E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Edwardson Rotes Meer
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92082-5
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der achte Fall für Erik Winter
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-548-92082-5
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Åke Edwardson, geboren 1953, lebt mit seiner Frau in Göteborg. Einige Monate im Jahr verbringt das Ehepaar im Süden Spaniens, in Marbella. Bevor Edwardson einer der weltweit erfolgreichsten Krimiautoren wurde, arbeitete er als Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten.
Weitere Infos & Material
2
Dort draußen. Es gibt nichts dort draußen. Dort oben: die Dämmerung, die kommen will. Aber es ist schon hell. Der Nacht bleibt in dieser Nacht kaum Zeit. Nicht weit entfernt verläuft die Autobahn zwischen Süden und Norden. Scheinwerferlicht auf dem Asphalt. Es kommt und geht, ein sinnloses Licht. Von Westen frischt der Wind plötzlich auf, ein Zug heult mit dem Wind. Es klingt jedenfalls wie ein Zug. Ein Taxi vor einem geöffneten Laden. Ein frei stehendes Gebäude, ungeschützt. Ein Laden ohne Kunden, rund um die Uhr geöffnet. Jetzt ist der Fahrer ausgestiegen. Im Laden ist es still. Still. Der Mann will Zigaretten kaufen. Der Laden hat Wände aus Glas. Nichts rührt sich. Stille. Alles ist still. Der Fahrer überquert den Parkplatz. Klacken von Absätzen in der Nacht. Von irgendwo ertönt ein Echo, er kann es hören. Etwas kehrt mit dem Echo zurück. Schreie. Ein Schrei, mehrere Schreie. Nein, das wird erst hinterher rekonstruiert. Schüsse. Ein Echo von Schüssen. Jetzt schreit er. Jetzt hat er es gesehen. Er verharrt in der Tür. Sie stand die ganze Zeit offen. Als er auf sie zuging, hat er die erleuchteten Glaswände gesehen. Aber jetzt sieht er das andere. Er steht in der Tür. Jetzt schreit er, doch niemand hört ihn.
In einem Meer von Rot liegt ein Körper auf dem Fußboden. Der Taxifahrer hat hier schon öfter eingekauft, und er weiß, dass der Fußboden schwarzweiß gefliest ist. Da unten ist kein Gesicht. Er sieht ein Bein hinter dem Tresen hervorragen. Er sieht eine einsame Hand in einem anderen Teil des Ladens. So denkt er: eine einsame Hand. Still, sie ist still. Alles ist still. Er hört vereinzelte Motorengeräusche von der Autobahn im Westen. Bald werden die Leute zur Arbeit fahren. Im Juni haben noch nicht viele Urlaub, er auch nicht. Vielleicht im September, falls er es sich leisten kann. Oder vielleicht jetzt, jetzt auf der Stelle, in diesem Augenblick. Das ist ihm schon in den Sinn gekommen.
Der Taxifahrer rührt sich nicht. Er sieht, wie das Rot über den gefliesten Fußboden kriecht. Nichts fängt es auf, saugt es auf, hindert es, stoppt es.
Und in dem Moment – von der Straße, vom Himmel kommt kein Laut – hört er Schritte, leichte Schritte, wie von einem Kind, das über das Pflaster zu fliegen scheint, dann sind sie weg.
Draußen ist jemand, denkt er. War jemand. Da draußen, hier drinnen. Jemand hat mich schreien hören. Jemand hat mich gesehen. Hier drinnen kann es ja niemand gehört haben. Sieh nur, was passiert ist. Herr im Himmel, wird er bald darauf sagen. Sie mussten das Auto holen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie angerufen habe, aber ich muss es getan haben.
Vorsichtig ging Kriminalkommissar Erik Winter um das rote Meer herum, nachdem die Leute von der Spurensicherung ihn endlich hineingelassen hatten. Er blieb zwischen der Tür und dem Körper auf dem Fußboden stehen. Dort lag ein Mann, oder das, was von ihm übrig war. Viel war es nicht, nicht einmal ein Gesicht. Dem Mann war aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen worden. Die Auswirkungen waren verheerend. Als wäre im Laden eine Bombe explodiert. Aber es war keine Bombe gewesen. So viel wussten sie schon. Es waren Schusswaffen in den Händen von Menschen gewesen.
