Eco | Nullnummer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Eco Nullnummer

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25001-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-446-25001-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mailand, 6. Juni 1992, nachts. Bei dem Journalisten Colonna ist eingebrochen worden. Die Diskette mit brisanten Informationen hat man nicht gefunden, Colonna sieht jetzt sein eigenes Leben bedroht. Auch er spielt ein Doppelspiel: Er soll eine Zeitung lancieren, die mit schmutzigen Gerüchten über die gute Gesellschaft arbeitet. Zugleich schreibt er als Ghostwriter ein Enthüllungsbuch über den programmierten Skandal. Umberto Eco entwickelt eine rasante Kriminalgeschichte zwischen Wirtschaft, Politik und Presse. Und einen ironischen, provozierenden Roman über das 21. Jahrhundert: Je absurder die Nachrichten, desto deutlicher erkennt man die Gesellschaft von heute.

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I
Samstag, 6. Juni 1992, 8.00 Uhr
Heute morgen ist kein Wasser mehr aus dem Hahn gekommen. Plop, plop, zwei Rülpserchen eines Neugeborenen, dann nichts mehr. Ich habe bei der Nachbarin angeklopft: Bei ihr war alles normal. Sie werden das Handrad zugedreht haben, sagte sie. Ich? Ich weiß nicht mal, wo das ist, ich wohne ja erst seit kurzem hier, das wissen Sie doch, und meist komme ich erst abends nach Hause. Mein Gott, aber wenn Sie für eine Woche verreisen, drehen Sie dann nicht das Gas und das Wasser zu? Ich, nein. Ganz schön leichtsinnig, lassen Sie mich mal rein, ich zeig’s Ihnen. Sie machte den Kasten unter der Spüle auf, drehte an etwas, und da ist das Wasser wiedergekommen. Sehen Sie? Sie haben es zugedreht. Entschuldigung, ich bin so zerstreut. Ach je, ihr Singles! Abgang der Nachbarin, die jetzt auch englisch spricht. Nerven behalten. Es gibt keine Poltergeister, nur im Film. Und ich bin auch kein Schlafwandler, denn auch als Schlafwandler hätte ich nichts von der Existenz dieses Handrads gewusst, sonst hätte ich es auch im Wachzustand benutzt, denn die Dusche tropft und ich laufe ständig Gefahr, die ganze Nacht schlaflos dazuliegen, weil ich andauernd diese Tropfen höre, man kommt sich vor wie Chopin in Valldemossa. Tatsächlich erwache ich oft, stehe auf und schließe die Tür zum Bad und die zwischen Flur und Schlafzimmer, um nicht immerzu dieses verdammte Getropfe zu hören. Etwas Elektrisches wie ein Kurzschluss oder so kann’s nicht gewesen sein (das Handrad wird, wie der Name sagt, mit der Hand gedreht) und auch nicht eine Maus, denn selbst wenn sie hier reingekommen wäre, hätte sie nicht die Kraft gehabt, das Handrad zu drehen. Es ist ein Eisenrad im alten Stil (alles in dieser Wohnung ist mindestens fünfzig Jahre alt), und außerdem ist es verrostet. Also war eine Hand nötig. Eine humanoide. Und ich habe keinen Kamin, durch den der Menschenaffe aus der Rue Morgue hätte reinkommen können. Überlegen wir mal. Jede Wirkung hat ihre Ursache, heißt es zumindest. Schließen wir ein Wunder aus, ich sehe nicht, warum Gott sich um meine Dusche kümmern sollte, sie ist ja nicht das Rote Meer. Also, für natürliche Wirkung natürliche Ursache. Gestern abend, bevor ich zu Bett ging, habe ich eine Schlaftablette mit einem Glas Wasser genommen. Also hatte es bis zu diesem Moment noch Wasser gegeben. Heute morgen war es nicht mehr da. Also, lieber Watson, ist das Handrad irgendwann in der Nacht zugedreht worden – und nicht von dir. Jemand oder mehrere waren in meiner Wohnung und fürchteten offenbar, ich könnte eher als durch ihre Geräusche (sie waren mucksmäuschenstill) durch das Prélude der Dusche geweckt werden, das sogar ihnen auf die Nerven ging, so dass sie sich wohl schon fragten, wie ich dabei überhaupt schlafen konnte. Deswegen haben sie, schlau wie sie sind, dasselbe gemacht, was auch meine Nachbarin gemacht hätte, nämlich das Wasser zugedreht. Und dann? Die