Boxerroman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-943941-48-7
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Boxen ist Tonis Leben, und so schließt er mit dem undurchsichtigen Box-Manager Bornemeyer einen Vertrag. Zu Tonis hoffnungsvollen Talenten zählt Alex. In kurzer Zeit führt er ihn zum Europameistertitel. Zum Champion aufgestiegen, zeigt Alex allerdings im Kampf gegen seinen Herausforderer Schwäche und gibt ohne Not auf.
Neben Alex wirkt Rico wie ein jüngerer Bruder. Toni hat ihn schon als 14-Jährigen in sein Camp und in sein Haus geholt. Rico bringt dem väterlichen Trainer grenzenloses Vertrauen entgegen. Die Wut über den frühen Verlust des eigenen Vaters hat er in seinen Fäusten.
Doch dann unterbreitet Bornemeyer - selbst unter Druck - Toni einen unsittlichen Vorschlag: Rico soll in einem spektakulären Schaukampf den haushohen Favoriten Alex herausfordern - Bruder gegen Bruder im Kampf um die Europameisterschaft. Millionen Zuschauer sollen das Duell bei einer Fernsehübertragung verfolgen. Es geht um das ganz große Geld.
Toni muss sich entscheiden. Soll er seinen Vertrag hinschmeißen, das Boxen, seine Existenz, aufs Spiel setzen? Oder soll er, wie es Bornemeyer von ihm fordert, den überlegenen Alex auf den ungleichen Faustkampf vorbereiten?
Er zaudert. Doch hat der Verrat an sich selbst nicht schon viel früher begonnen? Damals, als sein bester Freund nach dessen Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR in Schwierigkeiten geriet?
Der Treuebruch an seinen "Söhnen" wird folgen. Es kommt zum Showdown. Sportliche Werte des Rings, Respekt und Fairness, gelten unter Bornemeyers Ägide nicht. Und Toni hat seine Prinzipien längst im Alkohol ertränkt.
Im Boxerroman von Matthias Eckoldt ist jeder Satz ein Treffer. Seine Worte kommen wie Boxschläge, kraftvoll und präzise, wenn er die Duelle im Ring beschreibt. Die schwitzenden Körper, die jubelnde Menge, die Spannung, bevor der Gong ertönt, die krachenden Haken. Der Autor weiß, w
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WUT
Toni brauchte diesen Geruch nach Leder, Gummi und Schweiß, das Adrenalin, die Spuren der Seile auf dem Rücken seiner Boxer, den knirschenden Mundschutz, das Hetzen, Anfeuern, Schinden, das Handtuch um seinen Hals, das Rechnen, die Endlosschleifen beim Videostudium, das Grübeln über neue Kombinationen, den Sandsack, gegen den er sich stemmte, wenn seine Boxer richtig in Fahrt kamen und er sie anschrie, weil sie ihn sonst nicht mehr hörten, die gespenstische Ruhe fünf Minuten bevor er die Kabinentür aufstieß und sie durch die Katakomben liefen, raustraten vor die Menge, den verspannten Nacken seines Boxers, den er lockerte bis zum ersten Gong. All das brauchte er, um leben zu können, und er brauchte seinen Trainingsanzug, den er ohne Vertrag nicht anziehen könnte. Da käme sich Toni wie ein Scharlatan vor. Aber um ihn ging es vorerst nicht. Es ging um Rico. Als Toni ihn das erste Mal sah, fiel ihm gleich seine Haltung auf. Wenn Rico boxte, lag er windschief nach vorn gebeugt, wie die vier rostigen Stangen auf dem Schulhof, um die der Sportlehrer gelbes Band geknotet hatte. Zu Ehren von Tonis Besuch in jenem kleinen ostdeutschen Dorf. Die Termine bei seiner Talentsuche hielt er sonst so kurz wie möglich, doch diesem Jungen sah er fast eine Stunde beim Boxen zu. Rico hatte eine so präzise Achse im Körper, dass er die ganze Wucht seiner Schwerkraft hinter die Fäuste bekam. Dafür trainierten andere jahrelang. Allerdings boxte Rico das, was Toni als Telegrafenstil bezeichnete: Er stocherte mit seiner Führhand in der Deckung des Gegners herum und feuerte in unregelmäßigen Abständen seine Rechte ab. Egal, ob eine Lücke da war oder ob der Schlag einfach an der Deckung krepierte. Dabei holte er aus wie ein Speerwerfer. So waren seine Schläge hart, aber vorhersehbar: »Willst du Boxer werden?