wie der Himmel. Es ist gar nicht leicht zu sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt, dachte Winter. Plötzlich ist man im Himmel, ohne es zu wissen. Ein Sprung von der Klippe, und schon ist man da.
Als sie unter der Brücke durchfuhren, war es Abend geworden. Die Lichter der Stadt waren überall. Weihnachten war vorbei, der Schnee stellenweise verschwunden. Die...