Ebner-Eschenbach Unsühnbar
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-19219-8
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-19219-8
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein schillerndes Figurenensemble, sprühende Dialoge und Seitenhiebe auf die Bigotterie des im Niedergang befindlichen österreichischen Adels machen diesen Ehebruchsroman - erschienen fünf Jahre vor 'Effi Briest' - zu einer Leseentdeckung. Eindrucksvoll unterstreicht er den Rang Ebner-Eschenbachs als herausragende Autorin des deutschsprachigen Realismus.
Marie von Ebner-Eschenbach, geboren 1830 auf Schloss Zdislavic in Mähren, entstammte einem tschechischen Adelsgeschlecht. Sie lebte abwechselnd in Mähren und in Wien; 1848 heiratete sie ihren Vetter Moritz Freiherr von Ebner-Eschenbach. Sie verkehrte mit Hebbel, Grillparzer und Ferdinand von Saar. 1875 veröffentlichte sie ihre ersten Erzählungen. Sie gilt als bedeutendste deutsche Erzählerin des 19. Jahrhunderts mit scharfer Beobachtungsgabe und großem Einfühlungsvermögen. Marie von Ebner-Eschenbach starb 1916 in Wien.
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8
Ein banger Tag in Dornach.
Die stattliche Frau, die seit einer Woche im Schloss wohnte, der die Mahlzeiten auf ihrem Zimmer serviert wurden und die zum Verdruss des Kellermeisters mittags und abends eine Flasche Bordeaux vertilgte, weilte seit zwei Uhr nachts am Bette der Gräfin. Auf dem Bahnhofe wartete eine Equipage die Ankunft des Schnellzugs aus Wien ab, mit dem der Herr Professor ankommen sollte. Der Herr Doktor hatte sich in Lisettens jungfräulichem Gemache etabliert, und wenn sich ein Geräusch auf dem Gange vernehmen ließ, trat er hinaus und sprach zu dem etwa Vorbeikommenden: «Ich bin hier – dass Sie’s wissen – für den Fall, dass ein Arzt nötig wäre, dass Sie wissen, wo er zu finden ist.»
Niemand hörte auf ihn, er war ganz uninteressant. Die gespannte Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf die Frauen, denen Gelegenheit zu irgendeiner Handreichung in der Nähe der Wochenstube gegeben war.
Am Nachmittage musste Hermann sich’s gefallen lassen, vom Schmerzenslager seiner Frau, an dessen Ende er mit verstörtem Gesichte stand, durch Base Wilhelmine entfernt zu werden.
Jetzt waren sie in seinem Schreibzimmer, sein Vetter und er. Wilhelm hatte mitten auf dem Diwan Platz genommen, sich vorgebeugt und beschäftigte sich damit, seine dicken roten Finger knacken zu machen. Hermann ging rastlos neben dem Bücherschrank, der die Längswand einnahm, auf und ab und pfiff entsetzlich falsch oder versank in ein düsteres Schweigen oder pflanzte sich vor Wilhelm hin und starrte ihn an.
Die Dämmerung war eingebrochen, der Kammerdiener erschien.
«Was willst du?», fragte sein Herr.
«Die Lampe anzünden.»
«Wir brauchen keine Lampe», brachte Hermann mühselig hervor, und Wilhelm dachte: «Dem armen Kerl ist das Weinen nah.»
«Heute», sagte er nach einer Pause, «haben wir drei Marder in der Falle gefangen», worauf sein Vetter erwiderte: «Wie viel Uhr ist es?»
«Fünf hat’s just geschlagen.»
«Dann muss ja um Gottes willen der Professor schon hier sein.» Er schellte, und es dauerte unglaublich lang, bis endlich ein Lakai eintrat und meldete, der Herr Professor sei angelangt und Lisette habe ihn zur Frau Gräfin geführt.
Eine Stunde verfloss, in der die Zeit bleierne Wellen rollte und Wilhelm die nutzlosen Versuche, Hermanns Gedanken abzulenken, aufgab. Plötzlich blieb dieser stehen und lauschte. Er hatte die hastenden Schritte, die sich nahten, erkannt, es waren die Wilhelminens. Sie riss die Tür auf. Das Nebenzimmer war hell erleuchtet, und wie von strahlendem Goldgrund hob ihre Gestalt auf der Schwelle sich ab. «Hermann?», rief sie fragend in das Dunkel hinein. «Komm, Hermann, komm – du hast einen Sohn!»
