Düffel Zeit des Verschwindens
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8810-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 205 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8810-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
JOHN VON DÜFFEL wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a. >Vom Wasser< (1998), >Houwelandt< (2004), >Wassererzählungen< (2014), >Klassenbuch< (2017), >Der brennende See< (2020), >Wasser und andere Welten< (Neuausgabe 2021), >Die Wütenden und die Schuldigen< (2021) und zuletzt
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Christina.
Ich habe einfach nachgegeben, als Hendrik sagte, du mußt endlich mal wieder raus hier und unter Leute gehen. Es hat mir gefallen, daß er plötzlich so entschieden war. Es hörte sich an, als würde er mich notfalls zu einem Paket verschnüren und auf den Beifahrersitz verfrachten, um mit mir hinauszufahren an die frische Luft. Doch ich kam freiwillig mit, soweit von Willen überhaupt die Rede sein kann. Richtiger ist, ich leistete keinen Widerstand. ›Unter Leute gehen‹ – ich weiß gar nicht, wie ich das Lena erklären soll.
Es ist ein wolkenloser Tag, Mitte März, einer von den Tagen, wie ich sie früher so sehr mochte: ganz weißes Licht und ein Flimmern in der Luft vor lauter Helligkeit. Im Wechsel mit Häuserschatten Sonne im Seitenfenster, das kurze Aufblitzen ihrer Kraft. Die Luft im Wageninnern erwärmt sich schnell. Hendrik zieht beim Fahren sein Jackett aus, abwechselnd eine Hand am Lenker, wirft es hinter sich auf die Rückbank. Dann schaut er zu mir herüber. Ich sitze in meinem Steppmantel da, den Kragen bis zum Kinn, sogar meinen Schal habe ich noch um. Ich weiß, mir sollte viel zu warm sein. Mir ist auch warm, aber angenehm, selbst wenn es so aussieht, als hätte ich mich in der Jahreszeit geirrt. Ich habe nicht das Gefühl zu schwitzen – tauen eher. Ich sauge die Sonne in mich auf. Mir wird auf einmal bewußt, wie sehr ich gefroren habe bis eben. Er hat recht, es wird langsam Zeit. Lenas Unfall ist bald auf den Tag genau ein halbes Jahr her.
Um allen Bemerkungen über meine Kleidung zuvorzukommen, kurbele ich das Fenster herunter und fasse mit der Hand in den Fahrtwind. Kühler Widerstand, das Licht auf meiner blassen Haut. Ich forme mit den Fingern einen Kelch und fange die Hitze- und Kältewirbel ein, die an mir vorbeiflattern. Frische Luft schöpfen, heißt es nicht so.
Hendrik nimmt eine Auffahrt, wir kommen auf die Autobahn. Die Sonne schlägt jetzt frontal auf die Windschutzscheibe, eine Helligkeit wie von reflektierendem Schnee, weißgrau auf den Betonstreifen und Brücken. Hendrik klappt die Blende herunter. Ich mag nicht. Ich mag mich nicht in dem kleinen Spiegel sehen, der darin eingearbeitet ist, schließe die Augen und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich hoffe, meine Haut ist so hell, daß niemand mich anschauen kann, ohne geblendet zu werden. Hinter meinen Lidern treiben flüssige Flecken von Sehpurpur. Ich wünsche mir Unsichtbarkeit.
Er will unbedingt an den Rhein fahren, für Hendrik muß es der Rhein sein, besonders um diese Jahreszeit. Er schwärmt von einem Biergarten, der neu eröffnet wurde oder den Besitzer gewechselt hat, ich höre nicht so genau hin. Seine Stimme vermischt sich mit dem Motorengeräusch, ein beruhigendes Brummen, Schnurren fast. Mit geschlossenen Augen krame ich eine alte Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und setze sie auf. Die Gläser sind verschmiert und völlig zerkratzt, aber das macht nichts. Es geht mir nicht darum, hindurch zu sehen, ich will nur dahinter verschwinden. Wir sind da.