Rechts von den beiden Holzstühlen und einem umgeworfenen Tisch sah Winter Bertil Ringmar auf den Fliesen knien. Kommissar Ringmar schaute auf, schüttelte den Kopf und zeigte auf den vor ihm liegenden Körper. Leiche Nummer zwei, wenn man von der Tür aus zu zählen begann. Links, in der anderen Richtung, fast hinter dem Tresen, lag Nummer drei. Drei Tote, ein Massaker. Winter sah, worauf Ringmar deutete. Der Körper lag abgewandt, ein Rücken, ein Kopf, die Reste eines Kopfes.
»Das Gesicht ist weg«, sagte Ringmar.
Seine Stimme klang unnatürlich laut, wie elektronisch verstärkt. Sie zerriss die totale Stille, die bis eben geherrscht hatte, eine Stille, eine totale Stille, nachdem die Schüsse verhallt waren.
»Das ist bei allen Dreien gleich«, sagte Winter.
Von dem Opfer, das am weitesten von der Tür entfernt lag, konnte er nur die Schuhe sehen.
»Wie hat er es geschafft, allen Dreien so nahe zu kommen?«, fragte Ringmar.
Winter zuckte mit den Schultern.
»Und fast gleichzeitig«, fuhr Ringmar fort.
»Darauf gibt es eine Antwort«, sagte Winter. »Auf die Frage, wie er sich genähert hat.«
»Man sollte sie nicht erkennen«, sagte Ringmar.
Winter nickte.
»Übrigens, willkommen daheim«, sagte Ringmar.
Er war nach einem Winter und einem Frühling in Südspanien zurückgekehrt, aus einer schönen Wohnung in Marbella. Nicht viel Regen, nachts nicht so kalt, funktionierende Heizung, klare Tage. Jemand mit etwas Fantasie würde behaupten, er habe bis nach Afrika schauen können. Ein verdammt gutes halbes Jahr. Angela hatte in der Klinik gearbeitet, und er hatte zu Hause gearbeitet. Elsa und Lilly, ihre beiden Töchter, waren ihm direkt unterstellt, aber vielleicht war es auch umgekehrt gewesen. Vamos!, hatte er gesagt, und schon waren sie unterwegs, nach dem Frühstück, jeden Tag, hinaus in die klare Luft. Lasst uns gehen!
Von den Dreien, die im bläulich kalten Licht des Ladens auf dem Boden lagen, würde keiner mehr irgendwohin gehen. Sie hatten zwar noch Schuhe an den Füßen, aber das war auch alles. Das blaue Licht veränderte sich langsam, als die Sonne am gezackten Horizont empor kroch. Winter befand sich im südwestlichen Teil des enormen Gebiets, das erschlossen und bebaut worden war, als es noch eine Art Glauben an die Zukunft gegeben hatte, der heute, in den ersten zehn Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, schwachsinnig erschien. Hier oben sollte die Stadt wachsen: Hjällbo, Hammarkullen, Gårdsten, Angered, Rannebergen, Bergsjön. Häuserhöllen waren aus dem Boden gestampft worden. Keine Stadt im heutigen Europa war so gemartert worden wie Göteborg. Wenn es unten in Örgryte oder draußen in Långeland noch Einwanderer gab, dann waren es Engländer, die bei Volvo arbeiteten, aber auf keinen Fall am Band. Hier oben arbeiteten nicht viele, jedenfalls nicht an einem Fließband. Vielleicht hatten die drei Menschen vor ihrem Tod Arbeit gehabt, nämlich in diesem Laden in Hjällbo. Vielleicht war nur einer von ihnen Kunde gewesen. Vielleicht waren sie etwas ganz anderes gewesen. Bald würde er es wissen. Dieser Fundort war der Tatort. Winter sah sich um. Drei der Gebäudewände bestanden aus Glas. In diesem Raum konnte nichts im Geheimen geschehen sein. Er war wie eine Bühne gewesen. Das ging Winter durch den Kopf, als er den Laden verließ. Wie für ein Publikum. Etwas, das früher oder später ein Publikum fesseln würde.