«, hatte Toni ihn gefragt. »Na klar!« »Dann hör auf, deine Schläge durchzutelegrafieren. Wenn du so boxt, kannst du höchstens deinen Gegner einschläfern, aber nicht umhauen.« »Von wegen! Ich gewinne doch andauernd.« »Zufall!« Das stimmte natürlich nicht. Toni hatte gesehen, was Rico mit seinen Fäusten anrichten konnte – und das, so schätzte er, mit gerade einmal zwanzig Prozent seiner Möglichkeiten. Er holte ihn in die Boxerklasse der Kinder- und Jugendsportschule. Rico gefiel, dass er nur noch zwei Mal in der Woche Unterricht hatte und ihn niemand mehr mit Hausaufgaben quälte. Ab jetzt stand Boxen an erster Stelle, und Sitzenbleiben gab es an dieser Schule nicht. Beim ersten Einzeltraining band er Ricos linken Arm am Körper fest. »Jetzt will ich eine saubere Führhand sehen! Los, los, los!« Rico brachte nicht einen vernünftigen Schlag mit der Rechten raus. Die Plattformbirne bekam er gar nicht in Gang. Zumeist saß nur die erste Faust, dann irrte seine Hand tapsig wie die eines Linkshänders umher. Toni musste lachen. »Rico, das ist kein Luftballon. Und du bist hier nicht beim Kindergeburtstag! Hau ran, mein Junge! Mach mir einen vernünftigen Rhythmus!« »Nö. Ich schaff das nicht!« Rico ließ die Rechte sinken. Noch nie schien ihn jemand gefordert zu haben, und so tat Rico nur das, was ihm zufiel. Aber damit war jetzt Schluss. An Ricos Genörgel mochten seine Eltern verzweifelt sein, sicher auch die Lehrer in der Schule, aber nicht Toni. Er wusste genau, wie er ihn dort hin bekam, wo er ihn haben wollte. »Habe ich gesagt, dass Pause ist? Mach weiter. Lass das Bällchen hüpfen!« »Es klappt nicht. Verdammte Scheiße.« Rico schlug mit solcher Wucht gegen die Boxbirne, dass es schepperte. Der Lederball flog zurück und traf Rico an der Stirn. So lief es gut. Training fing für Toni erst dort an, wo es wehtat. Alles andere war nur Amüsement. Freizeitsport. »Haben wir ein großes Ziel?« Als Rico leise vor sich hin maulte, fasste ihn Toni im Nacken: »Guck mich an! Haben wir ein großes Ziel?« Rico nickte. Dabei lief ihm eine Träne die Wange herunter. »Ich höre nichts, verdammt. Haben wir ein großes Ziel?« »Ja.« »Ich versteh dich nicht!« »Ja!«, schrie Rico. »Dann lass uns arbeiten.« Toni stellte sich hinter ihn und führte seine Hand. Die Tränen liefen, und der Ball begann zu tanzen. »Und jetzt dranbleiben, mein Junge.« Nach zwei Wochen Training nahm Toni ihn zum ersten Mal mit in die große Halle. Als Rico den Boxring sah, wie er im staubigen Licht der Mittagssonne vor ihm lag, musste er grinsen. Drei Runden waren angesetzt gegen einen stämmigen Burschen aus einer höheren Klasse. »Jetzt zeig mir, was du gelernt hast. Du boxt in Rechtsauslage. Egal, was passiert. Rechts ist deine Führhand, links deine Schlaghand. Klar?«, rief Toni. »Weiß ich doch!