Dyer | Sex in Venedig, Tod in Varanasi | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Dyer Sex in Venedig, Tod in Varanasi

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8321-8644-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8644-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Venedig. Der ausgebrannte Journalist Jeff soll von der Biennale berichten. Obwohl er die Kunstwelt verachtet, stürzt er sich ins Partyleben rund um die Messe und trifft auf Laura, die ihn in ihren Bann schlägt. Er weiß, er muss sie wiedersehen, doch sie will auf den Zufall setzen: Trifft man sich wieder, ist es Schicksal - wenn nicht, soll es auch so sein. Jeff fügt sich. Ab jetzt folgt er einem Schemen - bis sie sich wiedersehen und es kein Halten mehr gibt. Varanasi. Eine Reportage hat den Erzähler hergeführt. Wer hier stirbt, soll das Rad der ewigen Wiederkehr verlassen können. Er sieht brennende Leichen am Ufer des Ganges, trifft auf Aussteiger und Straßenkinder, Götter und Gottverlassene, ist abgestoßen und fasziniert. Die Stadt verschlingt ihn, der Trip nach Varanasi wird zur Reise ins Ich. Und schließlich wird der Narr zum Weisen. Oder der Weise zum Narren. Mit diesem grandiosen Spagat zwischen zwei großen mythenbeladenen Orten aus West und Ost zeigt Geoff Dyer, warum er in seiner Heimat zum Kulturerbe zählt. Mit Witz, einmaliger Beobachtungsgabe und dem absoluten Gehör für funkensprühende Dialoge gesegnet, setzt er seine Figuren dem Geist des Ortes aus, bis sie merken: Wohin man auch geht, eins hat man immer im Gepäck - sich selbst. Ein brillanter Autor, zwei Orte voller unvorhergesehener Erlebnisse und ein Buch, wie es noch nie da gewesen ist. »Sehr lustig, voller Mut, so verzehrend wie wohlschmeckend. Sie werden Venedig danach mit anderen Augen sehen!« Michael Ondaatje

Geoff Dyer ist der Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Sachbücher, darunter die viel gerühmte Jazz-Studie >But Beautiful<. Zuletzt erschienen >Zona<, eine Verneigung vor Andrej Tarkowskij, und >Another Great Day at Sea< über seinen Aufenthalt auf dem Flugzeugträger USS George H.W. Bush. Der u. a. mit dem Lannan Literary Award, dem E. M. Forster Award und dem Windham-Campbell Prize for Nonfiction ausgezeichnete Schriftsteller lebt zurzeit in Los Angeles. Bei DuMont erschienen >Sex in Venedig
Dyer Sex in Venedig, Tod in Varanasi jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Jeffrey Atman verließ an einem Juninachmittag des Jahres 2003, als es für einen kurzen Moment so aussah, als wäre die Invasion im Irak doch gar keine so schlechte Idee gewesen, seine Wohnung, um einen Spaziergang zu machen. Er musste hinaus aus der Wohnung, weil jetzt, da die anfängliche Erleichterung über den Gesamtzusammenhang verflogen war – Erleichterung darüber, dass Saddam seine nicht existenten Massenvernichtungswaffen nicht gegen London gerichtet hatte, dass die ganze Welt nicht in einen Flächenbrand gerissen worden war –, die unzähligen Irritationen und Frustrationen in den Einzelheiten umso heftiger wiederkehrten. Die Aufgabe, die er eigentlich vormittags hatte erledigen wollen, hatte ihn extrem angeödet; ein zwölfhundert Worte langes sogenanntes Think Piece (das null Denken seitens des Lesers erfordern sollte und kaum mehr von dem Verfasser, mit dem er aber irgendwie trotzdem nicht zurande kam). Es hatte ihn so sehr gelangweilt, dass er schließlich eine halbe Stunde lang nur auf die einzeilige E-Mail an den Redakteur gestarrt hatte, von dem er den Auftrag bekommen hatte:

»Ich kann diese Scheiße einfach nicht mehr machen. Gr. J. A.«

Der Bildschirm bot nur eine nüchterne Wahl: Senden oder Löschen. So einfach war das. Auf Senden klicken, und er hatte es hinter sich. Auf Löschen klicken, und er war wieder da, wo er angefangen hatte. Wenn es so leicht wäre, sich das Leben zu nehmen, gäbe es jeden Tag Tausende von Selbstmorden. Du stößt dir den Zeh auf dem Weg zum Bad. Klick. Du kleckerst dir beim Toastessen Marmelade auf den Ärmel. Klick. Es beginnt zu regnen, sowie du das Haus verlässt, und dein Regenschirm ist oben. Was tun? Wieder raufgehen und ihn holen, ohne ihn losgehen und klitschnass werden oder … klick. Während er noch dasaß und auf die E-Mail starrte, beinahe im Begriff, sie abzuschicken, wusste er bereits, dass er es nicht tun würde. Der Gedanke daran, sie abzuschicken, genügte, um ihn davon abzuhalten. Anstatt also die E-Mail abzuschicken oder an seinem Artikel über eine ›umstrittene‹ neue Kunstinstallation am Serpentine weiterzuarbeiten, saß er da wie gelähmt und tat weder das eine noch das andere.

