Ebbinghaus | Falltiefe | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

Ebbinghaus Falltiefe

Erzählte Protokolle

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

ISBN: 978-3-7322-6793-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



25+1 Geschichten - sechsundzwanzig Variationen, eine jede auf ihrem Weg, zielstrebig, das Thema in ihren Spuren.
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Am Abgrund
Ja, er hatte sich überreden lassen. Vor einigen Tagen hatte ihn Stefan angerufen und ihm eine Bergtour vorgeschlagen; sie hätten sich ja seit Jahren nicht mehr gesehen; die gemeinsame Besteigung des Massivs, auf dessen Gipfeln sie manchen Sonnenaufgang erlebt hätten, könne zu einem Neubeginn ihrer Freundschaft werden; es sei ihm ein Bedürfnis, dass sie wieder zusammenfänden; um dieser Möglichkeit keine Erschwernis in den Weg zu legen, um insbesondere auch die Gelegenheit zu vertraulichen Gesprächen zu haben, sollten sie die Tour allein unternehmen; seine Frau sei sicherlich damit einverstanden. Er hatte sich Bedenkzeit erbeten und mit Anna über den Vorschlag gesprochen. Sie hatte zugestimmt. So waren sie heute früh aufgebrochen. Stefan hatte ihn abgeholt, war aber vor dem Haus in seinem Wagen geblieben. Er hatte ein kleines Zelt und Wegzehrung im Gepäck und sich bereit erklärt, beides zu tragen; dann seien nur noch die aufgerollten Schlafmatten zu übernehmen. Stefan hatte gelächelt, als er die Verteilung vorschlug – er war immer der sportlichere von ihnen gewesen, kräftig und durchtrainiert. Aber das Lächeln war nicht so unbeschwert gewesen, wie er es in Erinnerung hatte, die Gestalt nicht mehr von der ihr früher eigenen federnden Stärke. Zunächst waren sie schweigend nebeneinander gegangen. Der Weg führte in sanften Kehren bergan. Die Wiesen waren schon vor Wochen zum letzten Mal gemäht worden. Jetzt grasten Kühe auf ihnen. Hier und dort blühten die Herbstzeitlosen. Der milchig blaue Himmel versprach einen milden Oktobertag. Der Ausblick vom Gipfel morgen früh würde den Aufstieg reichlich belohnen und die aufsteigende Sonne vielleicht den Beginn einer neuen Freundschaft sehen. Die Kälte und die Unbequemlichkeit der Nacht, die davor lagen, würden von den Erwartungen überdeckt werden. Als die Hänge steiler wurden und der Weg sich zum Pfad verengte, hatte Stefan das Schweigen gebrochen: Er sei in der letzten Zeit beruflich sehr angespannt gewesen, ein Zustand, der sich, sollte er weiterhin seiner Arbeit nachgehen, nicht ändern lasse. Zudem seien ältere Beschwerden mit der Lunge verstärkt wieder aufgetreten. Er sei daher entschlossen, sich möglichst bald in seiner Heimatstadt zur Ruhe zu setzen, sei er doch dort den Bergen nahe und, so hatte er lächelnd hinzugefügt, auch ihnen beiden. Zu einem einfachen Leben würden seine Ersparnisse reichen. Wie es denn Anna gehe. Natürlich hatte er die Frage erwartet, ja, er hatte sich sogar einige Antworten zurechtgelegt. Doch jetzt, unvermittelt gestellt, hatte sie seine Entgegnungspläne durcheinander gewirbelt. Stockend und mit leiser Stimme hatte er eine ausweichende Antwort gegeben. Er hatte nicht gewagt, Stefan dabei anzuschauen. Dann war das Schweigen zurückgekehrt. Als der Pfad auf die Nordseite des Berges wechselte, hatte Stefan vorgeschlagen, ihm nicht mehr zu folgen, sondern auf die Steilwand zuzugehen und dort an der Abbruchkante aufzusteigen. Diese Route sei zwar anstrengender, würde sie aber durch die Aussicht belohnen; auch könne man sich dort frei wie ein Vogel fühlen, und am Morgen könne man in der wärmenden Sonne aufbrechen. Wieder hatte Stefan gelächelt. Doch jetzt war sein Lächeln kälter gewesen, wie von Reif bedeckt. Es war dieser Eindruck, der ihn ohne Diskussion und eigentlich gegen seinen Willen hatte zustimmen lassen. Auf dem felsigen Untergrund hatte sich der Pfad bald verloren. Sie waren hintereinander gegangen, Stefan voran. Aus dem Gehen war ein Steigen geworden. Er hatte erste Anzeichen von Erschöpfung bemerkt. Seine Blicke hatten nicht mehr der Aussicht gegolten, sie hatten sich an Stefans Füße geheftet und sich von ihnen die besten Trittmöglichkeiten zeigen lassen. Ohne sich umzuschauen, hatte Stefan dann abermals das Schweigen gebrochen: Ob Anna noch manchmal von ihm gesprochen habe; schließlich seien sie doch lange Jahre ein Paar gewesen, ein Paar, das sich geliebt habe, und Anna die Frau, der seine ganze Liebe gegolten habe und noch immer gelte. Er hatte das Lächeln nicht sehen können, mit dem Stefan geendet hatte. Er hatte es geahnt, und er hatte geglaubt, die Kälte zu fühlen, die von ihm ausströmte. Ein tonloses „Ja“ war das Einzige gewesen, was er hatte sagen können. Stefan schien