E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Eagleton Warum Marx recht hat
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0220-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0220-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
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Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy. Der international gefeierte Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker hat über 50 Bücher verfasst. Auf Deutsch liegen u.a. vor Der Sinn des Lebens (2008), Das Böse (2011), Warum Marx recht hat (2012) und Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch (2016).
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Eins
Der Marxismus ist erledigt. Denkbar, dass er in gewissem Maße relevant war für eine Welt der Hochöfen und Hungerrevolten, der Kohlekumpel und Kaminkehrer, der Verelendung und einer anschwellenden Arbeiterklasse. Aber er hat ganz gewiss nichts zu tun mit den zunehmend klassenlosen, sozial mobilen, postindustriellen westlichen Gesellschaften der Gegenwart. Er ist das Glaubensbekenntnis derer, die zu verbohrt, ängstlich oder verblendet sind, um einzusehen, dass die Welt sich verändert hat – und das for good: zum Guten und in alle Ewigkeit.
Dass der Marxismus erledigt sei, wäre überall Musik in den Ohren der Marxisten. Sie könnten ihre Märsche und Streikposten vergessen, in den Schoß ihrer bekümmerten Familien zurückkehren und am Abend das häusliche Glück genießen, statt eine weitere ermüdende Ausschusssitzung über sich ergehen zu lassen. Marxisten haben keinen sehnlicheren Wunsch, als das Dasein des Marxisten hinter sich zu lassen. Insofern ist Marxist zu sein etwas gänzlich anderes, als Buddhist oder Milliardär zu sein. Es ähnelt eher der Situation des Mediziners. Mediziner sind widernatürliche, den eigenen Interessen zuwider handelnde Geschöpfe, die sich selbst um ihre Arbeit bringen, indem sie Patienten heilen, von denen sie dann nicht mehr gebraucht werden. Ganz ähnlich besteht die Aufgabe politisch Radikaler darin, an einen Punkt zu gelangen, an dem sie sich selbst überflüssig machen, weil ihre Ziele erreicht sind. Dann könnten sie sich ins Privatleben zurückziehen, ihre Che-Guevara-Poster verbrennen, sich wieder dem lange vernachlässigten Cello widmen und sich über spannendere Dinge unterhalten als die asiatische Produktionsweise. Sollte es in zwanzig Jahren noch Marxisten oder Feministen geben, wäre das eine traurige Aussicht. Der Marxismus ist als rein provisorisches Projekt gedacht, weshalb jeder, der seine gesamte Identität auf ihn gründet, einem Missverständnis erliegt. Der ganze Sinn des Marxismus besteht darin, dass es ein Leben nach dem Marxismus gibt.
Diese ansonsten verlockende Aussicht wirft allerdings ein Problem auf. Der Marxismus ist eine Kapitalismuskritik – die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art –, zugleich die einzige, die große Regionen der Erde umgestaltet hat. Solange also der Kapitalismus im Geschäft ist, muss es auch der Marxismus sein. Nur wenn er seinen Gegner in den Ruhestand schickt, kann er auch sich selbst zur Ruhe setzen. Und alles spricht dafür, dass der Kapitalismus so gesund und munter ist wie je. Das wird heute auch von den meisten Kritikern des Marxismus nicht bestritten. Sie behaupten vielmehr, das System habe sich seit den Zeiten von Marx fast bis zur Unkenntlichkeit verändert und deshalb seien dessen Ideen nicht mehr von Belang. Bevor wir diese Behauptung genauer untersuchen, sei angemerkt, dass sich Marx der ständigen Veränderlichkeit des von ihm in Frage gestellten Systems sehr wohl bewusst war. Dem Marxismus selbst verdanken wir die Begriffe für die verschiedenen historischen Formen des Kapitals: Handels-, Agrar-, Industrie-, Monopol-, Geldkapital und so fort. Warum also sollte der Umstand, dass der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten seinen Charakter verändert hat, eine Theorie in Frage stellen, die so wesentlich auf Veränderung fußt? Übrigens hat Marx selbst den Niedergang der Arbeiterklasse und den steilen Aufstieg des Angestelltensektors vorhergesagt. Darauf kommen wir in Kürze zurück. Auch die Globalisierung sah er voraus – merkwürdig für einen Mann, dessen Denken als äußerst »archaisch« gilt. Dabei verdankt es Marx möglicherweise gerade dieser »Archaik«, dass er heute noch aktuell ist. Schließlich wird er ausgerechnet von den Befürwortern eines Kapitalismus, der gar nicht schnell genug zu einem viktorianischen Maß von Ungleichheit zurückkehren kann, der Rückständigkeit geziehen.
1976 glaubten noch viele Menschen, der Marxismus vertrete ein bedenkenswertes Anliegen. 1986 hatten viele von ihnen ihre Meinung geändert. Was genau war in der Zwischenzeit geschehen? Lag es einfach daran, dass diese Leute nun einen Haufen von Kleinkindern am Hals hatten? War die marxistische Theorie durch irgendwelche welterschütternden neuen Forschungsergebnisse als Schwindel entlarvt worden? Waren wir auf ein lange verschollenes Manuskript von Marx gestoßen, in dem er gestand, er habe sich nur einen Jux machen wollen? Jedenfalls lag es nicht daran, dass wir zu unserem Entsetzen entdeckt hätten, Marx habe im Sold des Kapitalismus gestanden. Denn das wussten wir schon lange. Ohne die Baumwollspinnerei Ermen & Engels in Salford bei Manchester, die Friedrich Engels’ Vater gehörte, hätte der unter chronischer Geldnot leidende Marx möglicherweise nicht lange genug überlebt, um seine Polemik gegen die Textilfabrikanten zu Papier zu bringen.