Um den Bann zu brechen, klickte er auf Löschen und verließ das Haus, als flöhe er vom Schauplatz irgendeines düsteren, noch unbegangenen Verbrechens. Er hoffte, frische Luft (wenn man sie so bezeichnen konnte) und Bewegung würden ihn wieder so weit beleben, dass er am Abend noch schnell diesen blöden Artikel erledigen konnte, um danach die letzten Vorbereitungen für seinen Flug nach Venedig am darauffolgenden Nachmittag zu treffen. Und wenn er dann in Venedig war? Dort musste er noch mehr von solchem Mist produzieren. Er sollte über die Eröffnung der Biennale berichten – das war in Ordnung, das war ein Kinderspiel –, aber dann hatte sich noch ein Interview mit Julia Berman ergeben (oder zumindest ein wahrscheinliches Interview mit Julia Berman), und jetzt musste er nicht nur über die Biennale schreiben, sondern sie auch noch überreden, sie anbetteln, anflehen (und sich generell erniedrigen), ein Interview zu geben, das im Endeffekt nur weitere kostenlose Werbung für das demnächst erscheinende Album ihrer Tochter wäre und zum ohnehin schon überblähten Renommee von deren Papa, Steven Morison, dem notorisch überschätzten Künstler, beitragen würde. Und dann sollte er sie auch noch überreden, Kulchur die Exklusivrechte für die Veröffentlichung einer Zeichnung zu überlassen, die Morison von ihr gemacht hatte, einer bislang unveröffentlichten Arbeit, die niemand bei Kulchur je gesehen hatte, doch die aufgrund der Angst, dass ein Konkurrenzblatt ihrer habhaft werden könnte, den Status eines seltenen und wertvollen Artefakts erworben hatte. Was die Bestandteile dieses Arrangements jeweils für einen Wert hatten, war völlig irrelevant. Entscheidend war, dass hinsichtlich Marketing und Publicity (oder aus verlegerischer Sicht Auflage und Werbung) eine optimale Planetenkonstellation vorlag. Er musste sie interviewen, er brauchte das Bild und das Recht, es abzudrucken. Mannomann …

Eine Frau, die ein Kind im Buggy vor sich herschob, warf ihm schnell einen Blick zu und sah noch schneller wieder weg. Wahrscheinlich war es wieder einmal passiert – er hatte diese Angewohnheit, nicht direkt laut mit sich selber zu reden, sondern die Worte mit dem Mund zu formen, als eine unbewusste Lippensynchronisierung des reißenden Stroms von Klagen, der ständig durch seinen Kopf stürzte. Er hielt den Mund fest geschlossen. Er musste damit aufhören. Von all den Dingen, mit denen er aufhören oder anfangen musste, stand dieses hier ganz oben auf der Liste. Aber wie hört man mit etwas auf, wenn man gar nicht merkt, dass man es überhaupt tut? Es war Charlotte gewesen, die ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, als sie noch zusammen gewesen waren, aber wahrscheinlich hatte er es da schon seit Jahren getan. Gegen Ende hatte sie sein stummes Karaoke nur noch als »es« bezeichnet. »Da ist es wieder«, sagte sie dann, »du machst es schon wieder.« Am Anfang war es ein interner Scherz gewesen. Später, wie alles in einer Ehe, war es plötzlich kein Scherz mehr, sondern wurde zu einem Zankapfel, einem Problem, einem Anlass von Verstimmung, zu einem der vielen Dinge, die das Leben auf dem Planeten Jeff – wie sie die unbewohnbare Einöde ihrer Ehe bezeichnete – unerträglich machten. Er hatte ihr immer entgegengehalten, sie wolle einfach nicht begreifen, dass das Leben auf dem Planeten Jeff auch für ihn unerträglich war, und zwar noch mehr als für alle anderen. Worauf sie stets zur Antwort gab, genau darauf wolle sie hinaus.

