E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Ebbert Ein Geschenk fürs Leben
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-7467-3
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman über Eglantyne Jebb, die Mutter der Kinderrechte und Gründerin von Save the Children
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7517-7467-3
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sie kämpfte für die Rechte der Kinder und machte mit ihrem Engagement so vielen ein Geschenk fürs Leben: Eglantyne Jebb
1926. Säuglingsschwester Anni reist aus dem Ruhrgebiet nach Genf, um einer Spenderin den Dank ihres Heims zu übermitteln. Von ihrer Wohltäterin Eglantyne Jebb weiß sie nur, dass ihre Hilfe nach dem Großen Krieg auch in Deutschland unzähligen Kindern das Leben rettete. Schnell merkt sie: Die Lebenswelt ihrer berühmten Gastgeberin könnte sich von ihrer eigenen nicht deutlicher unterscheiden. Eglantyne Jebb ist Akademikerin, stammt aus einer vermögenden britischen Familie und kämpft seit Jahren für die Rechte der Kinder. Anni selbst ist ein Bergarbeiterkind, für das die Ausbildung zur Säuglingsschwester schon ein unglaublicher Aufstieg ist. Eins aber eint sie: der Wunsch, etwas zu bewegen, damit die Welt ein besserer Ort wird ...
Das lebendig geschriebene Porträt einer fast vergessenen Frau, von deren Wirken noch heute Millionen Kinder profitieren
Birgit Ebbert ist freie Autorin und lebt im Ruhrgebiet. Als Diplom-Pädagogin schreibt sie Ratgeber und Lernhilfen sowie Kinderbücher und Erinnerungsgeschichten für die Arbeit mit Seniorinnen und Senioren. Seit ihrer Dissertation über Erich Kästner ist sie fasziniert von der deutschen Geschichte, was sich in ihrer Literatur widerspiegelt. In Kurzgeschichten und Romanen zeigt sie, dass hinter Geschichte immer auch Leben und Geschichten stecken.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
1926 Gelsenkirchen – Buer – Genf
Anni klebte mit ihrem Kopf fast an der Scheibe des Zugabteils. Sie konnte sich einfach nicht sattsehen an den hohen dunkelgrünen Tannen, den Bergen und putzigen kleinen weißen Häuschen, die zwischen den Bäumen hervorblitzten. Seit die Morgensonne sie in ihrem Sitz durch das kleine Fenster aus dem Schlaf gekitzelt hatte, in den sie trotz der ungewohnten Geräusche des Zuges gefallen war, starrte sie in die Landschaft hinaus. Die hellen, freundlichen Fassaden der Häuser entlang der Bahnstrecke waren ganz anders als die Wände, die sie aus ihrer Heimat kannte. Zwar behauptete ihre Großmutter, dass sie in ihrer Kindheit noch helle Häuser in der Gegend erlebt hatte, aber das war für Anni bisher nicht vorstellbar gewesen. Für sie waren Häuser grau, selbst die Villen, in denen die wohlhabenden Bürger lebten, wiesen nicht dieses strahlende Weiß auf, das hier im Süden des Reiches zwischen den Fachwerkbalken hervorstrahlte.
»Entschuldigung, gnädiges Fräulein, unser nächster Halt ist Basel.«
Anni sah den Schaffner verwundert an. Die Zeit war wie im Flug vergangen, während sie immer neue Dinge vor dem Fenster entdeckte. »Das ist schon in der Schweiz, oder?« Sie gab sich Mühe, hochdeutsch zu sprechen, wie es ihr die Oberschwester eingetrichtert hatte. Auch wenn sie erst einundzwanzig Jahre alt war, verstand sie, was es hieß, das Säuglingsheim, die Pflegeschule, die Stadt, ja alle Menschen des Ruhrgebiets im Ausland zu vertreten. Es kam schließlich nicht oft vor, dass eine von ihnen, kein Politiker, sondern eine Säuglingsschwester, in das Land der Schokolade und Uhren reiste, um einen Gruß von der Ruhr zu übermitteln.
Der Schaffner nickte Anni freundlich zu. »Genau. Das ist der erste Halt in der Schweiz. Dort werden die Grenzbeamten zusteigen, und wir haben Aufenthalt, bis alle Papiere geprüft sind. Bitte halten Sie Ihre Pässe bereit.«
Anni wurde heiß. Das war also jetzt der Moment, vor dem sie bangte, seit Schwester Reinhild sie gebeten hatte, im Namen des Heims ein Dankschreiben nach Genf zu bringen, um es einer völlig unbekannten Frau zu überreichen. Sie spähte zu dem Koffer über sich im Gepäcknetz. War die Karte mit dem kleinen Gemälde des Säuglingsheims und den Unterschriften noch dort? Hatte der Koffer nicht anders dagelegen, bevor sie eingenickt war? Sie sprang auf.
