Dunant Das Lied der Novizin
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-0437-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0437-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gegen ihren Willen wird Serafina von ihrer Familie ins Kloster gegeben. Sie ist wütend und terrorisiert den ganzen Konvent. Um die widerspenstige Novizin zu zügeln, übergibt die Äbtissin Serafina sie in die Obhut der Klosterapothekerin. Schwester Zuana kennt Serafinas Seelenpein wie keine andere. Sie ging ebenfalls nicht aus freien Stücken ins Kloster. Inzwischen aber hat sie in der Sorge um die Kranken ihre Bestimmung gefunden. Sie stellt ihre Heilmittel selbst her und kümmert sich liebevoll um die Gebrechen und Leiden ihrer Mitschwestern. Auch Serafinas Seele scheint durch Zuanas Hilfe zu heilen. Oder träumt sie doch noch immer von der Freiheit - und der Liebe ihres Lebens?
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Zwei
»Wie schnell hat sie sich beruhigt?«
»Nach dem Trank recht schnell. Sie schlief tief und fest, als ich ging.«
»Sehr tief, in der Tat. Ich konnte sie weder zur Prim noch zur Terz wecken.« Suora Umilianas Ton ist scharf. »Ich fürchtete bereits, Gott könnte sie in der Nacht zu sich genommen haben.«
»Es war meine Pflicht, sie ruhigzustellen. Meiner Erfahrung nach ist es einfach genug, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden, wenn ein Körper warm ist und atmet.«
»Oh, ich hege keine Zweifel an Euren medizinischen Fähigkeiten, Suora Zuana. Aber ich sorge mich um ihre Seele… und es ist unmöglich, einer jungen Frau, die kaum sitzen, geschweige denn knien kann, den Trost Gottes anzubieten.«
»Schwestern, Schwestern, wir sind alle erschöpft, und es hilft niemandem, aneinander herumzunörgeln. Suora Zuana– ich danke Euch, dass Ihr sie ruhiggestellt habt. Das Kloster braucht nämlich seine Ruhe. Und Suora Umiliana, als Novizenmeisterin habt Ihr, wie immer, alles getan, was von Euch verlangt werden kann. Diese Novizin ist uns als Herausforderung gegeben worden. Und wir müssen für sie tun, was wir können.«
Die beiden Nonnen senken bei den Worten der Äbtissin gehorsam die Köpfe. Es ist früher Nachmittag, und sie befinden sich in ihrem Vorzimmer. Der Raum wird durch ein Holzfeuer beheizt, doch außerhalb seines unmittelbaren Umkreises bleibt die Luft bitterkalt. Die Äbtissin trägt einen Umhang aus Kaninchenfell um die Schultern, und neu punzierte Lederschuhe lugen unter ihrem Habit hervor. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt, sieht jedoch jünger aus. Zuana ist aufgefallen, dass in letzter Zeit ein paar seidige Locken unter ihrem Schleier hervorschauen und ihr Gesicht dadurch weicher wirkt. Während manche vielleicht argwöhnen, es könnte Eitelkeit sein, derart weltlichen Details so viel Aufmerksamkeit zu schenken, so betrachtet Zuana es eher als einen Spiegel dessen, wie anspruchsvoll sie allem gegenüber ist; von der Lackierung der religiösen Gipsfiguren, die das Kloster für den Verkauf herstellt, bis hin zur Seelsorge für ihre Herde. Außerdem passen Gott und Mode besser zusammen, als die Menschen draußen sich vielleicht vorstellen können, und die Schwestern von Santa Caterina saugen die aktuellsten Stilrichtungen mit demselben Appetit in sich auf, mit dem ihre Chorstimmen die aktuellsten Komplexitäten der Vielstimmigkeit erforschen. In dieser Hinsicht sind sie immer noch echte Töchter ihrer modernen, musikalischen Stadt, auch wenn sie in klösterlicher Abgeschiedenheit leben.
