Eagleton | Materialismus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Eagleton Materialismus

Die Welt erfassen und verändern
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85371-859-9
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Welt erfassen und verändern

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-85371-859-9
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In seinem neuesten Werk setzt sich der bekannte britische Autor und Literaturwissenschaftler Terry Eagleton mit dem Verhältnis von Philosophie und Alltagserfahrung auseinander. Er bietet eine humanistische, für das praktische Zusammenleben der Menschen taugliche Variante des Denkens. Angesichts einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich weitgehend als 'materialistisch' definieren und eines von emanzipatorischen Inhalten befreiten 'New Materialism' an den Universitäten hält Eagleton an einer 'Politik der Materie' fest, die für die Veränderung der Umstände eintritt. In einem Streifzug durch die Ideengeschichte des Materialismus, von Demokrit über Aristoteles bis hin zu Sigmund Freud, verteidigt der Autor die materialistische Gesinnung auch gegen aktuelle Trends der 'Cultural Studies' und postmoderner Strömungen. Eagleton bringt in diesem Buch drei bekannte Materialisten und ihre Lehren zusammen: Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Karl Marx. In einem eindrucksvollen Vergleich ihrer Theorien spannt er einen weiten Bogen, von der Sprache über die Geschichte, von der Ideologie zur Ethik, bis hin zu ästhetischen und politischen Fragen. All dies gelingt Eagleton mit viel Witz und Polemik, in lockerer Sprache, die jahrhundertealte philosophische Diskussionen auch einem damit nicht vertrauten Publikum näherbringt. Für Eagleton ist es die 'Anti-Philosophie' und ihr bekanntester Exponent Karl Marx, die er als Ausdruck eines gelungenen materialistischen Weltbilds ansieht. Und so zitiert er in seinem Werk auch Marx' Ausspruch: 'Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt.' In dieser Tradition des kritischen Denkens, dem Humor nicht fremd ist, schlägt Eagleton mit 'Materialismus' ein neues Kapitel auf.

Terry Eagleton, geboren 1943 in Salford (England), lehrt englische Literatur an der Universität von Lancaster. Zuvor unterrichtete er unter anderem in Oxford, Manchester, Duke und Yale. Seine marxistisch inspirierte Philosophie und Literaturtheorie legte er in über 40 Büchern nieder, von denen viele auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern wurden, darunter 'Einführung in die Literaturtheorie' (1988), 'Die Illusionen der Postmoderne' (1997), 'Der Sinn des Lebens' (2008) und 'Warum Marx recht hat' (2012).

