E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Dunlap We Will Fall
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7336-5107-7
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Liebesgeschichte
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-7336-5107-7
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Shannon Dunlap hat an der New York University studiert und lebt mit ihrer Familie in Brooklyn. »We will fall. Eine Liebesgeschichte« ist ihr Debüt.
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Erster Teil
Tristan
The Knight
Marcus sitzt ein paar Meter hinter mir auf einer Parkbank, und obwohl meine Augen auf das Brett gerichtet sind, weiß ich genau, was ich sehen werde, wenn ich mich umdrehe. Er streckt seine langen Arme aus, nimmt Raum ein, einfach weil er es kann. Dadurch müssen sich seine Lakaien an den Rand der Bank klemmen oder mit dem Platz dahinter begnügen: Tyrone, K-Dawg, Frodo – allesamt weniger charismatisch als die Figuren auf dem Brett und mit ungefähr genauso viel Hirn. Ich höre Marcus gähnen und weiß, was für eine große Show er daraus macht, seine Cap zurechtzurücken und die Augen zu schließen, als könnte ihm nichts gleichgültiger sein als diese Partie.
»Yo, T, dauert das noch lange?«, fragt er. Als ich vor zwei Jahren nach Brooklyn und zu Auntie Patrice zog, pflegte Marcus mich Lil’ T zu nennen, weil Tyrone schon T hieß. Aber das war, bevor ich anfing, für ihn am Schachtisch Geld zu verdienen.
»Es dauert, solange es dauert«, murmelt Antoine. Ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie er die Arme vor der Brust verschränkt hält. Er ist nervös. Und das sollte er auch sein, denn seinem Mann, diesem fetten puertorikanischen Jungen mir gegenüber am Tisch, gehen die Optionen aus. Deshalb versucht er es, seinen Turm heimlich in eine bessere Position zu bringen. Schlechter Zug.
»Es dauert, solange es dauert«, sage ich, ohne den Blick vom Brett zu heben. »Sagt man so. Aber es ist fast vorbei. Schach.«
Ich kann spüren, wie sich hinter mir langsam ein Grinsen auf Marcus’ Gesicht ausbreitet.
Von dem Punkt an ist es Routine, inklusive des Geschreis ein paar Züge später, als ich das Schachmatt verkünde. (Und ich muss es immer verkünden, weil die Leute einen Killerzug nicht mal dann erkennen, wenn er ihnen mit dem nackten Arsch ins Gesicht springt.)
»Gut gemacht, Lil’ T«, sagt Tyrone und boxt mir gegen die Schulter.
»So klein ist der gar nicht mehr, was, Tyrone?«, sagt Frodo. Frodo ist selbst so klein und hässlich, dass die einzige echte Freude in seinem Leben darin besteht, sich wichtiger als Tyrone zu fühlen.
Ich ignoriere beide, genauso wie Antoine, der rübergeht, um Marcus zu bezahlen. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, dem fetten Jungen die Hand zu schütteln. Ich will gar nicht wissen, wie viele Dollars Marcus auf solche Spiele setzt. Das stört mich beim Spielen.
»Gute Partie«, sage ich und sehe dem fetten Jungen zum ersten Mal an diesem Tag direkt in sein Puppengesicht. Er ist jung, vielleicht erst vierzehn, und seine Gefühle sind von Kopf bis Fuß unübersehbar. Er hat versucht, mir mit einer seltsamen Eröffnung namens eine Falle zu stellen. Der Junge hat Mut, wenn auch noch nicht die entsprechende Erfahrung.
»Yeah«, sagt er, »für dich vielleicht.«
»Hey«, sage ich und senke meine Stimme, »du solltest nicht mit Antoine abhängen. Kein guter Umgang, Mann.«
Der fette Junge grinst. »Yeah. Marcus etwa nicht?«
Und dann ist es Zeit zu gehen, den Park zu verlassen, die Lakaien loszuwerden, mit Marcus nach Hause zu laufen, vielleicht noch einen Joint mit ihm zu rauchen, um vom Adrenalin der Partie runterzukommen. Und es ist Zeit, den armen fetten Jungen zurückzulassen, bevor er ein bisschen von Antoine runtergemacht wird.