»Was ist denn? Haben Sie Ihre Papiere vergessen?« Der Schaffner sah Anni besorgt an. »Dann sagen Sie es lieber sofort, damit wir nicht Ihretwegen einen längeren Aufenthalt haben.«
Kam es Anni nur so vor, oder wurde der Ton schärfer? »Nein, nein … ich meine, ja. Ja, ich habe meine Papiere dabei.« Sie blickte weiterhin wie gebannt auf das Gepäcknetz, als könnte sie damit ihren Koffer beschützen und einen möglicherweise lange vorher begangenen Diebstahl ungeschehen machen. »Mir ist nur … die Papiere sind im Koffer.« Was redete sie für einen Unsinn? Sie wusste doch, dass der Pass in der Umhängetasche bei der Fahrkarte war!
Das freundliche Lächeln erschien wieder auf dem Gesicht des Schaffners, und er wandte sich dem älteren Mann zu, der in Freiburg zugestiegen war. »Sie kennen sich ja aus. Vielleicht können Sie dem Fräulein etwas behilflich sein. Beim ersten Mal schüchtern Zollformalitäten doch ein bisschen ein.«
Anni reckte sich, um den Koffer aus dem Netz zu holen. Obwohl sie sich auf die Zehenspitzen stellte, was laut ihrer Mutter nicht gut für die neuen Schuhe war, konnte sie den Griff nicht erreichen. Hätte sie beim letzten Umsteigen doch nur diesem jungen Mann mit dem schelmischen Grinsen nicht erlaubt, den Koffer ins Netz zu heben. Der Junge war längst ausgestiegen, und der Koffer lag unerreichbar im Gepäcknetz.
»Warten Sie!« Der Schaffner kam zurück und hob mit einer Leichtigkeit, über die Anni nur staunen konnte, den Koffer aus dem Netz. »Die Grenzbeamten werden ohnehin nachschauen wollen, ob Sie nichts schmuggeln.«
Wieder sammelte sich Schweiß auf Annis Stirn und unter den Achseln. Niemand hatte ihr gesagt, dass sie ihren Koffer vor wildfremden Menschen öffnen musste. Sie ging in Gedanken durch, was sie eingepackt hatte. Die Reise war für eine Woche geplant, zwei Tage im Zug für die Hinfahrt, zwei Tage für die Rückfahrt und drei Tage in Genf bei der Cousine der Oberschwester. Die Dame war nicht das Ziel der Reise, aber Schwester Reinhild fand es nicht angemessen, Frau Jebb, die eigentliche Adressatin des Dankschreibens, mit dem Wunsch nach Logis für die Botin zu belästigen. Und die Übernachtung in einem Hotel schickte sich für eine alleinreisende 21-Jährige nicht. Es war ohnehin erstaunlich, dass das Komitee Annis Reise zugestimmt hatte. Die Oberschwester hatte ihr verraten, dass niemand sich Gedanken gemacht hatte, dass eine so junge Teilnehmerin den ersten Preis gewinnen könnte. Aber der war nun einmal die Reise nach Genf, um Eglantyne Jebb, der Gründerin der Stiftung Save the Children, die den Aufbau des Säuglingsheimes mit Nahrungsmittelspenden unterstützt hatte, einen Dank zu überbringen. Alle aktuellen und ehemaligen Schwestern des Heims, alle Lehrkräfte der Säuglingspflegerinnenschule, sogar Mütter, deren Kinder vor fünf Jahren in den Genuss der gespendeten Lebensmittel gekommen waren, durften einen Aufsatz zum Thema »Wie verschaffen wir unseren Babys eine friedliche Welt?« einreichen, und dazu gehörte Anni nun einmal.
