E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: dtv- pocket
Dunker Sommergewitter
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-423-41213-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: dtv- pocket
ISBN: 978-3-423-41213-1
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kristina Dunker, 1973 in Dortmund geboren, studierte Kunstgeschichte und Archäologie in Bochum und Pisa und arbeitete als freie Journalistin. Im Alter von 17 Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Seither hat Kristina Dunker zahlreiche Kinder- und Jugendromane verfasst und erhielt für ihre Arbeit mehrfach Preise und Stipendien, darunter den Nachwuchsliteraturpreis der Stadt Voerde. Kristina Dunker lebt als freie Autorin in Castrop-Rauxel und bietet regelmäßig Lesungen, Werkstattgespräche und Schreibworkshops für Jugendliche an. Mehr über die Autorin und ihre Bücher gibt es unter www.kristina-dunker.de.
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Freitag, 12Uhr
Der Nachmittag, an dem meine Cousine Ginie verschwand, war heiß.
Zwei Monate hatte es nicht mehr geregnet. Felder, Wiesen, Pferdekoppeln– alles war bräunlich verfärbt und knochentrocken und der Lokalsender des Münsterlands warnte vor Waldbrandgefahr. Seit Tagen hatten wir in der Schule nach der vierten Stunde hitzefrei, aber es freute sich kaum noch jemand darüber, schon um zehn kletterte das Thermometer in tropische Höhen.
Ginie und ihr Vater waren vormittags angekommen, als ich noch in der Schule war. In Berlin hatten sie bereits vor zwei Wochen Sommerferien bekommen, die meisten Bundesländer waren dieses Jahr früher dran als wir und ich fand es ungerecht, immer noch in stickigen Flachbauten sitzen und schwitzen zu müssen.
Auch wäre ich gern dabei gewesen, als meine Eltern unseren Besuch begrüßten und Ginie unser schnuckeliges backsteinrotes Häuschen zeigten. Stattdessen rutschte ich auf meinem klebrigen Plastikdrehstuhl im Biofachraum hin und her und ärgerte mich mit meiner besten Freundin Steffi über meine Mitschülerinnen, die meinten, unseren braun gebrannten Biolehrer kurz vor der Notenvergabe durch hautenge und extrem weit ausgeschnittene Fummel beeindrucken zu können. Yasmin hatte sich sogar in ein lila Paillettenkleid gezwängt, kein Wunder, bei ihr ging es um die Schuljahresversetzung . . .
»Leila macht geiler«, knurrte Steffi wütend. »Warum strenge ich Blöde mich eigentlich an und mache regelmäßig meine Hausaufgaben, wenn andere durch ein bisschen Wimperntusche-Auflegen und Busen-Zeigen auch zum Ziel kommen?«
»Mach dir nichts draus, Steffi. Ich finde, Yasmin sieht aus wie die Wurst in der Pelle. Eine Wurst, deren Verfallsdatum abgelaufen ist, sie ist ja schon ganz lila.«
Steffi stieß mich an und kicherte.
»Wirklich«, sagte ich, »das Kleid passt ihr überhaupt nicht, betont viel zu sehr ihre Speckröllchen. Guck mal, man kann sie richtig zählen, fünf kleine Fleischwurströllchen.«
Steffi fiel fast vom Stuhl vor Lachen. »Zeig da nicht so hin, Annika!«
»Wieso denn nicht?« Ich musste auch lachen und fing mir natürlich einen bösen Blick von Yasmin ein, aber das war mir egal. Wie viele andere Mitschüler auch hielt sie mich wegen meiner guten Noten sowieso für eine Streberin oder zumindest für einen Menschen vom andern Stern. Oft genug hatten Yasmin und die anderen mich das spüren lassen und ich war froh, dass ich wenigstens Steffi in meiner Klasse hatte. Meine Freundin hatte das gleiche Problem wie ich, sie galt auch als »extrem uncool«: schlau, still, ungepierct, ohne älteren Freund mit Auto und zu allem Unglück auch noch Nichtraucherin.
