E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Ebrahimi Und Federn überall
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-30593-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman - Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2025
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-30593-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nebel liegt über den Feldern und dem Kanal. Es ist, als ob der Winter nicht zu Ende gehen will in der kleinen Stadt Lasseren im Emsland. Hier auf dem platten Land ist jahrein, jahraus nicht viel los. Wer Arbeit sucht, kommt an Möllring nicht vorbei, dem riesigen Geflügelschlachthof am Stadtrand. Für eine Handvoll Menschen beginnt dieser Montagmorgen mit großen Erwartungen. Sonia, alleinerziehende Mutter, hofft auf einen Job weit weg vom Hühnchen-Zerlege-Fließband. Für die junge Ingenieurin Anna steht mit dem Testlauf eines neuen Automatisierungsverfahrens bei Möllring so gut wie alles auf dem Spiel. Merkhausen wiederum, verlassener Ehemann mit einem Faible für Polinnen und zuständig für die Prozessoptimierung im Schlachtbetrieb, fiebert einem Date am Abend entgegen. Und dann ist da noch der geflüchtete Afghane Nassim, der sich in eine Affäre mit der zwanzig Jahre älteren Justyna verstrickt und fest daran glaubt, dass seine Gedichte die deutschen Beamten erweichen werden. Um diese zu übersetzen, ist Roshi, deutsch-iranische Autorin, extra aus Köln angereist. Als ein rücksichtsloser Fahrradfahrer dem sehbehinderten Mann mitten im Ort den Blindenstock kaputt fährt, bringt Nassim es mithilfe des örtlichen Radiosenders nicht nur zu lokaler Berühmtheit. Er bringt auch die Menschen dazu, der eigenen Wahrheit ins Auge zu sehen.
Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Nava Ebrahimi taucht ein in das Leben einer kleinen Stadt im Emsland und verknüpft die Geschichten von sechs Menschen zu einem mitreißenden Gesellschaftsroman über die Frage: Wie bleiben wir menschlich, wenn das Leben immer härter wird?
Autoren/Hrsg.
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Sonia
Die Hennen. Sie wachte jeden Morgen mit den Hennen im Kopf auf. Sie wachte mit den Hennen im Kopf und auf dem Rücken liegend auf, mit offenem Mund und trockener Kehle. Sie schluckte. Noch während sie die Augen aufschlug, wurde ihr bewusst, dass sie wirklich dringend einen neuen Job brauchte. Im nächsten Moment schon hörte sie durch die halb offene Tür quietschende Autoreifen, Polizeisirenen, Schüsse, leiser als sonst, aber ganz eindeutig, die Große hatte den Gaming-PC angeschaltet, obwohl sie ihr das an Schultagen verboten hatte. Draußen herrschte noch Dunkelheit, die wenigen Lichtquellen im Raum ließen sie jedoch erkennen, dass die Uhr an der Wand gegenüber kurz nach sechs anzeigte. Schon rollte sich die Wut in ihr aus, doch nein, halt, halt, halt, der Tag war erst wenige Sekunden alt, sie hatte die Welt nicht einmal richtig scharf gestellt, wollte sie diese Woche wirklich so beginnen? Sie atmete ein und aus, und die Wut rollte sich zwar nicht wieder ein, aber stoppte auf halbem Wege. Sie verbuchte das als kleinen Erfolg, weil ihr die Ärztin gesagt hatte, sie solle Erfolge verbuchen, auch kleine. Die Glücksgefühle blieben allerdings aus, denn sie wusste, jetzt hatte sie die Wut bremsen können, ihr Körper hatte ihr rechtzeitig signalisiert, dass er für einen Wutausbruch noch nicht genügend Kraft besaß, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sich die Wut heute irgendwann entladen würde, in wenigen Minuten womöglich oder spätestens am Abend, wenn es darum ging, diesen Kasten im Zimmer ihrer Tochter wieder auszuschalten. Sie hatte bereits gelernt, dass, je mehr sie sich vornahm, nicht auszurasten, es desto sicherer passierte. Also nahm sie es sich gar nicht erst vor.