Bücher stehen alle in der gewohnten Unordnung, die Geheimdienste der halben Welt hätten vorbeikommen und sie Seite für Seite durchblättern können, ohne dass ich etwas bemerkt hätte. Es ist müßig, in die Schubladen zu blicken oder den Schrank im Flur zu öffnen. Wenn sie etwas suchten, bleibt heutzutage nur eins: im Computer nachsehen. Womöglich haben sie, um keine Zeit zu verlieren, einfach alles kopiert und sich damit aus dem Staub gemacht. Und jetzt entdecken sie gerade, während sie ein Dokument nach dem anderen öffnen, dass in meinem Computer nichts war, was sie interessieren könnte. Was hatten sie denn zu finden gehofft? Es liegt auf der Hand – ich meine, ich sehe keine andere Erklärung –, dass sie etwas suchten, was mit der Zeitung zu tun hat. Sie sind ja nicht dumm, sie werden sich gedacht haben, dass ich mir Notizen gemacht haben musste über alles, was wir in der Redaktion besprachen und planten – und folglich, dass ich, sollte ich etwas über die Sache mit Braggadocio wissen, darüber irgendwo etwas geschrieben haben müsste. Nun, da haben sie sich schon das Richtige gedacht, ich habe alles auf einer Diskette. Natürlich werden sie heute nacht auch das Büro durchsucht haben, aber von meinen Disketten war da nichts zu finden. Also sind sie zu dem Schluss gekommen (aber erst jetzt), dass ich sie womöglich in meiner Jackentasche habe. Was für Idioten sind wir doch, werden sie sich vielleicht gerade sagen, wir hätten seine Jacke durchsuchen sollen. Idioten? Widerlinge! Wenn sie schlau wären, hätte es sie nicht in einen so einen widerlichen Beruf verschlagen. Jetzt machen sie sich wahrscheinlich gegenseitig Vorwürfe, dabei gelangen sie mindestens bis zum entwendeten Brief, und dann werden sie mich auf der Straße von fingierten Handtaschendieben überfallen lassen. Ich muss mich also beeilen, ehe sie es erneut versuchen, um die Diskette an einen sicheren Ort zu schicken und dann sehen, wann ich sie wiederholen kann. Aber was für Dummheiten kommen mir da in den Kopf, hier hat es doch schon einen Toten gegeben, und Simei ist über alle Berge. Sie brauchen gar nicht mehr zu wissen, ob ich etwas darüber weiß und was. Sie werden mich sicherheitshalber ausschalten, und das war’s dann. Ich kann auch nicht hingehen und den Zeitungen erklären, dass ich von dieser Sache nichts wusste, denn durch das bloße Darüberreden würde ich ja schon zu erkennen geben, dass ich davon etwas wusste. Wie bin ich in dieses Schlamassel geraten? Ich glaube, schuld daran ist Professor Di Samis und die Tatsache, dass ich deutsch kann. Wie komme ich jetzt auf Di Samis, das ist doch Jahrzehnte her? Es liegt wohl daran, dass ich immer gedacht hatte, Di Samis sei schuld daran gewesen, dass ich nie meinen Doktor gemacht habe, und dass ich jetzt in dieser Verwicklung gelandet bin, liegt genau daran, dass ich nie meinen Doktor gemacht habe. Übrigens hat mich Anna nach zwei Jahren Ehe verlassen, weil ihr klar wurde, dass ich, wie sie wortwörtlich sagte, ein geborener Verlierer sei – wer weiß, was ich ihr vorher alles erzählt hatte, um gut dazustehen. Dass ich meinen Doktor nie gemacht hatte, lag daran, dass ich deutsch konnte. Meine Großmutter stammte aus Südtirol und hatte es mir im frühen Kindesalter beigebracht. Seit meinem ersten Jahr an der Uni hatte ich mich, um mein Studium zu finanzieren, als Übersetzer aus dem Deutschen verdingt. Wer damals deutsch konnte, hatte damit quasi schon einen Beruf. Man las und übersetzte Bücher, die andere nicht verstanden (aber die damals als wichtig galten), und man wurde dafür besser bezahlt als die Übersetzer aus dem Französischen und sogar aus dem Englischen. Heute geschieht dasselbe, glaube ich, mit denen, die aus dem Russischen oder Chinesischen übersetzen können. Für mich galt jedenfalls damals, entweder du übersetzt oder du machst deinen Doktor, beides gleichzeitig geht nicht. Denn übersetzen heißt nun einmal zu Hause