Eckoldt | Kritik der digitalen Unvernunft | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 84 Seiten

Reihe: update gesellschaft

Eckoldt Kritik der digitalen Unvernunft

Warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt

E-Book, Deutsch, 84 Seiten

Reihe: update gesellschaft

ISBN: 978-3-8497-8359-4
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Vertrauen in die Institutionen von Staat, Medien und Wissenschaft hat in Teilen der Bevölkerung während der Corona-Pandemie weiter abgenommen. Paradoxerweise in einer Krise, in der Zusammenhalt, koordiniertes Handeln und Aufklärung die entscheidenden Werkzeuge zu ihrer Bewältigung waren.

In seinem Essay sucht der Wissenschaftsautor und Medientheoretiker Matthias Eckoldt nach Gründen für diese neue Form der Irrationalität. Dazu taucht er tief hinab in die Strukturen des digitalen Kapitalismus, der die User:innen auf bizarre Weise zur freiwilligen Teilnahme an Experimenten zur Verhaltenssteuerung verführt, um daraus schwindelerregende Profite zu schöpfen. Die sogenannten sozialen Medien fungieren in diesem Prozess als virtuelle Trainingscamps für Extremist:innen, die stabilisierende Rolle der Massenmedien verliert an Tragkraft. Es zeichnet sich ein Bewusstseinswandel ab, und eine ganze Kulturepoche scheint ihrem Ende entgegenzutaumeln.
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Zielgruppe


kulturell und politisch Interessierte und Aktive
Journalist:innen
allgemeines Lesepublikum


