Eco | Die Insel des vorigen Tages | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 512 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g

Eco Die Insel des vorigen Tages

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-446-23908-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 512 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g

ISBN: 978-3-446-23908-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wir schreiben das Jahr 1643, und in Europa tobt der Dreißigjährige Krieg. Wider Willen wird Roberto de La Grive zum Entdeckungsreisenden auf der Suche nach dem Nullmeridian, dem zur exakten Navigation notwendigen Fixpunkt der Erde. Ein Orkan spült ihn auf ein verlassen vor den Fidschii-Inseln treibendes Forschungsschiff. Auf diesem schwimmenden Naturalienkabinett findet er einen skurrilen Schicksalsgenossen und viel Zeit, sich die eigene unheilvolle Liebes-, Lebens- und Doppelgängergeschichte zu phantasieren. Historisches Panorama, Liebesgeschichte und Abenteuerroman - Eco erfindet den gewaltigen Kosmos eines ganzen Jahrhunderts neu.

Eco Die Insel des vorigen Tages jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


  1 DAPHNE   Und doch erfüllt mich meine Demütigung mit Stolz, und da zu solchem Privilegio verdammt, erfreue ich mich nun gleichsam einer verabscheuten Rettung: Ich glaube, ich bin seit Menschengedenken das einzige Wesen unsrer Gattung, das schiffbrüchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff.   So, in unverbesserlichem Manierismus, Roberto de La Grive, vermutlich im Juli oder August 1643. Seit wie vielen Tagen war er auf den Wellen getrieben, an ein Brett gebunden, tagsüber mit dem Gesicht nach unten, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, den Hals unnatürlich verrenkt, um kein Wasser in den Mund zu bekommen, verätzt von der Salzlauge, sicherlich fiebernd? Die Briefe lassen es nicht erkennen, sie lassen an eine Ewigkeit denken, aber es kann sich um höchstens zwei Tage gehandelt haben, sonst hätte er nicht überlebt unter der Peitsche des sengenden Phöbus (wie er bilderreich klagt) – er, der sich als so kränklich beschreibt, ein Nachttier aus angeborener Schwäche. Er war nicht imstande, die Zeit zu messen, aber ich glaube, das Meer hatte sich nach dem heftigen Sturm, der ihn von Bord der Amarilli gefegt hatte, recht bald wieder beruhigt, und das als Rettungsfloß dienende Brett, das ihm der Matrose maßgeschneidert hatte, dürfte ihn, von den Passatwinden über ein heiteres Meer getrieben in einer Jahreszeit, in der südlich des Äquators ein äußerst milder Winter herrscht, nicht allzu weit gebracht haben, ehe die Strömung es in die Bucht trieb. Es war Nacht, er war eingenickt und hatte nicht bemerkt, dass er auf das Schiff zutrieb, bis das Brett mit einem leichten Erzittern an den Bug der Daphne gestoßen war. Doch als er dann im Licht des Vollmonds erkannte, dass er unter einem Bugspriet dümpelte, direkt unter einem Vorderkastell, von welchem unweit der Ankerkette eine Strickleiter hing (die Jakobsleiter!, hätte Pater Caspar gesagt), waren alle seine Lebensgeister sofort wieder da. Es muss die Kraft der Verzweiflung gewesen sein: Er überlegte, ob er noch Atem genug hatte, um zu schreien (aber seine Kehle war ein einziges trocknes Brennen) oder sich von den Stricken zu befreien, die ihn mit bläulichen Striemen gezeichnet hatten, und den Aufstieg zu versuchen. Ich glaube, in solchen Momenten kann ein Sterbender zu einem Herkules werden, der die Schlangen in der Wiege erwürgt. Robertos Aufzeichnung des Geschehens ist unklar, aber da er am Ende auf dem Vorschiff war, muss er sich irgendwie die Leiter hinaufgequält haben. Vielleicht hatte er sie Stück für Stück erklommen, nach jeder Sprosse erschöpft innehaltend, hatte sich dann über die Bordwand fallen lassen, war über die Taue gekrochen, hatte die Tür zum Vorderkastell offen gefunden ... Und der Instinkt muss ihn im Dunkeln an jenes Fass geführt haben, zu dessen Rand