Ich sehnte mich wirklich nach den Ferien und ich freute mich auf meine gleichaltrige Cousine Ginie. Zwar kannte ich Ginie so gut wie gar nicht, aber ich fand die Idee trotzdem toll, dass sie und mein Onkel demnächst zu uns ziehen wollten. Sie sollte den neu ausgebauten Dachboden bekommen, er die kleine Einliegerwohnung im Erdgeschoss, in der mein Opa bis zu seinem Tod im Winter gelebt hatte. Natürlich würde es enger werden in unserem Haus, aber bestimmt auch lustiger.
Zumindest hoffte ich das. Sicher konnte ich mir nicht sein. Was, wenn Ginie mich genau wie Yasmin für eine Streberin hielt? Wenn sie es genau wie Yasmin gewohnt war, von einem älteren Freund mit getuntem Auto und leistungsstarker Stereoanlage von der Schule abgeholt zu werden, während Steffi und ich brav wie zwei Landeier auf unsere Dreigang-Hollandräder stiegen?
Auf der Heimfahrt erzählte ich Steffi von meinen Hoffnungen und Ängsten. Steffi, Jonas und Rüdiger waren der Rahmen in meinem Leben. Unsere Viererfreundschaft war wie ein Glückskleeblatt, selten und wertvoll. Steffi versuchte mich sofort zu beruhigen, indem sie behauptete, meine Cousine müsse, da sie neu an unseren Ort zöge, ja erst mal froh sein, dass sie dort überhaupt jemanden kannte. Das war natürlich richtig, aber trotzdem wurde ich immer aufgeregter, je näher wir unserer Straße kamen, und als Steffi und ich uns vor dem Haus meiner Eltern verabschiedeten, hatte ich richtig Herzklopfen.
»Ach komm, Annika, jetzt tu nicht so verzagt, sie wird dich ganz sicher mögen. Wir mögen dich doch schließlich auch!«, sagte Steffi, lachte und drückte mich kurz. »Vielleicht sehen wir uns später? Ich bin auch neugierig auf die Neue!«
Sie radelte davon, ich ging langsam die Auffahrt zum Haus hinauf. Die Kletterrosen an der Hauswand blühten, die alte getigerte Katze unserer Nachbarn kam, als sie mich sah, aus ihrem Schattenversteck unter einem Busch hervor und schnurrte mir um die Beine. Ich strich ihr kurz über das Fell, atmete tief ein und betrat das Haus.
Meine Mutter hatte heute früh noch schnell einen Generalputz gemacht, ich sah es daran, dass die von ihr gemalten Bilder im Flur ausnahmsweise alle gerade an der Wand hingen. Dort, wo sich sonst ein Haufen von Schuhen knubbelte, stand eine fremde Reisetasche und auf der kleinen Kommode thronte ein großer Blumenstrauß. Der Zettelwust meines Vaters beim Telefon war verschwunden, ebenso die hitzegeschädigten Blumen, die meine Mutter vor einigen Tagen in die kühle Küche verfrachtet hatte und die dort ziemlich viel Platz wegnahmen. Das konnte nur bedeuten, dass auch meine Eltern ein bisschen nervös waren, na wenigstens etwas.
Ginie saß mit ihnen und meinem Onkel auf der Terrasse und trank Sekt. Bei der Hitze!
»Hi«, sagte ich und hob schüchtern den Arm, um zu grüßen. Meinen Onkel Paul hatte ich häufiger mal gesehen, auch Ginies Gesicht war mir noch vertraut, obwohl ich bisher, wenn ich an sie gedacht hatte, immer noch ihre kindlichen Züge vor Augen hatte. Das runde Gesicht, die großen braunen Augen. Als Kinder hatten wir einmal lange miteinander gespielt, wir hatten uns verkleidet und geschminkt. Sie hatte eine Bärin oder ein anderes wildes Tier sein wollen, daran erinnerte ich mich komischerweise und ertappte mich dabei, wie ich auf ihren Wangen nach Spuren des aufgemalten Fells suchte. Jetzt war sie natürlich sechzehn, so wie ich, unsere gemeinsamen Spiele waren eine Ewigkeit her.
»Annika, setz dich doch zu uns!«, sagte mein Vater fröhlich.