»So. Lasst uns über die junge Seele nachdenken, um die es geht. Eure Gedanken zuerst, Suora Zuana. Wie findet Ihr sie?«
»Zornig.«
»Ja, nun, so viel konnten wir alle hören. Was sonst?«
»Verängstigt. Traurig. Empört. Sie hat jede Menge Tatkraft an den Tag gelegt.«
»Allerdings war wenig davon auf unseren Erlöser gerichtet, nehme ich an.«
»Nein. Ich glaube, man kann mit Sicherheit sagen, dass sie sich nicht berufen fühlt.«
»Ah, wie immer diplomatisch mit Worten, Zuana.« Sie lacht, und eine der Locken tanzt vor ihrer Stirn. Es ist nicht überraschend, dass sie sowohl von den Jüngeren als auch den Älteren bewundert wird, denn ihr Stil verbindet Elemente der gütigen älteren Schwester mit denen einer strengen Mutter. »Hatte sie dazu etwas zu sagen?«
»Sie hat mir gesagt, das Gelübde wäre aus ihrem Mund, aber nicht aus ihrem Herzen gekommen.«
»Ich verstehe.« Die Äbtissin schweigt. »Das waren die Worte, die sie benutzt hat?«
»Ja.«
Neben Zuana seufzt Suora Umiliana schwer, als handelte es sich um eine Bürde, die sie bereits auf den Schultern trüge. »Das habe ich bereits während der Zeremonie befürchtet. Sie öffnete den Mund, aber ich konnte kaum ein Wort hören.«
»Nun, falls man sie gezwungen hat, so hat sie nichts davon erkennen lassen, als ich sie zusammen mit ihrem Vater traf. Ist sie geschlagen worden, was meint Ihr, Zuana?«
Zuana fühlt wieder den Körper in ihren Armen, weich und schwer. Es hatte kein Anzeichen von Wunden gegeben, jedenfalls nichts, dessen das Mädchen selbst sich bewusst war. »Ich… ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube nicht.«
»Suora Umiliana. Wie steht es mit Eurem Eindruck?«
Die Novizenmeisterin faltet die Hände, als würde sie um Hilfe bitten, bevor sie spricht. Im Gegensatz zur Äbtissin ist sie eine korpulente Frau, deren Schleier so eng gebunden ist, dass er in ihre Gesichtszüge integriert zu sein scheint und ihr Gesicht zusammenquetscht. Ihre Wangen sind fett, ihr Mund ist klein und verkniffen, und ihre Oberlippe und ihr Kinn sind mit einem dünnen Flaum weißer Haare überzogen. Auch sie muss einmal jung gewesen sein, aber Zuana kann sich nicht erinnern, dass sie irgendwann einmal anders ausgesehen hat. Obwohl sie ihrer Novizenherde ein recht grausamer Hirte ist, gehen nur wenige aus ihrer harten Schule hervor, ohne ein Gespür für die Macht Christi entwickelt zu haben. Die älteren Schwestern, die sich in ihrer Suche nach seelischem Beistand an sie wenden, berichten, dass sie unter der Schale ihres zerknitterten Äußeren eine Seele so weich wie Seide besitzt. Manchmal hat Zuana etwas Ähnliches wie Neid auf die Eindeutigkeit ihrer Überzeugung empfunden, auch wenn es in einer derart engen Gemeinschaft nicht gut ist, darüber zu grübeln, was man nicht hat.