Hendrik springt aus dem Wagen, rennt um die Kühlerhaube herum und öffnet mir die Tür. Es ist reizend, wie er sich Mühe gibt, nur um mich dafür zu belohnen, daß ich mitgekommen bin. Doch ich bin einfach zu müde, um seine Freundlichkeit zu erwidern oder abzuwehren. Er legt den Arm um mich und schiebt mich behutsam durch die Eingangstür des Lokals.
Drinnen ist es dunkel. Menschenleer. Die schwarzlakkierten Tische und Stühle stehen ordentlich zusammengerückt da. Die Symmetrie der Aschenbecher, Salzstreuer und Speisekartenständer auf den Tischplatten, sorgfältig verteilt in dem großflächigen Raum, der dumpf und drükkend wirkt mit seiner niedrigen Decke und der dunklen Täfelung an den Wänden. In den Fenstern am anderen Ende fahles Licht. Es ist, als würde man den Sonnentag draußen wie durch ein umgekehrtes Fernglas betrachten, er erscheint auf einmal ganz weit weg.
Hinter dem weitläufigen Tresen zapft ein einzelner Mann mit einem staubigen Gesicht Bier ohne Unterlaß. Er nimmt von uns keine Notiz. Ein Innenmensch. Es gibt ihn nur bei künstlicher Beleuchtung. Ein Kellner kommt von draußen, lädt ein Tablett mit leeren Gläsern ab, nimmt einen Zug von seiner heruntergebrannten Zigarette, die in einem Aschenbecher vor sich hin qualmt, und eilt mit einer Ladung voller Gläser wieder hinaus. Durch die Tür fallen Sonnenbalken in Schwaden von Rauch. Wir folgen dem Kellner und treten ins Freie.
Die Terrasse ist vollbesetzt. Menschen auf Bänken, dicht an dicht, Gläser und Gespräche. Es ist laut und heiß, beinahe stickig hier draußen, durch Windfänge aus Plastikplanen zu beiden Seiten geschützt. Die Sonne steht hoch über den Köpfen. Ich habe es immer gehaßt, mich an allen möglichen Tischen vorbei durch Cafés zu schlängeln, die Blicke der Leute, ich hasse es mehr als je zuvor. Ich sehe fast gar nichts durch meine Sonnenbrille bei diesem Lichteinfall, nur Schlieren, Fingerabdrücke und Staub, aber ich spüre, wie mir alles viel zu weit ist, mein Mantel, mein Pullover, die Hosenbeine. Dieses Gefühl, meine Kleidung nicht mehr auszufüllen. Noch vor einem halben Jahr wäre ich stolz darauf gewesen, dermaßen abgemagert zu sein. Ich hätte vor Lena damit angegeben und dann groß für sie gekocht. Jetzt fühle ich mich nur noch verloren. Ich lasse mich von Hendrik führen wie eine Blinde.
Eine Treppe weiter unten liegt der eigentliche Biergarten. In die Erde getretener Rasen, keinerlei Pflanzen weit und breit, bis auf ein paar schmächtige Bäumchen am Rande. Statt dessen eine Vielzahl von Tischen und Bänken, eingefaßt von einer soliden Mauerbrüstung, die unmittelbar ans Rheinufer grenzt. Hier ist es frischer. Vom Fluß her weht Wind und der weiche Geruch des Wassers. Wir setzen uns an einen Biertisch etwas weiter abseits, der für ein Pärchen viel zu lang und zu breit ist. Doch vielleicht erscheint mir auch heute einfach alles zu groß. Hendrik klettert auf die Bank mir gegenüber. Ich habe das unangenehme Gefühl, er könnte schon wieder besorgt sein, meinetwegen. Er beugt sich zu mir herüber, aber er lächelt.