Der Taxifahrer sah ihn wie aus einem Traum erwachend an, als Winter sich ihm näherte. Winter hatte sich im Laden einen ersten Eindruck verschafft und war dann sofort wieder hinausgegangen, um den Zeugen zu vernehmen.
Der Fahrer saß in Ringmars Wagen. Er war weiß, was für einen Taxifahrer inzwischen ziemlich ungewöhnlich war. Vielleicht ein Student, doch eigentlich wirkte er dafür zu alt. Vielleicht ein Künstler, Schriftsteller. Winter kannte keine Schriftsteller, aber er vermutete, dass die meisten arm waren. Winter war nicht arm.
Er stellte sich dem Mann vor und der Taxifahrer nannte seinen Namen:
»Reinholz … Jerker Reinholz.«
»Ich muss Ihnen einige Fragen dazu stellen, was Sie gesehen haben«, sagte Winter. »Könnten Sie bitte aussteigen?«
Reinholz nickte und stieg aus. In seinen Augen blitzte es auf, als sie vom Sonnenlicht wie von einem Scheinwerfer getroffen wurden. Er zuckte zusammen und machte einen Schritt zur Seite in den Halbschatten eines Ahorns. Winter hörte das trockene Rascheln der Blätter, die sich leise im Morgenwind bewegten. Am frühen Morgen kam meist Wind auf und verschwand dann wieder, vielleicht aufs Meer hinaus. Seit Winter mit seiner Familie zurück in Göteborg war, war es tagsüber nicht sehr windig gewesen, auch nicht bewölkt. Nur die Sonne hatte geschienen. Er sehnte sich schon nach Regen. Nach einem leisen, schwedischen Sommerregen, der Düfte mit sich brachte, die er am Mittelmeer vergessen hatte. Dort war der Regen anders gewesen, härter. Bei uns ist er weicher, hatte er gedacht. Auf uns soll weicher Regen fallen.
Reinholz setzte sich eine dunkle Brille auf.
»Mir ist es lieber, wenn Sie sie absetzen«, sagte Winter.
»Äh … ja.« Reinholz nahm die Brille ab. Er schaute zum Himmel hinauf, wie um zu prüfen, ob sich die Sonne versteckte. Sie war immer noch hinter dem Ahorn verborgen.
»Wann sind Sie hier eingetroffen?«, fragte Winter.
»Das hab ich schon … jemandem erzählt«, antwortete Reinholz und machte eine Handbewegung zum Laden. Winter sah, wie sich die Polizisten in dem blauen und gelben Licht bewegten. Wie auf einer schwedischen Bühne.
»Erzählen Sie es mir bitte noch einmal«, sagte er und wandte sich wieder dem Fahrer zu, der eine schwarze Lederjacke trug. Während der langen Nachtschichten war eine dicke Jacke vermutlich die richtige Kleidung. Die Nächte hier waren anders als in Spanien.
»Es … war gegen drei. Ein paar Minuten nach drei, glaub ich. Ich habe auf die Uhr gesehen, als ich aus dem Auto stieg.«
»Okay, fahren Sie bitte fort.«
»Ich bin über den Platz gegangen. Den Parkplatz.« Reinholz deutete mit dem Kopf zum Laden. Der sieht kleiner aus, dachte er. Komisch. Früher war der größer.
»Was wollten Sie kaufen?«, fragte Winter.
»Zigaretten. Ich wollte Zigaretten kaufen.«
»Kannten Sie den Laden?«
»Ja … ich hab hier … einige Male eingekauft. Wenn ich in der Nähe war.«
»Warum hielten Sie sich jetzt in der Nähe auf?«
»Hatte eine Fahrt nach Gårdsten...