Woher wir wissen, wie wir fühlen und denken
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-11409-1
Verlag: Pantheon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In den vergangenen Jahrhunderten mussten die Wissenschaftler, die unser Gehirn erforschten, ihre Konzepte immer wieder verwerfen – was einmal glanzvoll bewiesen schien, galt bereits wenig später als widerlegt. Und auch heute nehmen die offenen Fragen eher zu als ab – können wir unser Gehirn überhaupt verstehen? Und woher wissen wir, wie wir fühlen und denken?
Der vielfach prämierte Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt nimmt uns mit auf einen anregenden und kenntnisreichen Streifzug durch die Geschichte des Gehirns und seiner Erforschung, die von der Steinzeit bis ins heutige Internetzeitalter reicht, vom »Lebensgeist« der Griechen bis zu Spiegelneuronen und modernen Netzwerktheorien.
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Weder Strom noch Nerven
Man stelle sich eine Welt vor, die keine Elektrizität kennt: Es gibt keine Kraftwerke, keine Überlandkabel, keine Steckdosen und kein Licht von Glühlampen. Auch keine Staubsauger, Computer, Radios und dergleichen. Darüber hinaus existiert der Begriff »Nerven« nicht. Spräche man das Wort aus, würde man reihum nur Schulterzucken ernten und fragende Blicke auf sich ziehen. Wie redet man über das Gehirn in einer solchen Epoche, da noch keine Neurone feuern, niemand Aktionspotentiale nachzuweisen sucht und kein Nervensystem den Körper durchzieht?
Das Gehirn spielt im antiken Griechenland keine Rolle. Es gibt ja auch noch keine Hirnforscher. Nicht einmal Naturwissenschaftler kennt man in jenen Zeiten, ebenso wenig wie Geisteswissenschaftler. Das Universum des Wissens ist noch nicht in verschiedene Gebiete zerfallen. Auch für die neuzeitliche Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion hat man keine Verwendung. Die von Homer gesungenen Epen sind für die Griechen real, wobei ihr Begriff von Realität nicht dem unsrigen entspricht. Die menschlichen Konflikte ihrer Götter haben in etwa den Stellenwert, den für uns die Geschichte einnimmt. Es handelt sich um Episoden vergangener Zeiten, die man selbst nicht bezeugen kann, aus denen heraus man aber Teile der eigenen Existenz und Kultur zu erklären vermag. Allerdings erfährt auch der Begriff des Erklärens eine andere Bedeutung, da Spekulation und analytisches Denken nicht als Widerspruch empfunden werden.
Die höchste Stufe geistiger Tätigkeit sehen die Griechen in der Kontemplation. Man blinzelt in die Sonne, legt sich zu Tisch, redet, debattiert und kräftigt die rhetorischen Muskeln, wann immer sich Gelegenheit dazu bietet. Die kühne These gilt in jenen Tagen mehr als die fleißige Empirie. Wieso soll man die Hände gebrauchen, solange man die Gedanken benutzen kann? Aber woher kommen die Gedanken? Was denkt in einem? Worin besteht die Eigenheit der Seele?
Bei solchen Fragen geht es nicht darum, der geistigen Welt einen Ort zu geben, um sie darauf festzulegen, sondern eher darum, sie zu würdigen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Meisterlich und für die folgenden Zeiten vorbildgebend gelingt das Sokrates (469–399 v. Chr.), der im 5. Jahrhundert v. Chr. auf den Plätzen Athens zu finden ist, wo er sich lieber aufhält als zu Hause bei seinem zänkischen Weib. Er verstrickt seine Mitbürger in endlose Dialoge. Jedenfalls berichten das seine Getreuen und stellen ihn als einen unwiderstehlichen Diskutanten dar. Sokrates selbst bezeichnet sich als würdigen Sohn einer Hebamme, denn seine Kunstfertigkeit sieht er darin, die Gedanken seines Gegenübers zur Welt zu bringen. Sokrates zieht alles sicher Geglaubte in Zweifel, so lange, bis sein Dialogpartner zu der einzig sicheren menschlichen Erkenntnis kommt, der Erkenntnis des fundamentalen Unwissens. Zu wissen, dass man nicht weiß, steigt durch Sokrates zur höchsten Einsicht auf.