Stattdessen bemühte sie sich, den Lärm positiv zu sehen, als Zeichen dafür, dass Leonie aufgewacht war und lebte. Das klappte nicht gut. Als Nächstes versuchte sie, die rasenden Geräusche und Gedanken in den Hintergrund zu drängen und sich zu konzentrieren, jetzt, da sie auf der ausgezogenen Couch im Wohnzimmer lag und niemand etwas von ihr wollte. Sie versuchte, diesen Moment zu nutzen und sich innerlich auf das Bewerbungsgespräch für den Job in der Lohnbuchhaltung vorzubereiten. Von der Zerlegung in die Verwaltung von Möllring, das wäre ihre Rettung. Im Geiste formulierte sie erste Sätze.
Nein, nein, nein, es war zu früh und sie offenbar noch nicht ganz bei Sinnen. Sie würde sich später, im Bus oder während der Mittagspause auf das Gespräch einstimmen und sich ein paar Sätze zurechtlegen.
Aber jetzt musste sie allmählich aufstehen.
Sie schlug die Bettdecke zur Seite und blickte an sich hinunter. Ihr Busen fiel schlaff den Brustkorb hinab. Wie fühlte sich das an, wenn die Enge in der Brust echt war? Wenn sich die Lungen nicht ausdehnen konnten? Und das Herz mit jedem Schlag an eine Wand stieß? Sie konnte nicht sagen, woher dieser Zwang, sich in die Hennen hineinzuversetzen, rührte. Hennen – sie dachte immerzu an Hennen, nicht an Hähnchen, und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass in ihrer Vorstellung nur die weiblichen Exemplare an Wooden Breast litten, an der Verhärtung des Brustfleischs, die männlichen hingegen nicht. Wieso bloß? Und wieso überhaupt das alles, wieso ließen diese Gedanken sie nicht mehr los?
Anfangs waren sie während der Schicht gelegentlich aufgeblitzt, dann immer häufiger, und mittlerweile zwangen sie sich ihr überall und jederzeit auf. Diese Gedanken drehten sich in ihrem Kopf unaufhörlich im Kreis, führten nirgends hin, höchstens zu einer Kündigung, weil sie ihre Abtastrate verschlechterten. Sie war vorher schon, als sie von den hellrosa Fleischlappen noch keine Verbindung zu den Hennen und von den Hennen noch keine Verbindung zu sich gezogen hatte, nicht die schnellste gewesen. Die Rumäninnen und Polinnen oder was auch immer hatten flinkere Hände. Kein Wunder, sie blieben ja nie lange da. Sie kamen und gingen, woher und wohin, das wusste Sonia nicht. Sie zählte zu den wenigen, die blieben, worüber sie froh sein musste.
Das sagte ihr Fallmanager im Jobcenter ständig:
Ihr beruflicher Werdegang: abgebrochene Ausbildung zur Hotelfachfrau – sie war Mitte des zweiten Jahres schwanger geworden –, abgebrochene Ausbildung zur Notariatsgehilfin – der Notar hatte zu viel Alkohol getrunken, den Überblick verloren, Mist gebaut und wurde seines Amtes enthoben. Dann hatte sie einige Jahre halbtags im Einzelhandel gearbeitet. Unterirdisch schlecht bezahlt, hatte sie sich in mehreren Geschäften die Beine in den Bauch gestanden, aber solange Christian Hauptverdiener gewesen war, hatte es einigermaßen gereicht. Außerdem hatte Ruth, seine Großmutter, ihm regelmäßig ein paar Scheine zugesteckt, wohlweislich stets mit dem Hinweis, wie er sie zu verwenden habe. Er solle seiner Tochter davon Winterstiefel oder Regenkleidung kaufen, seinem Sohn einen neuen Fahrradhelm oder gleich ein ganzes Fahrrad.