»Ich stimme mit Suora Zuana überein. In ihr tobt ein heftiger Sturm. Als wir sie nach der Zeremonie auskleideten, war ihr Gesicht wie eine schwarze Maske. Ich wäre nicht erstaunt, wenn ihre Erziehung mehr auf Eitelkeiten als auf den Geist ausgerichtet gewesen wäre.«
»Wenn das so ist, wird es eine Überraschung für ihre Familie sein«, sagt die Äbtissin und pariert sanft den angedeuteten Vorwurf in diesem Urteil. »Sie genießen einen exzellenten Ruf in Mailand. Einen der besten.«
»Sie hat bei der Komplet auch nicht gesungen– sie hat nicht einmal den Mund geöffnet.«
»Vielleicht sind ihr die Texte nicht vertraut«, sagt Zuana leise. »Nicht alle Neuankömmlinge kennen sie.«
»Selbst jene ohne Stimme sind in der Lage, die Worte laut zu lesen«, erwidert Umiliana scharf. Diese Spitze könnte sich vielleicht auf Zuana beziehen, vielleicht auch nicht– denn diese war damals völlig ohne musikalisches Gehör und in jeder Hinsicht unwissend im Kloster angekommen, ausgenommen ihre Heilmittel. »Man hat uns gesagt, ihr Gesang wäre wunderbar. Suora Benedicta war außer sich in der Erwartung ihrer Ankunft.«
»Das war sie in der Tat.« Die Äbtissin lächelt. »Obwohl ihr ein derartiger… übersteigerter Zustand nicht fremd ist, Ehre sei Gott. Und das Wohlergehen des Klosters ist ihr lieb und teuer. Die Hochzeit der Schwester des Herzogs bringt bereits adelige Besucher in unsere Kirche, und es wäre eine feine Sache, wenn dieser neue junge Singvogel seine Stimme rechtzeitig zum Fest der Agnes und zum Karneval wiederfindet. Wovon ich überzeugt bin.« Ihre Stimme ist jetzt bewusst beschwichtigend, weil die Novizenmeisterin offenbar aufgebracht ist. »Wir haben schon häufiger sehr unruhige Seelen in den Griff bekommen. Es ist kaum zwei Sommer her, seit die junge Carità ihre ersten Wochen in Tränen aufgelöst verbrachte. Und seht sie euch jetzt an: Sie ist die eifrigste Näherin im Kloster.«
Umiliana runzelt die Stirn, und ihr Gesicht wird noch verkniffener. In ihren Augen bringen Adelshochzeiten nur Ablenkung, und bei Suora Caritàs Berufung zu Stickarbeiten geht es ebenso sehr um Mode wie um den Trost des Betens. Es ist jedoch nicht die richtige Zeit, derartige Dinge zur Sprache zu bringen.
»Madonna Äbtissin? Wenn ich etwas vorschlagen dürfte…?« Und sie blickt zu Boden und lässt durchblicken, dass sie fortfahren wird, selbst wenn die Äbtissin es für angebracht halten sollte, sie zu unterbrechen. »Ich würde sie gerne für eine Weile von den übrigen Novizinnen trennen. Auf diese Weise hätte sie Zeit, über ihre Rebellion nachzudenken, und ihre Uneinsichtigkeit kann andere nicht anstecken.«
»Danke für diese Überlegung, Suora Umiliana.« Das Lächeln der Äbtissin folgt prompt und aufrichtig. »Ich bin jedoch zuversichtlich, dass unter Eurer Tutorenschaft nichts Derartiges passieren wird. Und eine Isolierung in diesem Stadium könnte sie möglicherweise eher aufregen als beruhigen.« Sie legt eine Pause ein. Zuana senkt den Blick. Sie hat ihn schon öfter erlebt, diesen stillen Autoritätskampf zwischen den beiden Frauen. »In der Tat denke ich, wir sollten auf jeden weiteren Unterricht verzichten, bis sie sich von den Nachwirkungen von Suora Zuanas Trank erholt hat.«
Zuana spürt, wie Umiliana erstarrt, obwohl ihr Gesichtsausdruck ungerührt bleibt. Innerhalb des Regelwerks der Benediktiner ist unverzüglicher Gehorsam wichtiger Bestandteil von Demut. »Wie Ihr wünscht, Madonna Chiara.«
»Ich denke, in diesem Stadium sollte nichts von dem, was letzte Nacht geschehen ist, diese vier Wände verlassen. Nach den letzten Zusammenkünften des Konzils von Trient mit den zahlreichen Weisungen und Vorschriften hat unser lieber Bischof wesentlich wichtigere Dinge zu tun, als sich um eine aufsässige Novizin zu kümmern. Vielleicht könntet Ihr das allen Novizinnen klarmachen, die Familienbesuche erwarten, Suora Umiliana.«
Die Novizenmeisterin neigt den Kopf und zögert dann, während sie auf ein Zeichen von Zuana wartet, woraufhin die beiden Nonnen den Raum gemeinsam verlassen werden.
»Oh– und Suora Zuana, würdet Ihr noch einen Moment bleiben? Ich muss mit Euch noch über Belange der Apotheke sprechen.«
Zuana hält den Blick...




