E-Book, Deutsch, 170 Seiten
Ebeling Restekuscheln
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-86391-045-7
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 170 Seiten
ISBN: 978-3-86391-045-7
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Micha Ebeling erlebte seine Reinkarnation als Halbesoteriker Mitte der 60er Jahre in Ostfalen. Er arbeitete als Schmiedegehilfe, in der Diakonie, als Technischer Leiter einer Behindertenwerkstatt und an seinem Umzug nach Berlin. Micha Ebeling fand Zuflucht in einem Wohnheim für Studenten der Theologie, denen er nicht wenig für seine spätere Laufbahn als Geschichtenerzähler verdankt. Er war Kellner, Taxifahrer und Stammgast des 'Zosch', wo er 1996 die Lesebühne Liebe Statt Drogen kennenlernte, deren Mitglied er seitdem ist. An der Seite von Volker Strübing gewann Ebeling zweimal bei den deutschsprachigen Meisterschaften des Poetry Slams den Meistertitel im Teamwettbewerb.
Autoren/Hrsg.
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BEI DEN ANONYMEN DICHTERN
Der erste Schritt ist immer schwer …
… aber ich hatte mich ja nun mal dafür entschieden.
Der Mann, der mich empfing, kam mir irgendwie bekannt vor. Aber das konnte täuschen. Immerhin war ich in den letzten Monaten viel unterwegs gewesen. Da sieht man viele Gesichter.
Oh Gott, durchzuckte es mich, da war es wieder. Schon wieder waren meine Gedanken nicht normal. Schon lange waren meine Gedanken nicht mehr normal. Aber deshalb war ich ja auf Anraten eines Kollegen auch hierher gekommen. Ich musste etwas tun.
Aaaarg, aufhören.
Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Ich sah festen Blickes auf den Mann, der mir freundlich die Wohnungstür geöffnet hatte. Schweigend bedeutete er mir, ihm ans andere Ende des Flures zu folgen. Vor einem Zimmer blieb er stehen. Über dessen Tür war ein Schild angebracht: „Reden ist Silber – Schweigen ist Gold – Lyrik treibt einen in den Wahnsinn und fördert den sozialen Abstieg“ Ich nickte wissend. Der Mann öffnete die Tür und wir betraten einen angenehm beleuchteten Raum, dessen Stille etwa zehn, zwölf Personen beherbergte. Sie saßen auf Kissen und auf dem Boden. Der Mann und ich setzten uns dazu. Gütig blickte er in die Runde. Neugierig blickten alle auf mich. Dann sprach der Mann mit weicher Stimme:
„Wir haben einen Gast.“ Zu mir gewandt fuhr er fort, „Herzlich willkommen, mein Name ist Sebastian, ich bin Dichter.“ Er ließ eine Pause, in der die anderen beifällig nickten. „Ich leite diese Gruppe der ADs, der ‚Anonymen Dichter’. Wir sind eine gemischte Gruppe aus trockenen Dichtern, die seit Jahren weg sind vom Gedicht und Schwerstabhängigen, die bei uns Hilfe suchen. Wer neu dazu kommt, sagt seinen Namen und seine Krankheit. Wir haben alle dasselbe hier. Keiner braucht sich zu schämen. Bitte stell dich den anderen vor!“
Ich schluckte schwer.
„Ich heiße Michael, ich bin Dichter.“ Ich ließ die offenbar obligatorische Pause. Dann wollte ich weitersprechen, doch eine Art Schwindel erfasste mich und ich hörte mich sagen:
So weit, das Wort „Pflicht“ zur Vervollständigung des Reims auszusprechen, kam ich nicht mehr. Vier oder fünf der Männer packten mich, warfen mich auf den Boden und Sebastian stopfte mir ein Kissen in den Mund. Mein Herz raste, ich zuckte und wehrte mich. Doch dann ließ der Anfall nach. Ich war völlig durchgeschwitzt. Jemand trocknete mir mit einem Handtuch die Stirn. Als wir wieder saßen, ertönte erneut Sebastians Stimme. „Es war gut, dass dir das passiert ist. So kann ich dir auch gleich eine unserer Grundregeln erklären. Niemand dichtet während unserer Sitzungen. Das ist viel zu gefährlich. Möchte jemand etwas zu dem Vorfall sagen?“ Ein dünner, blasser Mann hob die Hand:
„Ich heiße Bert und ich bin Dichter“ Wir anderen nickten das anteilnehmende, verstehende und Mut machende Nicken. „Ich weiß genau, wie Micha sich fühlt. Vermutlich ist er jahrelang rumgereist und hat an so Dichterwettkämpfen teilgenommen, hat geglaubt, immer besser, immer vielfältiger werden zu müssen. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, dichten würde ihn von seinen Problemen ablenken. Und irgendwie glauben ja alle, dass sie damit eines Tages Geld verdienen können. Auf jeden Fall, so war es zumindest bei mir, trifft man irgendwann Gleichgesinnte, mit denen man dann zusammen dichtet. Und das oft tagelang, nächtelang. Aber anstatt einfach in die Kneipe zu gehen, vielleicht ein, zwei Gedichtchen zu schreiben und dann sich wie ein normaler Mensch anständig einen auf die Lampe zu gießen, wird übermäßig gedichtet. Es erzählt einem ja auch kein Schwein, wie scheiße gefährlich das ist. Anfänglich habe ich sehr viel vertragen. Ich war jung. Brauchte wenig Schlaf. Mann, was haben wir damals zusammengedichtet. Und immer genug Weiber. Diese ganzen Wunderblumen aus den Kreativ-Schreibwerkstätten, die konnten gar nicht genug kriegen von dem Zeug. Aber irgendwann wirkt der Stoff nicht mehr. Die Gewöhnung setzt ein.