Dann war Sonia wieder schwanger geworden, ungeplant. Während sie den Kinderwagen durch Lasseren rollte, scrollte sie auf dem Handy durch die Anzeigen mit Ausbildungsplätzen. Sie war inzwischen schlau genug, um zu wissen, dass sie einen Abschluss brauchte und dass sie sich auf Christian nicht verlassen konnte. Während sich ihre Freundinnen alle nacheinander in ihre Kleinfamilien zurückzogen und glücklich oder zumindest zufrieden wirkten, hatte Christian bereits spürbar genug von seiner Kleinfamilie. Die erste Begeisterung darüber, neues Leben gezeugt zu haben, war schnell gewichen und hatte den alten Bedürfnissen Platz gemacht, also nach der Arbeit auf der Couch liegen und am Wochenende online pokern. Sie schrieb etwa ein Dutzend Bewerbungen, während sie Luca schaukelte, stillte oder mit Brei fütterte, aber wer nahm eine zweifache Mutter um die dreißig mit zwei abgebrochenen Ausbildungen? Das war also ihr »Werdegang«, geprägt von gewöhnlichem und außerordentlichem Pech, der sie zur Geflügelschlachterei Möllring geführt hatte, wo schon ihre Mutter jahrelang am Band gestanden und Knochensplitter ertastet hatte.
Erst hatte sie die Stelle als Übergangslösung direkt nach der Trennung angenommen, für höchstens drei Monate, hatte sie sich geschworen. Aber nach drei Monaten hatten sie ihr einen Platz für Luca im Betriebskindergarten angeboten, deshalb hatte sie verlängert. Der Kindergarten, »Das Nest«, war gerade erst in einem neuen Flachbau am Rande des Betriebsgeländes eröffnet worden. Die Fensterfassaden fingen wirklich jedes bisschen Tageslicht für die Kleinen ein, und die Möbel aus massivem, hellem Holz empfingen sie mit sanft abgerundeten Ecken. In einem Raum hatten sie Platz zum Tanzen und Turnen, in einem weiteren für großflächige Kunstwerke. Draußen, im Garten konnten sich die Nestlinge und Ästlinge, wie die Kinder hier je nach Alter genannt wurden, in einer kleinen Hügellandschaft mit Sträuchern und Hütten verlieren und im Sommer Himbeeren und Kirschtomaten naschen. Luca ging so gerne hin, er liebte die Erzieherinnen, besonders Tante Marianne, wie er sie nennen durfte. Alles in allem trennten diesen und öffentliche Kindergärten Welten. Sonia brachte es nicht übers Herz, Luca dort herauszunehmen und ihm den Abschied von Tante Marianne zuzumuten, deshalb hatte sie ein weiteres Mal verlängert.
Der Abschied von seiner Erzieherin, glaubte sie, hätte Luca vermutlich härter getroffen als der Abschied von Christian, der sich nach der Trennung bald abgesetzt hatte, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen. Einen von vielen Lebensträumen. Eigentlich konnte beinah jedes denkbare Szenario zu seinem Lebenstraum werden, ausgenommen das Leben mit ihr und zwei Kindern in einer Dreizimmerwohnung in Vetteln, einem Ortsteil von Lasseren an der Ems, in der die Sockelleisten gemacht gehörten. Christian träumte abends auf der Couch so viele Leben, dass er sich kaum entscheiden konnte, welches davon er wahr werden lassen wollte, und so wäre er nach der Trennung beinah bei Ruth versandet und völlig seiner Spielsucht erlegen. Irgendjemand musste ihm den Teppich zur Strandbar in Portugal ausgerollt haben, jedenfalls schrieb er ihr plötzlich aus einem bunt angemalten Bretterverschlag an der Atlantikküste. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie er dort ab dem frühen Nachmittag sonnenverbrannt mit einem Bier in der Hand an der Theke stand, jetzt halt an seiner eigenen, und abwechselnd auf seinem Handy herumwischte, zockte, sich über schlechte Bewertungen im Internet aufregte und Mädchen in Triangel-Bikinis hinterherglotzte, während sich Kunden entnervt abwandten und im Geiste bereits die nächste schlechte Bewertung verfassten.
Wann hatte sie das letzte Mal von ihm gehört? Zwei Monate waren sicher vergangen, ja, an Leonies Geburtstag hatte er ihr ein Video von sich am Strand geschickt und etwas von »ihr müsst mich hier unbedingt mal besuchen« geredet, ohne dazuzusagen, wer die Flüge bezahlen würde. Eigentlich hasste sie ihn nicht, dazu war er zu wenig bösartig und zu schwach, zu naiv, aber für...