er sich dann hinaufzog, um eine Tasse an einer kleinen Kette zu finden. Er hatte getrunken, so viel er konnte, und war gesättigt zu Boden gesunken, vielleicht gesättigt im vollen Wortsinne, denn jenes Wasser musste so viele ertrunkene Insekten enthalten haben, dass es ihm Trank und Speise in einem lieferte. Danach muss er vierundzwanzig Stunden geschlafen haben, denn es war Nacht, als er wieder erwachte, doch nun wie neugeboren. Es war also wieder Nacht und nicht noch. Er aber dachte gewiss, dass es noch dieselbe Nacht war, andernfalls hätte ihn, wenn inzwischen ein ganzer Tag vergangen wäre, doch irgendwer finden müssen. Das Mondlicht, das vom Deck her eindrang, beleuchtete den Raum so hell, dass er jetzt klar zu erkennen war als die Kombüse des Schiffs mit ihrem über dem Herd aufgehängten Kessel. Es gab zwei Türen, eine zum Bugspriet und eine nach hinten zum Deck. Roberto trat an die zweite und erblickte auf dem fast taghell erleuchteten Deck die sauber zusammengerollten Taue, die Ankerwinde, die Masten mit den eingerollten Segeln, einige Kanonen an den Geschützpforten und die Silhouette des Achterkastells. Er rief etwas, aber keine lebende Seele antwortete. Er blickte über die Bordkante und sah an Steuerbord, etwa eine Meile entfernt, das Profil einer Insel mit Palmen am Ufer, die sich im Wind bewegten. Die Küste bildete eine Bucht, ein Halbrund zwischen zwei kleinen Vorgebirgen, gesäumt von einem weißen Sandstrand, der in der bleichen Dunkelheit glänzte, aber wie jeder Schiffbrüchige hätte Roberto nicht sagen können, ob es eine Insel oder Festland war. Er wankte zur anderen Bordwand hinüber und sah – aber diesmal weit entfernt, fast am Horizont – die Gipfel eines anderen Profils, das ebenfalls von zwei Vorgebirgen begrenzt war. Sonst überall Meer, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, das Schiff sei auf einer Reede vor Anker gegangen, zu der es durch eine breite Meerenge gelangt war, welche die beiden Küsten trennte. Roberto kam zu dem Schluss, dass es sich, wenn nicht um zwei Inseln, sicher um eine Insel vor einer größeren Landmasse handelte. Ich glaube nicht, dass er noch andere Hypothesen erwog, da er noch nie von Buchten gehört hatte, die so groß waren, dass man in ihnen den Eindruck gewinnen konnte, sich zwischen zwei Zwillingsfestländern zu befinden. So hatte er, da er nichts von riesigen Kontinenten wusste, ins Schwarze getroffen. Es war keine schlechte Lage für einen Schiffbrüchigen: die Füße auf festem Boden und Land in Reichweite. Aber Roberto konnte nicht schwimmen, er sollte bald feststellen, dass es auf dem Schiff kein Beiboot gab, und das Brett, auf dem er gekommen war, hatte die Strömung längst fortgetrieben. Daher mischte sich in seine Erleichterung, dass er dem Tod entgangen war, die Bestürzung über die dreifache Einsamkeit: des Meeres, der nahen Insel und des Schiffes. »He, niemand an Bord?«, muss er versucht haben in allen ihm bekannten Sprachen zu rufen, wobei ihm aufging, wie schwach er war. Stille. Als ob an Bord alles tot wäre, schrieb er. Und nie hatte er sich – er, der so großzügig mit Gleichnissen war – so unverblümt ausgedrückt. Oder quasi, aber dieses Quasi ist es, wovon ich sprechen möchte, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Dabei habe ich ja schon angefangen. Ein Mann treibt entkräftet auf dem Ozean, und die nachsichtigen Wellen werfen ihn auf ein Schiff, das verlassen scheint. Verlassen, als wäre die Mannschaft erst kürzlich von Bord gegangen, denn als Roberto sich in die Kombüse zurückschleppt, findet er eine Lampe und Zündzeug, als hätte sie der Koch dort bereitgestellt, ehe er schlafen ging. Aber die beiden Kojen, die sich eine über der anderen neben dem Kamin befinden, sind leer. Roberto zündet die Lampe an, schaut sich um und entdeckt große Mengen von Lebensmitteln: getrockneten Fisch und Zwieback mit nur wenig Schimmel, der sich leicht abschaben lässt. Der Fisch sehr salzig, aber Wasser gibt es nach Belieben. Er