»Fräulein! Könnten Sie sich vielleicht endlich hinsetzen, ich muss meinen Koffer auch herunterholen.« Der Mann, der bis eben ruhig in seinem Sitz gesessen hatte, stand vor Anni und funkelte sie wütend an. »Sie stehen hier schon ein paar Minuten. Sind Sie eingeschlafen? Diese Jugend von heute!«
Anni ließ sich auf ihren Platz fallen. Der Mann hatte ja recht. Der Hinweis auf die Kontrolle des Koffers hatte sie durcheinandergebracht. Das hätte ihr wirklich jemand sagen können. Dann hätte sie das Stückchen Kohle, das Ferdinand ihr zusammen mit einer Taube aus Papier am Bahnhof zugesteckt hatte, nicht angenommen. Sie hatte sich ohnehin geärgert, dass ihr Freund überhaupt erschienen war, um Abschied zu nehmen. Sonst hatte er nie Zeit für sie, weil er andauernd mit seinen Brieftauben herumturtelte. Aber für ihre Abreise konnte er sich auf einmal von diesen Viechern trennen! Sie seufzte. Natürlich tat sie ihm unrecht. Dass er vor der Spätschicht extra zum Bahnhof gehetzt war, sollte ein Zeichen seiner Zuneigung sein. Und dann noch das Kohlestückchen, das er selbst aus dem Flöz geholt hatte. Das alles machte es nicht leichter, in der Ferne darüber nachzudenken, ob er wirklich der Mann war, mit dem sie eine Familie gründen wollte. Sie war ihm von Herzen zugetan, aber bis heute hatte sie oft den Eindruck gehabt, bei ihm stünden die Tauben an erster Stelle. Die Reise nach Genf war ihr als gute Gelegenheit erschienen, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Zu Hause arbeitete ihre Mutter ja bereits an der Aussteuer, die ersten Monogramme waren in Handtücher gestickt, und wenn sie meinte, Anni bekäme es nicht mit, häkelte sie an einer filigranen Tischdecke für die künftige gute Stube ihrer mittleren Tochter.
»Grenzkontrolle! Ihre Papiere bitte!«
Obwohl Anni die Grenzbeamten erwartet hatte, zuckte sie zusammen. Die ganze Fahrt hatte sie geschlafen oder aus dem Fenster gesehen und nicht an zu Hause gedacht. Ausgerechnet hier, wo ihre volle Aufmerksamkeit gefordert war, schlichen sich ihre Gedanken fort in die Heimat. Mit einem Ruck zog sie den Pass, der extra für die Reise ausgestellt worden war, aus der Umhängetasche, die ihre ältere Schwester Maria ihr für die Fahrt genäht hatte. Sie hielt dem Mann den Ausweis und das Schreiben der Schweizer Stiftung hin, die sie besuchen würde.
»Das brauche ich nicht!« Der Grenzer gab ihr den Brief zurück und schlug das Ausweisdokument auf. Er verglich das Foto darin mit Anni und fragte dann: »Haben Sie etwas zu verzollen?«
Anni wurde blass. Was wollte der Mann von ihr? War das so etwas wie Bestechungsgeld? Sie hatte in einem Roman davon gelesen. »Was heißt das?«
Der Grenzbeamte lächelte nachsichtig. »Das ist wohl Ihre erste Reise in ein fremdes Land, was?«
»Ich war schon in Holland!«, berichtete Anni stolz. Aber das war ihre Abschlussfahrt in der Volksschule, und da hatte die Klassenleitung sich um alles gekümmert.
»Dann wissen Sie ja, dass man beim Übertritt von einem Land in das andere mitteilen muss, wenn man wertvolle Fracht im Gepäck hat.« Der Beamte blieb freundlich. »Was haben Sie denn in Ihrem Koffer?«
Anni zerrte an den Lederschnallen, mit denen sie zu Hause den Pappkoffer geschlossen hatte.
»Lassen Sie nur!« Der Zollbeamte winkte ab. »Sagen Sie mir einfach, was darin ist.«
Anni sah sich verschämt um, ehe sie flüsterte: »Unterwäsche, zwei Kleider, ein zweites Paar Schuhe, ein Buch und ein Bild, das unsere Oberschwester Reinhild vom Säuglingsheim gemalt hat.«
»Ach, sind Sie Krankenschwester? Meine Frau auch. Das ist ja so ein wichtiger Beruf! Da wünsche ich Ihnen eine angenehme Weiterreise.« Damit wandte sich der Grenzbeamte dem Mann zu, der die ganze Zeit gebannt zugehört hatte. Anscheinend hatte er tatsächlich mehr Erfahrung mit Grenzübertritten als sie, denn eine Minute später waren sie wieder allein im Abteil und verstauten gleichzeitig ihre Papiere.
»Sie verreisen wohl zum ersten Mal, junges Fräulein, gell?«, fragte der Mann, während er seinen und ihren Koffer...