am Schreibtisch sitzen, im Warmen oder im Kalten, und in Hausschuhen arbeiten und dabei auch noch einen Haufen Sachen lernen. Wozu dann noch Vorlesungen an der Uni hören? Aus Bequemlichkheit hatte ich beschlossen, mich für einen Deutschkurs einzuschreiben. Da bräuchte ich nicht viel Neues zu lernen, sagte ich mir, wo ich doch schon fast alles wusste. Der große Star war damals Professor Di Samis, der sich etwas geschaffen hatte, was die Studenten seinen Adlerhorst nannten, in einem baufälligen Barockpalast, in dem man eine breite Treppe hinaufging, um in einem großen Saal anzukommen. Auf der einen Seite öffnete sich das Institut von Di Samis, auf der anderen die Aula Magna, wie Di Samis sie pompös nannte, ein Hörsaal mit etwa fünfzig Plätzen. Betreten durfte man das Institut nur in Pantoffeln. Am Eingang gab es genügend davon für die Assistenten und für zwei oder drei Studenten. Wer keine mehr vorfand, wartete draußen, bis er an die Reihe kam. Alles war gewachst und gebohnert, ich glaube auch die Bücher an den Wänden. Auch die Gesichter der Assistenten, lauter uralte Menschen, die seit prähistorischen Zeiten auf die Berufung zum Lehramt warteten. Die Aula hatte ein sehr hohes Gewölbe und gotische Fenster (ich habe nie verstanden wieso, in einem Barockpalast) mit grünen Scheiben. Pünktlich zur angegebenen Zeit, das heißt vierzehn Minuten nach der vollen Stunde, verließ Professor Di Samis das Institut, gefolgt in einem Meter Abstand von seinem ältesten Assistenten und in zwei Meter Abstand von den jüngeren, den unter fünfzigjährigen. Der älteste Assistent trug ihm die Bücher, die jüngeren das Tonbandgerät – die Tonbandgeräte waren damals am Ende der fünfziger Jahre noch riesige Dinger, fast wie ein Rolls Royce. Di Samis durchschritt die zehn Meter, die sein Institut von der Aula trennten, als wären es zwanzig: Er folgte nicht einer geraden Linie, sondern einer gebogenen, ich weiß nicht, ob es eine Parabel oder eine Elipse war, und sagte dabei mit lauter Stimme: »Da bin ich, da bin ich!« Dann trat er in die Aula und setzte sich auf eine Art geschnitztes Podium – man erwartete, dass er anhob mit »Nennt mich Ismael.« Das durch die grünen Scheiben einfallende Licht ließ sein Gesicht wie das einer Leiche erscheinen, wozu er maliziös lächelte, während seine Assistenten das Tonbandgerät einschalteten. Dann hob er an: »Im Gegensatz zu dem, was kürzlich mein geschätzter Kollege Professor Bocardo gesagt hat …«, und so weiter zwei Stunden lang. Dieses grüne Licht ließ mich in schummrige Schläfrigkeiten verfallen, dasselbe sagten auch die Augen der Assistenten. Ich kannte ihre Leiden. Am Ende der zwei Stunden, während wir Studenten hinausströmten, ließ Professor Di Samis das Band zurücklaufen, stieg von seinem Podium herab, setzte...


Eco, Umberto
Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Piemont) geboren und starb am 19. Februar 2016 in Mailand. Er zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern und Wissenschaftlern der Gegenwart. Sein Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt u.a. Die Geschichte der Hässlichkeit (2007), Der Friedhof in Prag (Roman, 2011), Die Geschichte der legendären Länder und Städte (2013), Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften (2014), Nullnummer (Roman, 2015) und Pape Satàn (Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen, 2017).

Umberto Eco, 1932 in Alessandria geboren, lebt in Mailand. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt u. a. Die Geschichte der Hässlichkeit (2007), Die Kunst des Bücherliebens (2009), Der Friedhof in Prag (2011) und Geschichte der legendären Länder und Städte (2013).


Burkhart Kroeber, 1940 geboren, übersetzte u. a. Bücher von Umberto Eco, Italo Calvino, Fruttero & Lucentini und Die Brautleute von Alessandro Manzoni. 2001 erhielt er den Johann-Heinrich-Voß-Preis.



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