»Gleich.« Ich brauchte noch einen Moment.
»Komm her«, forderte mich auch Ginie auf und winkte.
Das war ein gutes Zeichen. Ich beruhigte mich.
»Ich spring nur schnell unter die Dusche und zieh mich um, dann bin ich da!«, rief ich, lief die Treppen hinauf, befreite mich von meinen verschwitzten Klamotten, knüllte sie zusammen, warf sie in eine Ecke meines Zimmers, hüpfte ins Bad und begann unter dem kalten Wasserstrahl laut zu singen.
In diesem Moment war ich erleichtert, glücklich. Ich war davon überzeugt, dass Ginie und ich uns schnell aneinander gewöhnen würden. Wahrscheinlich würden wir uns in ein paar Monaten fragen, ob sie nicht schon immer bei uns gewohnt hätte.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass meine Aufregung bald zurückkehren würde. Und zwar viel stärker als zuvor.
Zunächst aber ließ sich alles gut an. Als ich meine nur notdürftig getrockneten Haare mit Festiger vor dem Spiegel verstrubbelte, kam ich mir schon nicht mehr ganz so landeimäßig vor, und als ich barfuß und in bequemen abgeschnittenen Jeans die Treppen hinuntersprang, klingelte passenderweise das Telefon und Jonas fragte, ob ich am Nachmittag mit der Clique zum Baggersee käme.
»Ja, gerne, und ich frag meine Cousine, ob sie auch mitkommt!« Ich flitzte auf die Terrasse, auf der meine Familie mittlerweile den Grill angezündet und den Tisch gedeckt hatte: Kartoffelsalat, Bauernsalat, Brötchen– mir lief das Wasser im Mund zusammen. Fröhlich und ohne große Einleitung fragte ich Ginie: »Hast du Lust, nach dem Essen mit mir und meinen Freunden zum Baggersee zu fahren?«
Ich dachte, das wäre ein prima Start: frisch, gut gelaunt, locker. Ich dachte, der erste Eindruck, den Ginie von mir haben wird, zählt, und der ist perfekt gelungen. Ich dachte, ich hätte die Idee des Jahrhunderts gehabt.
Wie sollte ich ahnen, was mein Vorschlag auslösen würde?
Meine Mutter riss die Augen auf und warf einen ängstlichen Blick auf meinen Onkel. Der machte ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade verkündet, ich wolle Ginie mit zum S-Bahn-Surfen nehmen. Mein Vater räusperte sich und setzte an, um etwas zu sagen: »Annika, vielleicht kannst du heute mal ausnahmsweise nicht . . .« Ich hörte nicht hin. Was interessierten mich die Erwachsenen? Ginie war wichtig. Und die guckte unentschlossen, aber nicht ablehnend.
»Ich habe doch heute noch keine Schwimmsachen dabei«, sagte sie.
»Kein Problem, du kannst einen Bikini von mir oder meiner Mutter haben! Und Handtücher sowieso!«
»Ja gut, dann . . . von mir aus . . .« Sie zuckte die Achseln.
»Das ist vielleicht doch keine so schlechte Idee von Annika«, sagte mein Vater laut und blickte seinen Schwager fest an. »Ginie kann Leute kennenlernen und wir können uns in Ruhe ein bisschen unterhalten.«
»Mein Gott, müssen sie denn gleich an den Baggersee fahren? Können sie nicht einfach ein Eis essen gehen?« Mein Onkel schien sehr besorgt um seine Ginie zu sein.
Das spornte mich erst recht an. Dass ich ein braves Mädchen war, würde Ginie noch früh genug bemerken. Sollte sie jetzt ruhig erst mal den Eindruck bekommen, ich sei mutig und verwegen genug, in einem See zu baden, in dem es nicht offiziell erlaubt war.
»Och, da, wo wir immer baden, ist es nicht weiter gefährlich«, sagte ich. »Da stehen zwar immer noch die rostigen alten Warnschilder von wegen Kiesabbau, Spülsand, Strömungen, Lebensgefahr und so, aber da wird nicht mehr gearbeitet, da kann heute...