keine Antwort erwartet zu haben. Wortlos waren sie weitergestiegen. Das Schweigen war zu einer Bürde geworden, an der er schwer zu tragen hatte. Als sie schließlich die Steilwand erreicht hatten und an die Abbruchkante traten, war ihm schwindelig geworden. In der Tiefe hatte sich schon die Abenddämmerung ausgebreitet, kein Laut war von dort unten zu ihnen heraufgeklungen. Über ihnen hatte ein Raubvogel mit trägen Flügelschlägen seine Kreise gezogen. Stefan war weitergegangen. Doch er selbst war zu erschöpft gewesen, seinen Schritten zu folgen. Er hatte Mühe gehabt, gegen seinen Schwindel anzukämpfen und für seine Füße Halt zu finden. Schließlich hatte Stefan wortlos sein Gepäck abgelegt und auf einem kleinen Plateau das Zelt aufgeschlagen, den Eingang zur Steilwand hin und nur ein Schritt dazwischen; eine Schlafmatte hatte er im Zelt abgelegt, die andere dahinter unter freiem Himmel. Schweigend hatten sie von den belegten Broten gegessen und dazu lauwarmen Tee getrunken. Dann war es aus Stefan hervorgebrochen: Der Verlust der Freundschaft mit ihm sei leicht zu verschmerzen gewesen; weit schwerer sei es für ihn gewesen, die Enttäuschung über den Freundschaftsbruch zu ertragen, unerträglich schwer aber, Anna in den Armen seines ehemaligen Freundes glücklich zu sehen. Dieser Verlust Annas habe seinem Leben den Sinn genommen und es zerstört. Dabei war kein Lächeln mehr auf seine Lippen gekommen. Die Kälte hatte in seinen Augen gelegen. Im Aufblicken hatte er bemerkt, dass sich dem Raubvogel ein zweiter zugesellt hatte; die Mitte der Kreise, die sie zogen, schien genau über ihm zu liegen. Stefan hatte so abrupt geendet, wie er begonnen hatte, und ihm wortlos die Matte im Zelt zugewiesen. Ebenfalls wortlos hatte er Folge geleistet. Jetzt lag er hier, eng vom Zelt umschlossen, gleich vor dem Eingang der steile Absturz, gleich hinter seinem Kopf Stefan, nur durch eine dünne Folie von ihm getrennt. Wie hatte er dessen Bitte um eine gemeinsame Tour nur nachkommen können? Eigentlich hätte ihm klar sein müssen, dass es zwischen ihnen keine Freundschaft mehr geben konnte. Wie hätten sie sich von der Vergangenheit lösen können, wäre doch Anna die immer gegenwärtige Zeugin für das gewesen, was zwischen ihnen geschehen war. Ein Gedanke durchfuhr ihn. Stefan sah in seinem Dasein keinen Sinn mehr, er könnte daher geplant haben, seinem Leben ein Ende zu setzen, hier und in dieser Nacht, und es nicht zulassen wollen, dass Anna weiterhin mit ihm, dem abtrünnigen Freund, glücklich sein würde. Also müsste auch sein Leben beendet werden, hier und in dieser Nacht. Dann würde Anna allein weiterleben und mit ihr die Erinnerung an ihre frühere Liebe zu Stefan. Waren seine Überlegungen berechtigt? Oder waren sie eine Ausgeburt der Situation, in der er sich gefangen wähnte? Stefan liebte Anna immer noch; wie hätte er ihr ein solches Leid zufügen können? Wie hätte Anna sich der Liebe zu Stefan erinnern sollen, wäre es doch Stefan gewesen, der ihr den geliebten Mann genommen hätte? Er war nicht mehr in der Lage, die Möglichkeiten weiter abzuwägen, Angst lähmte ihn. Hinter der Folie atmete es schwer. Vielleicht wurde Stefan von ähnlichen Überlegungen gequält. Sollte er ihn hassen? Sollte er Verständnis für ihn haben? Sollte er ihn nicht einfach ansprechen und sein Mitgefühl bekunden, vielleicht auch eine Schuld? Doch seine Angst ließ das nicht zu. Bewegungslos verharrte er. Auch ihm fiel das Atmen schwer. In der Ferne grollte es. Ein Gewitter, völlig unerwartet, sogar unmöglich angesichts der herbstlichen Schönwetterlage. Bereits am Nachmittag, als Stefan sich zum ersten Mal nach Anna erkundigte, hatte er geglaubt, ein leises, fernes Donnern vernommen zu haben. Natürlich hatte er sich das eingebildet. Vielleicht war es ein inneres Grollen gewesen, die Folge eines inneren Bebens, hatte Stefan doch in ihm eine lang verschüttete Frage aufbrechen lassen: Wie konnten er und Anna ihr Verhalten rechtfertigen? Konnten sie es überhaupt? Das Gewitter kam rasch näher und wie ein Blitz eine erschreckende Erkenntnis: Der Gewitterregen würde alle denkbaren Spuren ihrer Anwesenheit hier verwischen. Sollte Stefan sich in den Abgrund stürzen und ihn unbehelligt lassen, wäre kein Beweis für seine Unschuld möglich. Könnte auch Stefan eine solche Überlegung anstellen? Dann wäre Tod oder Täterschaft die Alternative, die ihn erwartete, kein Weiterleben oder ein Weiterleben unter der Last des Verdachts, ein Mörder zu sein. Er sah einen letzten Ausweg. Sein Gehirn arbeitete jetzt sehr klar. Mit sich überschlagender Stimme schleuderte er seine Worte dorthin, wo er Stefan...


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