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2Digitale und narzisstische Selbsterregung
Genauer betrachtet, ist es jedoch ein wenig viel der Ehre, Amazon als Exekutanten des Medienwandels zu bezeichnen. Treffender wäre es wohl, von einem Symptom zu reden, von einer Begleiterscheinung, einem Epiphänomen, das von einer tiefer liegenden Ursache zeugt. Als wirklich treibende Kraft kann unschwer die Digitalisierung ausgemacht werden. War ursprünglich mit diesem Begriff lediglich die Transformation der analogen Welt in binäre Codes gemeint, hat er sich in den 2010er-Jahren des neuen Millenniums aufgebläht und steht im deutschen Sprachraum mittlerweile für die Gesamtheit der Veränderungen, die durch computergestützte und algorithmengeleitete Vernetzung in allen Teilen der Gesellschaft ausgelöst werden. Der Soziologe Armin Nassehi geht so weit, den Beginn der Digitalisierung bereits ins 19. Jahrhundert zurückzudatieren, als die ersten Sozialstatistiken erhoben wurden und die westlichen Industriegesellschaften auf dieser Grundlage entsprechende Strukturen der Differenzierung ausprägten. Insofern handele es sich bei der Digitalisierung weniger um einen radikalen Wandel, sondern vielmehr um die Sichtbarmachung bereits angelegter Muster. So gesehen, geht Nassehi sogar nicht weit genug. Denn die Überschreibung analoger Tatsachen ins Digitale begann nicht erst in der aufstrebenden Moderne. Bereits am Startpunkt der Neuzeit wurde mit der Technologie des Buchdrucks ein Medium ins Werk gesetzt, das die Mathematisierung aller Seinsbereiche und damit die Entstehung von Mustern initiierte, die digitale Kompatibilität aufweisen. Nicht von ungefähr stammt das Wort »digital« vom Lateinischen digitus ab, das nichts anderes als »Finger« bedeutet. Das Zählen als mathematische Grundoperation erzeugt Muster, indem von den analogen Eigenschaften der Finger abgesehen – ergo abstrahiert – wird, damit Weltdinge mit Nummern und Zahlen gleichsam überschrieben werden können. Sicher wurde auch vor dem Gutenberg-Zeitalter bereits gezählt, aber nach dem streng typografischen Prinzip mathematisiert wurde erst in Zeiten des Buchdrucks. Erst mit der Druckmatrize startete der Aufstieg des Diskreten in der Welt, das Trennung, Teilung und Zerlegung als Wahrnehmungsbedingung inthronisierte und auf diese Weise spezifische Muster entstehen ließ, die im Digitalen nun – hegelianisch gesprochen – zu sich selbst kommen. Die elektronischen Medien verändern die Welt rasend schnell. Das sah der erkenntnistheoretisch begnadete Schamane McLuhan bereits, obwohl er zehn Jahre, bevor das World Wide Web öffentlich zugänglich wurde, an einem Hirntumor starb. Es ist pure Spekulation, ob eine angelegte Hirnanomalie McLuhan einerseits krank und andererseits zu einem besonders hellsichtigen Denker machte. Fest steht, dass er eine flamboyante paranoische Denkmatrix entfaltete – vergleichbar der eines Michel Foucault –, in deren Sog man immer wieder auf Verbindungen stößt, die einem sonst nicht einmal im Traum auf- beziehungsweise eingefallen wären. Dank einer solchen Denkweise können jene Veränderungen in den medialen Grundstrukturen ausgemacht werden, die zu einer Perspektivverschiebung der Weltwahrnehmung führen. In der Post-Gutenberg-Galaxis kollabiert das Zeitkontinuum, die Linearität des auf A folgenden B, weil das elektrische Signal mit zeitüberbrückender Lichtgeschwindigkeit übertragen wird und daher überall zugleich sein kann. Auch der Raum hat in ebenjenem Überall, um es ein wenig kalauernd zu sagen, keinen Platz mehr. Welche Rolle spielt noch die unmittelbare Umgebung, wenn man zugleich in allen nur denkbaren anderen Welten sein kann? »Alles, was der Fall ist«, wird durch den elektrischen Impuls zum Nichtgegenständlichen, zur Simulation, um mit dem französischen Medientheoretiker Jean Baudrillard zu sprechen. Ohne Gegenstände aber gibt es auch keinen Raum. Medien erweitern die erstaunlich geringen somatischen Fähigkeiten des Menschen. Als Nackter betrachtet, ist er geradezu ein Mängelwesen, das sich durch keinerlei körperliche Überlegenheit gegenüber den anderen Tieren auszeichnet. Er kann weder sonderlich schnell rennen, noch besitzt er unbändige Muskelkräfte, martialische Greifzähne oder Giftdrüsen, mit denen er sich Respekt verschaffen könnte. Er verfügt über nichts außer einer im Verlauf der Evolution nie gesehenen Neugier, mit der er die Welt erkundet und Techniken erfindet, die ihn zum angsteinflößenden Prothesengott machen. Jede Technik ist zugleich ein Medium, weil sie die sensomotorische Kompetenz des Menschen vergrößert. So wie das Rad den Fuß erweitert, macht es die Kleidung mit der Haut, die Axt mit der Hand, der Buchdruck mit dem Auge. Die mit Radio und Fernsehen startende und sich im Internet vervollkommnende elektrische Schaltungstechnik erweitert schließlich sogar das Zentralnervensystem, dessen evolutionär erfolgreiche Idee es war, im Inneren eine Instanz zu schaffen, die den Körper als Außenwelt erfährt. Das Zentralnervensystem des Menschen bildet nämlich den gesamten Körper auf der Großhirnrinde ab. Motorischer beziehungsweise sensorischer Homunculus ist die für die Neuroanatomie erstaunlich