muss bald wieder zu Kräften gekommen sein, jedenfalls war er gut bei Kräften, als er darüber schrieb, denn er verbreitet sich – hochliterarisch – über die Wonnen seines Festmahls, nie habe Olymp dergleichen bei seinen Gelagen genossen, süße Ambrosia für mich aus den Tiefen des Meeres, das Ungeheuer, des Tod mir nun Leben geworden ... Dies aber schrieb Roberto an die Dame seines Herzens:   Sonne meines Schattens, Licht meiner Nächte, warum hat der Himmel mich nicht zermalmt in jenem Sturme, den er so wütend entfacht? Wozu dem gefräßigen Meere diesen meinen Leib entreißen, wenn meine Seele dann in dieser geizigen und dazu trostlosen Einsamkeit auf grässliche Weise Schiffbruch erleiden sollte? Vielleicht, wenn der barmherzige Himmel mir keine Hilfe sendet, werdet Ihr nie diesen Brief lesen, den itzo ich schreibe, und verbrannt wie eine Fackel vom Licht dieser Meere werde ich mich vor Euren Augen verdunkeln, denn eine Selene, die ach! Zu viel vom Licht ihrer Sonne genossen, während sie ihre Reise hinter der letzten Krümmung unseres Planeten vollendet, beraubt der Hilfe durch die Strahlen des sie beherrschenden Astrums, verdünnt sich erst zum Bildnis der Sichel, die den Lebensfaden abschneidet, und löst sich alsdann, eine matter und matter werdende Leuchte, zur Gänze in jenem großen wächsernen Himmelsschild auf, in dem die ingeniöse Natur heroische Devisen und rätselhafte Embleme ihrer Geheimnisse bildet. Eures Blickes beraubt, bin ich blind, da Ihr mich nicht sehet, und stumm, da Ihr nicht zu mir redet, und ohne Gedächtnis, da Ihr nicht meiner gedenket. Und ich lebe nur, brennende Trübnis und düstere Flamme, als vages Phantasma, welches mein Geist, immer gleich gestaltend in diesem widrigen Streit der Gegensätze, so gern dem Euren darbieten würde. Mein Leben rettend in dieser hölzernen Burg, in dieser schwimmenden Festung, in diesem Gefängnis des Meeres, das vor dem Meer mich bewahrt, bestraft von des Himmels Gnade, verborgen in diesem tiefuntersten Sarkophage, der offen für alle Sonnen, in diesem unterirdischen Luftschiff in diesem unüberwindlichen Kerker, der mich allseits zur Flucht ermuntert, verliere ich langsam die Hoffnung, Euch eines Tages wiederzusehen. Signora, ich schreibe Euch, um Euch, als unwertes Zeichen der Huldigung, die welke Rose meiner Trostlosigkeit anzubieten. Und doch erfüllt mich meine Demütigung mit Stolz, und da zu solchem Privilegio verdammt, erfreue ich mich nun gleichsam einer verabscheuten Rettung: Ich glaube, ich bin seit Menschengedenken das einzige Wesen unsrer Gattung, das schiffbrüchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff.   Aber ist das überhaupt möglich? Nach dem Datum auf diesem ersten Brief zu schließen, müsste Roberto sich gleich nach seiner Ankunft ans Schreiben gemacht haben, kaum dass er Papier und Feder in der...


Eco, Umberto
Umberto Eco wurde am 5. Januar 1932 in Alessandria (Piemont) geboren und starb am 19. Februar 2016 in Mailand. Er zählte zu den bedeutendsten Schriftstellern und Wissenschaftlern der Gegenwart. Sein Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt u.a. Die Geschichte der Hässlichkeit (2007), Der Friedhof in Prag (Roman, 2011), Die Geschichte der legendären Länder und Städte (2013), Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften (2014), Nullnummer (Roman, 2015) und Pape Satàn (Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen, 2017).

Umberto Eco wurde 1932 in Alessandria geboren und lebt heute in Mailand. Er studierte Pädagogik und Philosophie und promovierte 1954 an der Universität Turin. Anschließend arbeitete er beim Italienischen Fernsehen und war als freier Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation in Turin, Mailand und Florenz tätig. Seit 1971 unterrichtet er Semiotik in Bologna. Eco erhielt neben zahlreichen Auszeichnungen den Premio Strega (1981) und wurde 1988 zum Ehrendoktor der Pariser Sorbonne ernannt.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.