– «Und Maria …»
«Wohl, Gott sei Dank.»
Er stürzte auf sie zu und hob die schwere Frau in seinen Armen in die Höhe und jauchzte laut.
«Was heißt denn das?», sagte sie. «Nimm dich zusammen. Sie ist noch matt. Wenn du dich nicht zusammennimmst, darfst du nicht zu ihr.»
«Oh – ich nehme mich …», er machte einen ungeheuren Aufwand an Selbstüberwindung, warf sich in die Brust, umschlang seine Base und zog sie mit sich fort. «Wilhelm, telegrafiere du an meine Mutter, an meinen Schwiegervater», rief er noch atemlos zurück und durchmaß den ganzen Weg auf den Fußspitzen, betrat Marias verhängtes Zimmer unhörbar wie ein Sylphe21 und hätte am liebsten Wolkenform angenommen, um ihr zu nahen.
Sie lag ganz still, war blass – blass bis an die Lippen und sah unendlich müde aus. Aber sie lächelte ihn an, glücklich, sanft und milde. Das Herz wollte ihm übergehen vor Rührung – doch sie hasste es, bedauert zu werden; er durfte nichts sagen, er küsste nur leise ihre Hände und blickte dabei mit einer gewissen Verlegenheit nach einem weißen Bündel aus Stoffen, Spitzen, Stickereien, Bändern, das neben sie hingelegt wurde.
«Ich gratuliere Ihnen zu einem Prachtbuben», sprach der Professor, aus dem Nebenzimmer tretend.
– «Wo?», stotterte Hermann, und Wilhelmine brach aus: «Jesus Maria, da doch!»
Da – ganz richtig. Unter den Stickereien und Spitzen guckte etwas hervor. Ein kleines braunrotes Gesicht, mit faltenbedeckter Stirn, mit lichtscheuen, fest zugedrückten Äuglein, einer Nase, die mit unzähligen kleinen gelben Pünktchen bedeckt war, und einem winzigen Mund. Es waren auch Pfötchen zu sehen, die unverhältnismäßig lange Finger hatten und die zartesten schmälsten Nägel. Das also war der «Prachtbub», das war der «Sohn».
Hermann wunderte sich und küsste auch ihm die Hände.
Maria erholte sich langsam, und Doktor Weise, der nach der Abreise des Professors Ordinarius geworden, wurde nicht müde, die größte Schonung zu empfehlen. «Besonders der Nerven. Nur keine Aufregung, Herr Graf, Fräulein Lisette, Fräulein Klara, nur keine Aufregung!» – Er freute sich, dass die Taufe nicht vor dem vierzehnten Tage stattfinden konnte, weil es dem Grafen Wolfsberg, der durchaus selbst als Pate seines Enkels fungieren wollte, unmöglich war, früher einzutreffen.
Der Graf schrieb oder telegrafierte täglich, und es schien Hermann, als ob diese Botschaften ihres Vaters Maria peinlich berührten. Zuletzt wagte er nicht mehr, sie ihr mitzuteilen. Nun aber fragte sie allabendlich: «Kommt der Vater?» und als endlich die Antwort lautete: «Morgen», da flammte eine fiebernde Röte auf ihren Wangen auf. Sie schloss die Augen, in kurzen, raschen Schlägen klopfte ihr Herz, eine unnennbare Bangigkeit überkam sie.
«Was ist dir?», fragte Hermann. «Maria, was bekümmert dich? Es ist etwas, das dich bekümmert und das du mir verschweigst.»
Sie seufzte tief auf. «Lass es» – bat sie, «wir wollen nie davon sprechen. Geh jetzt, es ist spät. Ich muss Ruhe haben und Kräfte sammeln für morgen.»
«Natürlich», erwiderte er und befand sich schon auf den Fußspitzen und schlug sein beliebtes Sylphentempo ein.