Die Bedienung kommt, um die Bestellung aufzunehmen. Ich war mir ganz sicher, sie findet uns nie, viel zu abgelegen unser Tisch. Jetzt ist sie da, und ich habe mir nichts überlegt. Ich frage nach der Karte, auch die hat sie dabei. Hendrik bestellt einen Wein, ich schließe mich ihm an, will aber dann doch lieber eine heiße Schokolade und blinzele die Kellnerin über den Brillenrand an. Sie hat das gleiche Gesicht. Ich erschrecke über ihre Müdigkeit. Es kostet sie eine ungeheure Anstrengung, hier zu stehen und unsere Wünsche zu notieren, aber das weiß nur ich. Im selben Augenblick die Angst, daß sie mich erkennt. Sie dreht sich um und geht.
Hendrik ist ganz woanders. Man kann sich auf ihn verlassen. Seine Hände, die er über den Tisch nach mir ausgestreckt hatte, liegen jetzt auf halbem Wege flach übereinander. Dunkle Behaarung bis zu den Knöcheln und deutliche Adern wie blaue Röhren unter der Haut. Er schaut auf den Fluß, der im Licht schwimmt. Er hat recht. Es ist wirklich schön hier am Rand des Gartens, in Mauernähe. Hätte ich ihm besser zugehört, könnte ich es ihm jetzt bestätigen. Er hat sich diesen Platz für mich ausgedacht, für uns, hat sich vorgestellt, wie es wäre, hier mit mir zu sein. Ich streiche mit den Fingerspitzen über seine ruhenden Hände, die Mittelader rollt ein Stück zur Seite und springt wieder zurück in ihre ursprüngliche Position auf dem Handrücken. Ich habe mir lange keine Gedanken mehr gemacht, wie es ihm eigentlich geht. Er hat sich nie beklagt.
Seine Hand entwischt mir, zeigt auf eine unterbrochene, unstete Linie aus Windbruch, strohigem Schilf und angespültem Plastikmüll. Der Pegelstand des letzten Hochwassers, erklärt Hendrik mit einer gewissen Bewunderung in der Stimme. Ich wußte nicht, daß es überhaupt eines gegeben hatte, frage aber nicht weiter nach. In den Sträuchern am Ufer finden sich kleine Nester, geflochten aus Gräsern und Schilf. Ich hatte mir vorgestellt, daß Vögel dort nisten, aber es war wohl die Strömung.
Die Bedienung ist zurück, auf einmal steht sie wieder da – ich bin ganz verlegen, weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Sie ist wirklich sehr schnell. Hendrik nimmt seinen Wein entgegen, das erspart ihr einen Gang um diesen unsinnig langen Tisch herum. Als sie mir die Schokolade über die Schulter reicht, spüre ich ihre Erschöpfung im Nacken. Sie möchte gleich abkassieren, Schichtwechsel, sagt sie leise wie zu sich selbst. Ich sinke ein vor Erleichterung. Hendrik zahlt für uns beide. Wenn es nach mir ginge, wäre das Trinkgeld sicher zu hoch ausgefallen. Ich hoffe, ich sehe sie nie wieder. Sie erinnert mich.
›Wenn Geschwister ihre Eltern verlieren, heißen sie Waisen. Wenn sie einander verlieren, gibt es dafür kein Wort.‹ Ich werde dir nie verzeihen, daß du mir das geschrieben hast und ich dir darauf nicht mehr antworten kann.
Meine Schokolade kühlt schnell ab hier draußen. Ich muß mich mit dem Trinken beeilen, um das Gefühl zu haben, etwas von ihrer Wärme in mich aufzunehmen. Hendrik prostet mir zu, nachdem ich schon zur Hälfte ausgetrunken habe. Ich möchte nicht gierig erscheinen, aber ich mag wirklich nichts Kaltes zu mir nehmen und halte den Becher mit beiden Händen umfaßt wie etwas sehr Kostbares. Ich kann Hendriks Augen hinter der Sonnenbrille nicht sehen. Um so stärker das Gefühl, daß er mich beobachtet. Ich lächle sicherheitshalber und wische mir imaginäre Kakaoränder von der Oberlippe – auf meiner Papierserviette nur Reste von Lippenstift. Mir ist, als hätte ich eine Frage, die ich ihm unbedingt stellen muß. Doch als ich wieder hochschaue, blickt mich...