poetische Bezeichnung für diese Hirnareale, die den Körper in seinem Inneren simulieren: Von den Augen über die Ohren und die Genitalien bis zum großen Zeh. Im Inneren des Körpers, im Zentralnervensystem, ist das Äußere dieses Körpers präsent. Ebenso vice versa: Das Zentralnervensystem ist zugleich außen, um den Körper, den es reflektiert, abzutasten. Diese in der Eigenfrequenz schwingende Resonanzstruktur wird von Fernsehen, Radio und Internet nicht einfach nur angeregt, sondern erweitert. Das Zentralnervensystem des Menschen überzieht damit die gesamte moderne, elektronisch medialisierte Welt. Anders als beim Buchdruck und seinen Vorläufermedien, die jeweils nur einen Sinn erweiterten, erfassen die elektronischen Medien damit die Grundstruktur menschlicher Wahrnehmung selbst. Das heißt zugleich aber auch: Der ganze Mensch wird ins digitale Mediensystem verstrickt. Seine Beteiligung ist gnadenlos, weil sich zugleich mehrere Sinne an ihrem eigenen Gebrauch erregen. So begegnet das Auge im Bildschirm seiner eigenen objektivierten Gestalt. Hier wird genauso gesehen, wie es selber sieht. An diesem Sehen des Sehens vergnügt sich das Auge, hier empfindet der Sehsinn Lust. Dasselbe geschieht dem Ohr. Es hört sich selbst beim Hören zu. Auge und Ohr erfahren in den digitalen Medien eine narzisstische Selbsterregung, die es so schwer macht, offline zu schalten. Dem User ergeht es wie Narziss im Mythos, der sich, von Aphrodite bestraft, in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Narziss leitet sich mit gutem Grund von narkosis ab. Er wird durch die Ausweitung seiner selbst narkotisiert, so wie wir durch die Ausweitung unserer Sinne betäubt werden. Wir lassen uns fesseln wie jener unglückliche Jüngling von seinem Konterfei. Und wie dieser in der Quelle sein Antlitz nicht als sein eigenes erkennen kann, haben wir größte Mühe, unsere eigenen Sinne auf dem Bildschirm wiederzuentdecken. Deshalb müssen wir, wie Narziss, immer wieder hinschauen und werden süchtig – scheinbar nach den elektronischen Medien, im Tiefsten aber nach uns selbst. Ohne zu wissen, wer wir sind und wem wir eigentlich zuschauen, können wir uns nur an die Inhalte halten, die den elektronischen Medien als Trojanisches Pferd dienen. In seinem Bauch ist die Botschaft des Mediums verborgen. Und die heißt: gnadenlose, omnipräsente Einverleibung der Gesamtpersönlichkeit im Digitalen durch die Erweiterung des Zentralnervensystems und die Selbsterregung der Sinne. Das Internet bricht radikaler noch als Fernsehen und Radio mit deren zumindest noch an die Welt des Buchdrucks erinnernden Programmschienen, mit jeder Zeitstruktur. Hier gibt es nur noch die Gleichzeitigkeit verschiedenster Text-, Bild-, und Ton-Informationen. Die Rundfunkmedien folgen mittlerweile diesem Prinzip, indem sie ihr gesamtes Sendeangebot online abrufbar machen und um zusätzlichen Inhalt bereichern. So betreiben sie nolens volens – nicht nur aus medientheoretischer Sicht – ihre Selbstauflösung. Auch der Raum schmilzt mit den digitalen Simulationen ein. Die Bewegungsart im Internet ist das Surfen. Und Surfen ist eine Bewegung, der es um die Bewegung selbst, nicht um den Raumgewinn geht. Das Gebot lautet: Oben auf der Welle sein. Es geht um Geschwindigkeit um ihrer selbst willen, die im zeitfreien Unraum der Gegenwart gleichsam explodiert. Vorne ist dort, wo sich keiner auskennt. Sicher ist nur: Wer verweilt, stürzt von der Welle ab. Die von der neuen Weltwahrnehmung im Zeichen der Autoerotik und radikalen Gleichzeitigkeit erzeugte Unruhe kommt in den sogenannten sozialen Medien wie in einem Durchlauferhitzer zum Sieden und greift von dort immer wieder auf die erste, sinnlich wahrnehmbare Realität der Gesellschaft über. So standen sich am 21. Mai 2016 in Houston, Texas, plötzlich zwei politisch aufgewühlte Menschengruppen kampfbereit gegenüber. Die einen forderten zornig, die weitere Ausbreitung des Islam in den USA zu stoppen, die anderen protestierten gegen diese Forderung. Die Begegnung der Kombattanten hatte...


Matthias Eckoldt, Dr., studierte Philosophie, Germanistik sowie Medientheorie und promovierte mit einer Analyse der Massenmedien auf Grundlage der Luhmann’schen Systemtheorie und der Foucault’schen Machtanalytik. Autor von Romanen, Prosa, Fachbüchern, Theaterstücken, Essays und Radiomanuskripten. Im Carl-Auer Verlag sind von ihm erschienen: Die ewige Wahrheit und der Neue Realismus (2019, zus. mit Markus Gabriel), Kann sich das Bewusstsein bewusst sein? (2017) und Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? (2. Aufl. 2014). Seine Arbeit im Radio wurde 2009 mit dem idw-Preis für Wissenschaftsjournalismus gewürdigt. Daneben erhielt er ein Recherchestipendium des American Council on Germany in New York, ein Aufenthaltsstipendium des Künstlerhauses Lukas in Ahrenshoop sowie den Jury-Preis des Berliner Hörspielfestivals. Schwerpunkte: Systemtheorie der Massenmedien, Machtanalytik moderner Gesellschaften, Konstruktivistische Paradigmen, Moralphilosophie, Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Zurzeit lehrt Matthias Eckoldt als Schreibdozent an der FU Berlin.


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