Bescheidenheit ist gefragt, wenn man bekennt, nicht zu wissen. Denn hier geht es um alles, um die grundsätzliche Unfähigkeit, Wissen auf ein festes, allgemeingültiges Fundament zu stellen. Wer sich mit Sokrates auf einen Dialog einlässt, wird rasch erkennen, dass er Wissen mit dem Schein davon verwechselt, weil die Seele keinen festen Grund zu fassen bekommt. Das Denken und Meinen richtet sich nach außen in der Sorge um die materiellen Güter. Mit dieser Ausrichtung springt man jedoch unter der Latte durch, die ? von wem auch immer ? durch die Gabe des Verstandes aufgelegt wurde. Das Höchste, das mithilfe der Vernunftbegabung geleistet werden kann, besteht in der Reflexion des Denkens selbst, und der Gipfel der Erkenntnis ist dementsprechend Selbsterkenntnis. So gibt es das Orakel von Delphi Sokrates jedenfalls zu verstehen, der fortan die Sorge seiner Mitbürger um Reichtum und Fortkommen in der Welt auf die Seele umwenden will und sie mit seiner Denkmethode in ihre eigenen Widersprüche verstrickt. Wacklig wird den Athenern der Boden unter den Füßen, wenn sie sich letztlich eingestehen müssen, dass sie Glück im Materiellen und Verwirklichung in Ämtern suchen. Denn über all diese äußeren Dinge besitzt man keinerlei Verfügungsgewalt. Was ist das für ein Glück, das zusammen mit dem Reichtum verschwindet? Wie tragend ist ein Lebenssinn, der sich mit dem Verlust eines Amtes auflöst? Wer auf diese Äußerlichkeiten baut, verfehlt sein Leben. Die Seele kann ihrem Vermögen nach nicht in Einsicht und Vernunft wirken. Sie verfällt aus Unwissenheit dem Schlechten und wird die Glückseligkeit nicht erfahren.
Am Ende seines Lebens kann Sokrates seine Armut als Beweis seiner Tugendhaftigkeit anführen. Er habe das Dasein damit zugebracht, Selbsterkenntnis zu üben, und keine Zeit darauf verschwendet, Besitz und Renommee anzuhäufen. Seinen letzten Gang geht er denn auch in völliger Gelassenheit. Zum Tode verurteilt, weil er angeblich die Götter gelästert und die Jugend verdorben habe, trinkt er den Schierlingsbecher ungerührt, nicht ohne sich vorher beim Scharfrichter zu erkundigen, auf welche Weise er die effektivste Wirkung zeitige. So beweist Sokrates, wie wenig man an der Welt des Materiellen zu hängen braucht, wenn man sein Leben dem Vermögen der Seele gemäß auf Verstand und Vernunft ausgerichtet hat. Dann kann man sogar den eigenen Körper gehen lassen, und der Schrecken des Todes verlischt. Vor seiner Hinrichtung spricht Sokrates zu seinen Freunden wohl die gelassensten letzten Worte, die je einem Menschen in einer solchen Situation über die Lippen gekommen sind: »Es ist Zeit, dass wir gehen; ich um zu sterben, und ihr um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer Gott.«2
Mit seiner Art des Philosophierens gibt Sokrates den Startschuss zur Erforschung der denkenden Substanz. Er beschließt jene Epoche, die wir heute als die der Vorsokratiker bezeichnen und in der auf materialistische Weise über die Weltprinzipien und ersten Ursachen aller Prozesse spekuliert wurde. Sokrates gibt dem Nachdenken unter und über den Menschen seinen Platz und leitet somit das große Projekt der Selbstreflexion ein. Die Frage nach dem Sitz der Empfindungen und nach den Mechanismen des Geistes ist damit, wenn nicht explizit, so doch implizit gestellt. Nun muss sie ausformuliert werden.