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Kapitel Eins
Materialismen
Der Materialismus ist in verschiedenen Geschmackssorten erhältlich. Es gibt hartgesottene Varianten und weichgekochte. In Anbetracht der beängstigenden Größe des Gegenstands, ganz zu schweigen von meinen eigenen intellektuellen Beschränkungen, werden jedoch nur einige der Strömungen des materialistischen Denkens in diesem Buch behandelt. Mir geht es nicht um die äußerst technischen Fragen von Monismus, Dualismus, Eliminativismus oder dem Leib-Seele-Problem im Allgemeinen. Sondern um Arten von Materialismus, die im weiteren Sinne gesellschaftlich oder politisch sind – und von denen die Neurowissenschaftler nichts Spannendes zu berichten wissen. Wenn Sie zu jenen Materialisten zählen, die davon überzeugt sind, dass die materiellen Bedingungen in den menschlichen Beziehungen den Ton angeben, dann werden Sie vielleicht diese Bedingungen verändern wollen – in der Hoffnung, dass Sie damit die Weise ändern, in der die Leute denken und handeln. Wenn Ihr Materialismus von der deterministischen Sorte ist, der Menschen als komplett von ihrer Umwelt konditioniert ansieht, könnte dies ein vielversprechendes Projekt für Sie sein. Das Problem ist nur: Wenn Individuen nichts weiter sind als die Funktionen ihrer Umgebung, dann muss das auch auf Sie zutreffen. Und wie können Sie daraufhin diesen Kontext verändern, wenn Sie doch selbst ein Produkt davon sind? Trotz dieser verstörenden Fragen war der Materialismus traditionell (wenn auch nicht exklusiv) mit einem radikalen politischen Denken verbunden. Empirische Materialisten wie die englischen Denker des 18. Jahrhunderts David Hartley und Joseph Priestley waren überzeugt, dass der Geist aus Sinneseindrücken besteht. Sie glaubten daran, dass die Sinneseindrücke aus der Umwelt abstammen würden und dass, wenn man diese Umwelt nur so umgestalten könnte, damit sie die »richtigen« Sinnesdaten liefere, man das menschliche Verhalten dramatisch verbessern könnte.1 Politisch gesprochen war dies kein fortschrittliches Vorhaben. Wie Marx später ausführen sollte, diente die besagte Veränderung den Bedürfnissen und Interessen des Herrschers. Mit gewohntem Scharfsinn erkannte Marx die politischen Ideen, die in dieser Erkenntnistheorie steckten. Zur Zeit des Englischen Bürgerkriegs gibt es eine Verbindung zwischen radikalem Denken und Materialismus in so manchen linken Gedankengängen, etwa in den Arbeiten von Baruch Spinoza und den philosophes der französischen Aufklärung. Dieses Erbe ging auf Marx und Engels über und taucht in der heutigen Zeit in den Schriften von so dissidenten Theoretikern wie Gilles Deleuze auf. (Darwin, Nietzsche und Freud sind auch radikale Materialisten, aber keine Theoretiker der radikalen Linken.) Obwohl das Wort »Materialismus« im 18. Jahrhundert geprägt wurde, stammt die Lehre aus der Antike2. Einer ihrer frühesten Vertreter, der griechische Philosoph Epikur, war das Thema der Doktorarbeit von Karl Marx. Marx bewunderte Epikurs Leidenschaft für Gerechtigkeit und Freiheit, seine Abneigung gegen das Anhäufen von Reichtum, seine aufgeklärte Haltung zu Frauen und den Ernst, mit der er die sinnliche Natur der Menschheit erfasste. Für Marx waren diese Haltungen verbunden mit Epikurs philosophischen Ansichten. Materialismus bedeutete für Epikur, wie für die Aufklärung, die Befreiung von der Priesterschaft und vom Aberglauben. Isaac Newton und seinen Kollegen galt die Materie als rohe, träge Masse (Newton nannte sie auch »dumm«), und als solche musste sie von der äußeren Macht des göttlichen Willens bewegt werden. Ein Punkt, der für den menschlichen Körper von Bedeutung ist. Denn wer den Körper als Leichnam betrachtet, verspürt wahrscheinlich den Drang, ihm irgendein geisterhaftes Wesen an die Seite zu stellen, das ihn wachrüttelt. Er wird sich kaum selbst beleben, so schwerfällig und plump, wie er gebaut ist. Deshalb sind körperlose Geister und Seelen unter anderem ein Versuch, die Unfertigkeiten des mechanischen Materialismus auszugleichen. In einer weniger mechanistischen Sicht auf die Materie wären sie überflüssig. Wenn Geist und Natur voneinander getrennte Bereiche sind, dann ist ersterer dazu in der Lage, seinen Einfluss über letztere auszuüben. Folglich regieren bei Newton die spirituellen Kräfte über die Natur wie Monarchen und Despoten über ihre Staaten. Im Gegensatz dazu gibt es im radikalen Denken seit Spinoza keinen Bedarf an erhabenen Autoritäten. Die Materie selbst ist lebendig, und sie ist nicht nur lebendig, sondern auch selbst-bestimmt wie die Bevölkerung eines demokratischen Staates. Um sie in Gang zu bringen, braucht es keine höhere Macht. Wer sich der materiellen Welt ernsthaft widmen will, und dem materiellen Wohlergehen der darin lebenden Menschen, der glaubt nicht an Geister. Es gibt somit auch keine himmlischen Ablenkungen von der Aufgabe, Armut und