Die Luft heute Abend ist schon ein bisschen kühl, das erste Anzeichen von Herbst in diesem Jahr, aber während wir den Eastern Parkway runterschlendern, trägt Marcus immer noch kurze Ärmel. Ich weiß, dass er das wahrscheinlich noch wochenlang tun wird. Er verdeckt seine Tattoos, die ein Vermögen gekostet haben, nicht gern. Das ist der wahre Grund. Aber wenn die Mädchen mit dem Lipgloss, den engen Jeans und tief ausgeschnittenen Tops quietschen und fragen: »Ist dir nicht kaaaalt?«, dann lässt er sein Tausend-Watt-Lächeln aufblitzen und sagt: »Heißblütig.«
Manchmal, wenn ich die grobe Kraft von Marcus’ Bizeps sehe, wundere ich mich schon, wie es sein kann, dass wir verwandt sind oder auch nur derselben Spezies angehören. Das sind wir aber, blutsverwandt sogar. Sein Vater ist der Bruder meiner Mutter (»Gott schenke ihrer wundervollen Seele Frieden«, sagt Uncle Sherwin immer unter Tränen zu mir, wenn er einen Rum-Punch zu viel hatte), und Auntie Patrice, bei der ich wohne, ist die Tante von uns beiden. Marcus lebt mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Chantal im selben Block. Offiziell jedenfalls. In Wirklichkeit wohnt Marcus überall und nirgends: Auf den Basketballplätzen unten auf den Piers, auf den Bänken vor dem TipTop Social Club, wo die alten Männer würfeln, oder auch an Patrice’ Tisch, wo er sich zur Abendessenszeit oft unangekündigt auf einen Stuhl fallen lässt; aber auch an der Ecke Fulton und Nostrand, wo er verschiedenen Geschäften nachgeht. Er besteht darauf, dass ich darüber nicht allzu viel wissen muss. In dem Punkt widerspreche ich ihm nie.
Es gibt da draußen ein paar Leute, die Angst vor Marcus haben, und nicht alle sind so hilflos wie fette Schachspieler. Beim Abhängen mit Marcus habe ich schon einige Dinge gesehen, bei denen ich mir gewünscht habe, mein Gehirn hätte eine Löschfunktion. Aber auf welcher Waage auch immer ich das abwäge, meine Loyalität Marcus gegenüber hat immer das meiste Gewicht, und das nicht nur, weil er für jemand wie mich die beste Versicherung dagegen ist, zusammengeschlagen zu werden. Er ist Familie, kurz und bündig, und wir beginnen einfach immer auf derselben Seite des Schachbretts. Marcus kann impulsiv sein, und ich will auf keinen Fall, dass er in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Aber die meiste Zeit über wirkt er sowieso viel zu perfekt, als dass irgendwas schiefgehen könnte.
Als wir unseren Block erreicht haben, joggt er die Stufen zu seiner Wohnungstür hoch, und ich verabschiede mich, doch da meint Marcus »warte«, setzt sich auf die oberste Stufe und deutet mit dem Kopf auf die Stelle neben sich. Mein Mund ist trocken, und dieser seltsame Nach-dem-Spiel-Kopfschmerz dringt allmählich durch die leichte Benommenheit vom Gras. Ich will nur nach Hause und versuchen, vor dem Abendessen noch ein Nickerchen zu machen. Aber stattdessen setze ich mich, eine Stufe unter ihn, wobei ich mir einrede, das sei, damit wir beide mehr Platz haben.
»Das war echt eine Leistung, was du da heute geliefert hast«, sagt Marcus.