Wie die Seele unsterblich wird
Platon (428/427–348/347 v. Chr.) gehört zu der Schülerschar, die Sokrates durch Athen folgt. Anders als sein Lehrer, der zeitlebens keine einzige Zeile schreibt, hält er all seine Gedanken fest und errichtet ein philosophisches Gebäude, auf das alle Denker nach ihm Bezug nehmen werden. Der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) wird zweieinhalbtausend Jahre später konstatieren, dass die gesamte abendländische Philosophie lediglich aus Fußnoten zu Platons Werk bestehe.3 Seine Bewunderung für Sokrates drückt Platon aus, indem er ihm die Hauptrolle in seinen philosophischen Dialogen gibt.
Besonders im Timaios geht es um die Natur der Seele, die von Platon als dreigeteilt erlebt wird. Die wichtigsten Themen des athenischen Stadtstaates begegnen einem hier wieder. Zuerst wäre da der Mut, den der Einzelne stets unter Beweis stellen muss, da man in den kriegerischen Zeiten – es geht um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum – im Prinzip jederzeit zu den Waffen gerufen werden kann. Des Weiteren geht es den Hellenen, wie allen früheren und späteren zivilisatorischen Gemeinschaften, um den Umgang mit den Begierden, die bereits die Götter in Homers Epen ein ums andere Mal ins Verderben stürzen. Das Begehren ist jedoch nicht rundheraus abzulehnen, da es zugleich auch das Überleben sichert. Schließlich drängt etwas im Menschen nach Erkenntnis und Einsicht, wovon das Leben des Sokrates ein so strahlendes Beispiel gegeben hat.
Wo sitzt nun der Mut? Anders gefragt: Welches Organ reagiert am stärksten, wenn Mut gefordert ist? Welcher Teil des Körpers streckt sich stolz empor, um Widrigkeiten und Gefahren entgegenzutreten? Sicherlich die Brust, die vom Herzen ausgefüllt wird, das wie toll schlägt, sobald Mut verlangt wird, und vor Euphorie hüpft, wenn die gefährliche Situation überstanden ist. Platon verlegt den mutigen Seelenteil also ins Herz.
Und das Begehren? Wo fühlt man die Lust unter der hellenischen Sonne? Hierfür kommt nur der Unterleib infrage. Dort rumort die Kraft der Lenden, immer zum Ausbruch bereit.
Wo anders als im Kopf kann der erkennende Seelenteil sitzen? Stützt man ihn nicht in die Hände und reibt die gefaltete Stirn, sobald man sich über ein anspruchsvolles Problem Klarheit verschaffen möchte? Hier kann sich Platon, dem Empirie in der praktischen Welt fernlag, auf Hippokrates von Kos (480–370 v. Chr.) berufen. Jenen Vater der Medizin, der mit seinem Eid, wonach ein Arzt nur zum Nutzen des Patienten zu handeln hat, bis in unsere Tage hineinwirkt. Hippokrates hat zwar keine sonderlich hohe Meinung von dem Organ »in der geräumigen Kopfhöhle«, das »weiß und bröckelig«4 sei und höchstens den Stellenwert einer Drüse haben könnte. Doch immerhin billigt er dem Gehirn zu, als Mittler des Verstandes zu fungieren. Als ursächlich aber für alle intellektuellen Höhenflüge sieht er die Luft an. In ihr lägen alle höheren geistigen Eigenschaften, sie sei es, die dem Gehirn Einsichtsfähigkeit gäbe, da sie dort oben zuerst und in reinster Form ankäme. Auch Platon sieht den erkennenden Seelenteil im Kopf. Zwar hält er nichts von der Luft als geistigem Medium, dennoch verleiht er der denkenden Substanz im Gehirn einen besonderen Status, da er in ihr den Sitz der unsterblichen Seele...