Ungerechtigkeiten abzuschaffen. Die Herrschaft der Kirche ist gebannt, denn wenn der Geist sich rund um uns befindet, kann die Priesterschaft auch kein Monopol darauf erheben. Deshalb können wir von einer Politik der Materie sprechen. Ein Materialist verleiht Menschen einen Grad an Würde, indem er sie als Teil der materiellen Welt versteht, die identisch ist mit dem Allmächtigen – so sah es zumindest der pantheistische Spinoza. Materialismus und Humanismus sind daher natürliche Verbündete. Ebenso könnte man die etwas konservativeren Humanisten kritisieren, für die eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur besteht. Eine derartige philosophische Arroganz lässt sich ins Wanken bringen, wenn man auf den alltäglichen Zustand der Menschheit verweist, die demütig mit der materiellen Welt und ihren Artgenossen auskommt. Die Menschheit ist nicht der Gott der Schöpfung, sondern Teil seiner Gemeinschaftlichkeit, unser Fleisch und unsere Sehnen sind gewebt aus demselben Stoff wie die Kräfte, die die Wellen aufwühlen und die Kornfelder reifen lassen. Friedrich Engels bemerkte in seiner Dialektik der Natur, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.3 Kurz bevor Engels diese Zeilen schrieb, legte Darwin unsere Herkunft offen. Er wies einer Menschheit, die viel lieber aus besserem Hause gestammt hätte, ihren Platz in einem wenig glanzvollen Geflecht aus materiellen Vorgängen zu. Schließlich gibt es auch eine ethische Dimension des Materialismus, und ebenso eine politische. Statt humanistischer Überheblichkeit setzt er auf unsere Solidarität mit den gewöhnlichen Dingen der Welt und kultiviert so die Tugend der Bescheidenheit. Er macht unsere Abhängigkeit von der Umwelt deutlich und zeigt sich bestürzt über das Hirngespinst, dass Menschen voll und ganz selbst-bestimmt wären. »Die anfängliche Hilflosigkeit des Menschen«, schreibt Sigmund Freud, »ist die Urquelle aller moralischen Motive.«4 Was uns zu moralischen Wesen macht, ist nicht unsere Autonomie, sondern unsere Verletzlichkeit, nicht unsere Verschlossenheit, sondern unsere Unabgeschlossenheit. Im Geiste dieser materialistischen Überzeugung schreibt der marxistische Philosoph Sebastiano Timpanaro davon, wie die Resultate der wissenschaftlichen Forschung uns lehren, dass der Mensch eine unbedeutende Rolle im Universum einnimmt; dass lange Zeit kein Leben auf der Erde existierte, und dass sein Ursprung von sehr speziellen Bedingungen abhängig war; dass menschliches Denken durch bestimmte anatomische und physiologische Strukturen bedingt ist und durch bestimmte pathologische Veränderungen dieser Strukturen getrübt wie auch beeinträchtigt wird.5 Ein Materialismus dieser Art resultiert nicht im Nihilismus, sondern im Realismus. All unsere Errungenschaften müssen sich wie in einer Tragödie unsere Fragilität und Endlichkeit eingestehen, wenn sie auf festem Boden stehen sollen. Materialistisches Denken birgt auch noch andere moralische Vorteile. Es weiß, wie hartnäckig die Materie ist, und setzt sich für den Respekt des Andersseins und der Integrität der Welt ein – im Gegensatz zum postmodernen Narzissmus, der nichts als Abbilder der menschlichen Kultur erblickt, wohin er auch schaut. Für die Postmoderne ist die Wirklichkeit nur Ton in unseren Händen, den der herrschaftliche Wille ausrollt, in Streifen schneidet, weichklopft und anschließend ummodelt. So eine Position ist nichts weiter als eine spätkapitalistische Version der alten gnostischen Ablehnung der Materie. Marxisten wie Timpanaro sind auch Vertreter des sogenannten historischen Materialismus, auf den wir später noch ausführlich zu sprechen kommen.6 Einige von ihnen (heutzutage allerdings eine verschwindende Schar) sind auch Verfechter des dialektischen Materialismus, manchmal auch nur marxistische Philosophie genannt.7 Wie der Name besagt, ist der historische Materialismus eine Theorie der Geschichte, während der dialektische Materialismus und seine grundlegende Schrift Dialektik der Natur von Friedrich Engels eine weitaus ehrgeizigere Vorstellung der Wirklichkeit anbietet. Sein theoretischer Horizont ist nichts weniger als der Kosmos selbst – das ist fraglos einer der Gründe, warum er in unseren pragmatischen Zeiten unten durch ist. Von den Ameisen zu den Asteroiden ist die Welt ein dynamischer Komplex...


Terry Eagleton, geboren 1943 in Salford (England), lehrt englische Literatur an der Universität von Lancaster. Zuvor unterrichtete er unter anderem in Oxford, Manchester, Duke und Yale. Seine marxistisch inspirierte Philosophie und Literaturtheorie legte er in über 40 Büchern nieder, von denen viele auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern wurden, darunter "Einführung in die Literaturtheorie" (1988), "Die Illusionen der Postmoderne" (1997), "Der Sinn des Lebens" (2008) und "Warum Marx recht hat" (2012).



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