»Das war nix«, sage ich. »Der Junge hatte von Anfang an Schiss. Vor Antoine, nicht vor mir.«
Marcus streckt sich lächelnd nach hinten und stützt seine nackten Ellbogen auf den Beton des Treppenabsatzes. »Du musst mal lernen, ein Kompliment anzunehmen, Lil’ T.«
Ich zucke mit den Schultern. Marcus weiß null über Schach, und ich mache mir nichts aus leeren Lobreden.
»Nächste Woche Schule«, sagt er.
»Yup.«
»Willst du was Verrücktes hören?«
Ich drehe mich ein Stückchen zu ihm um und hebe fragend eine Augenbraue. »Macht Frodo dieses Jahr seinen Abschluss?«
Marcus lächelt als kleine Anerkennung für meinen lahmen Witz mit all seinen strahlend weißen Zähnen. »Nah. Die Sache ist die: Ich hab das Gefühl, dass das mein Jahr ist. Mein Jahr, um es nach oben zu schaffen. Mein Moment. Klingt das irre?«
Klingt es, aber nur weil aus meiner Perspektive Marcus schon immer oben war. Er kommt jetzt in die Zwölfte. Und dass er es so weit geschafft hat, ist größtenteils dem Flehen seiner Mutter zu verdanken (sowohl ihm als auch der Schulleitung gegenüber) und der Tatsache, dass die Schule seinen Platz im sozialen Ranking bestätigt. Ich bin nur eine Klasse unter ihm, aber ganze zweieinhalb Jahre jünger, was man mir übrigens auch ansieht. Kleiner Tipp: Eine Klasse zu überspringen ist kein Weg, um sich unter Gleichaltrigen Respekt und Bewunderung zu verdienen.
»Nope«, sage ich.
»Die Dinge ändern sich, T«, sagt er mit diesem Blick, den er manchmal drauf hat und der mich an den eines Pitchers erinnert, der sich zum Werfen bereitmacht. »Das spüre ich.«
»Mmmm.« Es fällt mir schwer, mich auf irgendwas anderes zu konzentrieren als auf die trockene Stelle in meiner Kehle. Darauf und auf das Bild des fetten Jungen mit blauem Auge und geschwollener Lippe. Wie er sich nach Hause schleppt, um weiter Schach zu üben. Vielleicht masturbiert er ja aus Einsamkeit, wenn er das Bad in seiner winzigen Wohnung ein paar Minuten für sich hat. Mir kommt der Gedanke, dass der einzige Unterschied zwischen ihm und mir ein paar verlorene Partien sind. Das wiegt weniger als die Samen einer Pusteblume.
»Du bist eine Million Meilen weit weg«, sagt Marcus lässig, und ich reiße mich, aus Angst ihn zu verärgern, schnell zusammen. »Aber das ist okay, T. Bei all dem, was da oben vor sich geht.« Er tippt sich an die Schläfe. »Das macht einen Sieger aus dir.« Und dann lächelt er dieses Lächeln, das mir so weiche Knie macht wie den Mädchen, die ihm nachlaufen. Er gibt mir einen etwas zu festen Klaps auf den Hinterkopf.
Genau das ist das Problem mit Marcus: Er kann einen so einwickeln, dass manchmal sogar ich vergesse, wie mächtig er ist.
Das Schloss an der Wohnungstür klemmt, und man muss immer ein paar Augenblicke mit dem Schlüssel daran rummachen, bis es aufgeht. Das gibt mir genug Zeit, um an meiner Jacke nach Rauch zu schnüffeln und entsprechend paranoid zu werden. Während Marcus eine Macht ist, mit der man rechnen muss, ist Auntie Patrice die reinste Naturgewalt. Als ich ihre Wohnung im dritten Stock betrete, rührt sie in einem Topf auf dem Herd herum, schreibt aber gleichzeitig noch mit einer Hand eine E-Mail auf ihrem Laptop, der auf der...