Immer krasseres Zeug musste her. Was wir damals gedichtet haben, daran wäre jeder normale Mensch krepiert.
Obwohl wir manchmal zugedichtet waren bis in die letzte Synapse, schrie dann trotzdem noch irgend so ein Spast ‚Einer geht noch‘ und dichtete die Mannschaft unter den Tisch. In der Zeit bin ich echt ein paar mal mit schwerer Lyrikvergiftung in die Psychatrie eingeliefert worden. Hölderlin-Bunker haben wir dazu gesagt. Na, und so langsam kamen der körperliche Verfall und der soziale Abstieg. Kohle hab ich mit Dichten kein Stück verdient, hab meistens von Stütze gelebt. Manchmal hab ich so kleine Hefte zusammengestellt und bin abends in Kneipen rum, um die zu vertickern. Oft haben die Leute mich eingeladen, mit ihnen zu trinken. ‚Lass ma mit die Gedichte gut sein, Keule, aber du siehst nett aus, ick hau een rinn!‘, versuchten wohlmeinende Zeitgenossen mich auf den rechten Weg zurückzubringen. Blöd wie ich war, oder aus heutiger Sicht besser gesagt, abhängig wie ich war, hab ich abgelehnt und wollte schnell die Hefte loswerden, um weiterdichten zu können. Letztlich habe ich dann nur noch gereimt. Morgens nach dem Aufwachen gleich der erste Reim. Den ganzen Tag ging das so. Das macht auf Dauer nicht mal so eine Schreibwerkstattgestörte mit. Wenn ich was eingekauft habe, konnte ich nur noch Sachen sagen wie: ‚Ich würd gern diese Ravioli erwerben, denn wer nichts isst, gnä’ Frau, muss sterben‘“
„Hä-äähm“, räusperte Sebastian sich streng. „Hier wird nicht gedichtet, Bert, auch nicht zu Demonstrationszwecken!“ Bert verstummte auf der Stelle und sagte sofort: „Ich entschuldige mich für meinen Ausrutscher und sehe mein falsches Verhalten ein.“ Ich war beeindruckt. Sowohl von der Disziplin in der Gruppe als auch von Berts Schicksal.
„Michael“, wandte sich der Gruppenleiter an mich, „möchtest du uns etwas von deinen Problemen mit Gedichten erzählen? Bist du stark genug dafür?“ Ich räusperte mich, als hätte ich noch irgendein Gedicht im Hals. Dann erzählte ich:
„Ich hätte nie gedacht, dass es soweit mit mir kommen würde. Heute weiß ich, dass ich die Gefahren des Dichtens unterschätzt habe. Angefangen hat bei mir alles ganz harmlos. Einfache Reime und Gedichte, für Familienfeste oder zum Scherz. Paar Stabreime, Schüttelreime oder einen Knittelvers hier und da. Ich hatte mich echt im Griff. Aber dann nahm mich irgendwann ein Bekannter mal mit zum Poetry Slam.“ Bei dem Wort Poetry Slam ging ein Raunen durch die Gruppe, einige hielten sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Eine ältere Frau begann zu weinen und ein Mann mit Vollbart murmelte. „Ick muss kotzen!“, stand auf und verließ den Raum.
„Na ja“, fuhr ich fort, „ich hörte mir das also ein paar Mal an und setzte mich dann zu Hause hin und begann mit gefährlicheren Dichtformen. In meiner anfänglichen Begeisterung probierte ich alles aus. Ich dichtete viel durcheinander: Sonett, Sestine, Ode, Elegie, Hymne, Dityrambe, Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst, Gasel, Madrigal, Ritornell, Alexandriner, Hexameter, Pentameter, sogar Hinkejambus, Hendekasyllabus und Haiku. Oft war mir echt schlecht davon. Und dann begann ich damit, beim Poetry Slam aufzutreten. Freunde haben mich gewarnt, Kollegen auf die Gefahren hingewiesen. Aber wie es so ist bei Suchtkrankheiten, ich hielt sie für falsche Freunde und für neidische Kollegen. Ich fand Gleichgesinnte. Dichter, die mehr dichteten als ich, besser dichteten, mir Ansporn waren. Immer öfter ging ich zum Poetry Slam. Immer mehr Leute aus dieser Dichterhölle lernte ich kennen. Wir machten uns gegenseitig Mut, anstatt uns da rauszuholen, solange es noch nicht zu spät war. Aber es war schon längst fünf nach zwölf. Eine zeitlang kam ich echt gut klar. Konnte auch meinen Alltag noch bewältigen. Doch dann kam das Kokain unter den Gedichten auf die Slam-Bühnen, der HipHop. Wir alle wurden nach und nach süchtig.“ Mein Blick fiel zufällig auf Sebastian, den Leiter. Jetzt wusste ich, woher ich ihn kannte. Na klar. Vom Poetry Slam. Er hatte uns immer vor dem HipHop gewarnt. Bis er eines...