Gegenwärtig gab es niemanden in seinem Leben, der ihn darauf aufmerksam machte, dass er hier auf offener Straße seine Gedanken lautlos vor sich hin murmelte. Es war eine sehr schlechte Angewohnheit. Er musste damit aufhören. Aber es war gut möglich, dass er, während er die Straße entlangging, stumm die Worte murmelte: »Das ist eine sehr schlechte Angewohnheit, ich muss damit aufhören, es ist sogar gut möglich, dass ich, während ich die Straße entlanggehe, stumm diese Worte …« Er drückte die Lippen fest aufeinander, um diesen Gedankengang abzuschalten. Diese Angewohnheit, Worte stumm mit den Lippen zu bilden, konnte er sich nur abgewöhnen, wenn er sich abgewöhnte, die Worte in seinem Gehirn zu bilden, sich abgewöhnte, die Gedanken zu haben, die die Worte bildeten. Wie machte man das? Es war ein größeres Unterfangen, das gehörte zu den Dingen, die man in einem Ashram erledigte, nicht kosmetisch im Schönheitssalon um die Ecke. Früher oder später wird sich alles, was im Innern vor sich geht, äußerlich manifestieren. Das Innere wird veräußerlicht … Er rang sich ein Lächeln ab. Wenn er sich nun angewöhnen könnte, ständig so zu lächeln, sodass sein Gesicht in Ruhestellung fröhlich aussah, dann könnte vielleicht das Äußere verinnerlicht werden, könnte er allmählich innerlich strahlen. Es war nur so anstrengend, ständig so zu lächeln. Sowie er sich nicht mehr bewusst auf das Lächeln konzentrierte, verfiel sein Gesicht wieder in seine übliche nichtstrahlende Norm. »Norm« war sicherlich das treffende Wort. Die meisten Passanten wirkten zu Tode betrübt. Viele machten ein Gesicht, als hätte ihre Seele schlechte Laune. Vielleicht hatte Alex Ferguson ja recht, vielleicht hieß die einzige Antwort, wie ein Wilder Kaugummi zu kauen. In dem Fall bot sich die Lösung auch gleich in der Gestalt eines Zeitungsladens.

Hinter der Theke stand eine junge Inderin. Wie alt? Siebzehn? Achtzehn? Aber bildschön und mit einem strahlenden Lächeln, ungewöhnlich für Leute ihres Fachs. Vielleicht fing sie ja gerade erst an, gönnte sich eine Auszeit von ihrer Kollegstufe oder wie man das heutzutage nannte, vertrat ihren grantigen Vater, der zwar wenig Englisch sprach, sich aber so vollständig an die britische Lebensart angepasst hatte, dass er genauso sauer aussah wie jemand, dessen Vorfahren mit den Normannen herübergekommen waren. Die Begegnungen mit diesem, so kurz sie auch sein mochten, nahmen Atman immer ziemlich mit, weil der Kerl es immer schaffte, jedes Gefühl von Wohlbefinden aus ihm herauszusaugen, das er beim Betreten des Ladens noch verspürt haben mochte. Obwohl es schwerfiel, die Gewohnheit zu unterdrücken, »Bitte« oder »Danke« zu sagen, griff sich Jeff als Vergeltung, als Protest gegen die Weigerung des Burschen, die einfachsten Höflichkeitsregeln einzuhalten, die Waren – die Zeitung, einen Schokoriegel – und hielt dem Mann das Geld hin, ohne ein Wort zu sagen. Doch heute war das ganz anders. Jeff gab ihr eine Pfundmünze. Sie gab ihm das Wechselgeld zurück, begegnete seinem Blick und lächelte. Noch ein paar Jahre, dann würde sie kaum mehr darauf achten, wen sie gerade bediente, würde nur kurz aufblicken, nach dem Geld grapschen und nicht versuchen, die Begegnung zu irgendetwas zu machen, das über die unbedeutende finanzielle Transaktion, die sie letztendlich war, hinausging. Aber im Moment hatte es etwas ganz Zauberhaftes. Es war so einfach, Menschen (d.h. Jeff) dabei zu helfen, ihrem Leben (d.h. sich selbst) positiver gegenüberzustehen, so einfach, die Welt ein klein wenig besser zu machen. Das Rätselhafte war, dass so viele Menschen – und oft genug gehörte er selbst zu ihnen – sie lieber schlechter machen wollten. Er verließ den Laden fröhlicher, als er hereingekommen war, von ihr verzaubert, sogar ein wenig erregt. Vielleicht nicht direkt erregt, aber neugierig. Neugierig, was für Unterwäsche sie wohl unter dem T-Shirt und den tief sitzenden Jeans trug – vermutlich genau die Denkart, die vielen in der muslimischen Gemeinschaft – der...


Dyer, Geoff
Geoff Dyer ist der Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Sachbücher, darunter die viel gerühmte Jazz-Studie ›But Beautiful‹. Zuletzt erschienen ›Zona‹, eine Verneigung vor Andrej Tarkowskij, und ›Another Great Day at Sea‹ über seinen Aufenthalt auf dem Flugzeugträger USS George H.W. Bush. Der u. a. mit dem Lannan Literary Award, dem E. M. Forster Award und dem Windham-Campbell Prize for Nonfiction ausgezeichnete Schriftsteller lebt zurzeit in Los Angeles. Bei DuMont erschienen ›Sex in Venedig

Müller, Matthias
Matthias Müller, geboren 1950, übersetzte u.a. John Cheever, Don DeLillo, Colum McCann, Rohinton Mistry und Amitav Ghosh. Seit 1997 lebt er in Amsterdam.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.