Maria winkte ihn zurück: «Eines möchte ich dich bitten – bringe es dem Vater vor. Das Kind soll Hermann heißen, Hermann Wolfgang … Verstehst du mich? Und dir, Lieber, möge es nachgeraten.»
Er ging beseligt, er machte sich selbst zum Hüter der Ruhe, nach der sie verlangte. Mehr als Stille ringsumher vermochte er jedoch nicht herzustellen. Eine so tiefe Stille, dass Maria das Atemholen des Kindleins hören konnte, dessen Wiege dicht an ihrem Bette stand. – Es war unerhört brav, schrie gerade so viel, als sich’s für einen zwei Wochen alten Jüngling gehört, sog seine Nahrung aus der mütterlichen Brust und schlief und lächelte oft im Schlafe.
Und der Anblick seines Friedens war die einzig wirksame Labung, die Marias Seele empfangen konnte in dieser letzten Nacht vor dem Wiedersehen mit ihrem Vater. Ein Wiedersehen und keines – es sollte ja ein anderer Mensch vor sie treten, nicht der, den sie geliebt und angebetet, einer, der gelogen, betrogen und getötet – einer, den sie gerichtet hatte.
Am nächsten Morgen war er da, völlig unermüdet, trotz der langen Reise. Er hatte den Wagen, der ihn auf der Station erwartete, seinem Kammerdiener überlassen und kam zu Fuß an. Ein tüchtiger Marsch in der tauigen Frühe war ihm Bedürfnis gewesen nach zweien im Waggon verbrachten Nächten.
Sein Schwiegersohn lief ihm entgegen, die beiden Männer schüttelten einander die Hände. Wolfsberg fragte zuerst nach Maria und dann unverzüglich nach Waschwasser und ließ sich in die für ihn bereiteten Zimmer führen.
Eine halbe Stunde später stand er vor seiner Tochter, mit unnachahmlich kunstvoller Nachlässigkeit gekleidet, duftend von Reinlichkeit und Eau de Toilette, einen freudig gerührten Ausdruck in seinem energischen Gesichte. Er klopfte Maria auf die Wange und sagte, halb zu Hermann, halb zu ihr: «Mager ist sie geworden.»
Sie hätte aufschreien mögen: «Ich weiß, was du getan hast, und ich werde es dir nie verzeihen!» – aber sein Anblick, seine Stimme, sein flüchtiger Kuss auf ihre Stirn übten ihre alte Macht aus. Sie beugte sich ihr fast ohne Widerstreben. – «Er ist ja doch mein Vater», dachte sie.
Der Graf schenkte seinem Enkel die gebührende Aufmerksamkeit, setzte sich an das Bett Marias und begann mit ihr zu sprechen, mehr von sich als von ihr, offenherzig, vertrauensvoll, recht wie zu einem ebenbürtigen Geiste, dessen Verkehr er lange und schwer entbehrt. – Ihre Kälte und Beklommenheit waren ihm sofort aufgefallen. Er schrieb sie ohne Weiteres der richtigen Ursache zu: Maria hatte etwas erfahren, das ihn in ihren Augen herabsetzte. Durch wen? – Um gegen Hermann auch nur den Schatten eines Verdachtes zu hegen, war Wolfsberg zu sehr Menschenkenner. «Was liegt auch daran», dachte er, «durch wen deine Illusionen über mich zerstört wurden, du armes Kind, sie sind fort. Du musst lernen, mich zu nehmen, wie ich bin, und einsehen, dass du dennoch stolz auf deinen Vater bleiben kannst.» – Da entfaltete er seine ganze zielbewusste Liebenswürdigkeit, stellte sich in das hellste Licht – indem er einen Irrtum, irgendein begangenes Unrecht eingestand. Mit der Miene eines Emporblickenden ließ er sich zu ihr herab, die er weit übersah. Galt es doch, einen erschütterten Einfluss wiederzugewinnen, eine schwankende Neigung wieder zu befestigen: zu erobern, mit einem Wort …
Wie ihm die Aufgabe gelang! – Wie seine Tochter, als er nach kurzem Aufenthalte Schloss Dornach verließ, ihn liebte, mehr als je! Der Starke...