« Rico hatte sich schwarze Striche auf seinen Mundschutz gemalt und sah aus, als hätte er gewaltige Zahnlücken in der Vorderfront. Die erste Runde lief noch ganz gut. Rico hielt die Fäuste geschlossen. Mit dem Oberkörper pendelte er geschickt. Nur die Beinarbeit gefiel Toni nicht. Rico stand zu eng. Die Füße fast auf gleicher Höhe. Sein Gegner war einen halben Kopf größer und drei Kilo schwerer. Er schlug auf Ricos Handschuhe ein wie ein Verrückter auf die Wände der Gummizelle. In der ganzen ersten Runde war er nicht ein einziges Mal durchgekommen. In der Pause stürzte der Schweiß aus seinem Gesicht, während sein Trainer auf ihn einschrie. Toni blieb ganz ruhig: »Gut, mein Junge. Gute Deckung. Achte auf die Grundstellung. Breitere Beine. Rechter Fuß vor. Du bist jetzt Rechtsausleger. Greif an! Und nur Rechtsauslage. Hast du verstanden?« Ricos Gegner schien deutliche Order von seinem Trainer bekommen zu haben. Er ging rückwärts und schlug kaum noch. Rico machte jetzt den Kampf, vornweg immer seine rechte Führhand. Der Gegner ließ seine Fäuste fallen und wich den Schlägen aus. Als Rico seine linke Schlaghand brachte, wischte der Ältere sie arrogant mit dem Handschuh weg. Die erste, die zweite und die dritte. Unter der vierten tauchte er durch und schoss seine Rechte ab. Direkt aufs Kinn. Rico taumelte. Als noch eine Rechts-Links-Rechts-Kombination einschlug, unterbrach Toni den Kampf. »Alles okay, mein Junge? Kannst du mich sehen?«, Toni ließ das Handtuch kreisen. »Pass besser auf die Deckung auf. Und jetzt musst du weiterboxen!« Rico nickte abwesend. »Du schaffst das!« Toni schubste Rico in die Ringmitte, doch der boxte mit angezogenen Schultern. Prompt fing er sich noch zwei Kombinationen und ging zu Boden. Der gegnerische Trainer schrie: »Wenn der noch mal hochkommt, hack ihm die Rübe vom Stamm!« Es ging weiter. Rico wechselte die Auslage und knallte seinem siegessicher heranstürmenden Gegner eine rechte Gerade auf die Nase. Ansatzlos. In der Schrecksekunde schob Rico noch einen Kinnhaken nach, der dem anderen die Beine fortriss. »Du sollst in Rechtsauslage boxen, verdammt. Rechtsauslage!«, schrie Toni. Rico stellte seinen Gegner in der Ringecke. Der versuchte, sein blutendes Gesicht hinter den Handschuhen zu verstecken, aber Rico schlug ihm die Fäuste weg. Da flog das Handtuch. Rico jubelte, bis ihm klar wurde, dass Toni es geworfen hatte. »Noch zwei Schläge, und der Typ wäre fertig gewesen.« Rico rüttelte an den Ringseilen. »Ich habe gesagt, dass du den ganzen Kampf in Rechtsauslage boxen sollst.« »Aber …« »Nichts aber! Nur der schwere Weg führt zum Erfolg! Morgen ist Sondertraining. Und jetzt geh rüber und gratulier’ deinem Gegner.« Als Toni die Haustür aufdrückte, hörte er seine Frau kichern. Wahrscheinlich spielte Irina mit Rico Backgammon. Er verschwand gleich in seinem Zimmer im Souterrain. Seine Höhle. Die Fenster zu ebener Erde, mit schweren Vorhängen. Hier schrieb er die Trainingspläne, hier las er neueste Studien zum Muskelaufbau und zur Entwicklung der Schnellkraft, hier errechnete er die Nahrungszusammensetzung für seine Boxer, und hier schlief er auch. Es war einer der beiden Räume, die sie eigentlich für Kinder vorgesehen hatten, aber es war keins gekommen. Ihre Kinderlosigkeit war so bitter wie ein Niederschlag im Ring. Der Mannschaftsarzt redete ihm noch zu, er solle die Hoffnung nicht aufgeben. Ein paar Jahre ohne das harte Training, und schon wäre er glücklicher Vater. Doch es kam anders. Toni trainierte ab, indem er schubkarrenweise Steine und Zement auf das Grundstück fuhr. Das Wohnungsbauprogramm der Regierung hatte ihnen zwar ein kleines Stück Land in die Hände gespielt, doch Bauleute für Privathäuser bekam man nur schwarz an den...