Allerdings war tatsächlich etwas in dem betreffenden Zeitraum geschehen. Seit Mitte der 1970er Jahre erlebte das westliche System einige tiefgreifende Veränderungen.3 Es fand eine Verlagerung von der traditionellen Industrieproduktion hin zu einer »postindustriellen« Konsum-, Kommunikations-, Informations- und Dienstleistungskultur statt. Kleine, dezentralisierte und flexible Unternehmen mit flachen Hierarchien bestimmten von da an das Wirtschaftsgeschehen. Die Märkte wurden dereguliert und die Arbeiterbewegung brutalen gesetzlichen und politischen Neuregelungen unterworfen. Traditionelle Klassenbindungen wurden geschwächt, während lokale, geschlechterbezogene und ethnische Identitäten an Bedeutung gewannen. Die Politik wurde zunehmend verwaltet und manipuliert.
Die neuen Informationstechnologien waren entscheidend an der wachsenden Globalisierung des Systems beteiligt, und eine Handvoll multinationaler Konzerne verbreiteten auf der Suche nach dem schnellsten Profit Produktion und Investition über den ganzen Planeten. Ein Großteil der Herstellung wurde in Billiglohnländer der »unterentwickelten« Welt ausgelagert, was einige kurzsichtige Westler zu dem Schluss verführte, die Schwerindustrie sei überall auf der Welt im Schwinden begriffen. Auf diese globale Mobilität folgte eine massive Migration von Arbeitskräften, und mit ihr und dem Zustrom von Armutsmigranten in die entwickelteren Volkswirtschaften kam es zu einer Renaissance von Rassismus und Faschismus. Während in den »peripheren« Ländern erbarmungslose Arbeitsverhältnisse herrschten, Produktionsstätten privatisiert, Sozialleistungen drastisch gekürzt und die Handelsbedingungen eklatant ungerecht gestaltet wurden, ließen sich die Manager in den Mutterländern einen Dreitagebart stehen, rissen sich den Schlips ab, knöpften den Hemdkragen auf und zerbrachen sich den Kopf über das spirituelle Wohl ihrer Arbeitnehmer.
Nichts von alledem geschah, weil das kapitalistische System besonders fröhlicher oder ausgelassener Stimmung gewesen wäre. Im Gegenteil, seine neuerliche Militanz entsprang wie die meisten Formen der Aggression einer tief sitzenden Angst. Das System wurde manisch, weil es unter latenter Depression litt. Hauptgrund für diesen Wandel war der plötzliche Abschwung des Nachkriegsbooms. Durch die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs wurden Profitraten gedrückt, Investitionsquellen ausgetrocknet und das Wachstum gebremst. Selbst die Sozialdemokratie war jetzt als politische Option zu radikal und kostspielig. So waren die Voraussetzungen für Reagan und Thatcher geschaffen, die mithalfen, die traditionelle Produktionsweise zu demontieren, die Arbeiterbewegung zu knebeln, dem Markt die Zügel freizugeben, den repressiven Arm des Staates zu stärken und eine neue Gesellschaftsphilosophie zu verkünden, die man am ehesten als »nackte Gier« bezeichnen kann. Die Verlagerung der Investitionen aus dem Produktions- in den Dienstleistungs-, Finanz- und Kommunikationssektor war lediglich die Reaktion auf eine langwierige Wirtschaftskrise, kein Sprung aus einer hässlichen alten in eine schöne neue Welt.
Trotzdem ist zu bezweifeln, dass die Mehrzahl der Radikalen, die zwischen den 1970er und 1980er Jahren ihre Einstellung zum System änderten, es nur deshalb taten, weil nicht mehr so viele Baumwollspinnereien zu sehen waren. Das hat sie sicherlich nicht bewogen, den Marxismus zusammen mit ihren Koteletten und Stirnbändern abzulegen, sondern die wachsende Überzeugung, dass es zu schwer sei, das Regime, gegen das sie sich auflehnten, zu Fall zu bringen. Ausschlaggebend war nicht, dass sie sich Illusionen über den neuen Kapitalismus machten, sondern dass sie desillusioniert waren, was seine Veränderbarkeit betraf. Natürlich gab es auch eine Vielzahl einstiger Sozialisten, die ihre Trauer rationalisierten, indem sie behaupteten, wenn sich das System nicht verändern lasse, müsse es eben auch nicht verändert werden. Als entscheidend erwies sich jedoch der mangelnde Glaube an eine Alternative. Da die Arbeiterbewegung unterdrückt und aufgerieben und die politische Linke entscheidend geschwächt war, schien sich die Zukunft spurlos aus dem Staub gemacht zu haben. Bei einigen Linken vertiefte das Ende der Sowjetunion in den späten 1980er Jahren die Ernüchterung noch zusätzlich. Da war es auch nicht gerade hilfreich, dass sich die erfolgreichste Strömung der Moderne – der revolutionäre Nationalismus – zu diesem Zeitpunkt ebenfalls weitgehend erschöpft hatte. Was die Kultur der Postmoderne mit ihrem Abgesang auf die sogenannten großen Narrative und der vollmundigen Verkündigung des Endes der Geschichte hervorbrachte, war vor allem die Überzeugung, dass die Zukunft einfach mehr Gegenwart sein werde. Oder, wie es ein überschwänglicher Postmoderner ausdrückte:...