E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Düffel Vom Wasser
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8796-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8796-5
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
JOHN VON DÜFFEL wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitete als Dramaturg u. a. am Thalia Theater Hamburg sowie am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u. a. >Vom Wasser< (1998), >Houwelandt< (2004), >Wassererzählungen< (2014), >Klassenbuch< (2017), >Der brennende See< (2020), >Wasser und andere Welten< (Neuausgabe 2021), >Die Wütende
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Der Geruch des Wassers
Man kann es riechen. Im allgemeinen gilt Wasser als geruchlos. Aber man kann es riechen. Ich kann mich an den Geruch verschiedener Flüsse und Meere erinnern. Und auch wenn es nicht das Wasser selbst ist, das so riecht, sondern nur die Verbindung von Wasser mit etwas anderem, so ist doch das Schöne an diesen Gerüchen, an die ich mich erinnere, daß es Gerüche des Wassers sind. Ich erinnere mich, wie es nach fließendem, strömendem, lebendigem Wasser riecht. Genauso wie es umgekehrt totes Wasser ist, das stinkt.
Es gibt eine besondere Verbindung von Wasser und Geruch. Wenn nach einer langen Zeit der Trockenheit zum ersten Mal wieder Regen fällt und wir hinaus auf die Straße treten, dann wirkt die Luft nicht nur frischer und wie gereinigt. Sie ist voll von Gerüchen. Der auf dem Asphalt verdampfende Regen, die getränkte Erde, das Gras, das Laub, alles fängt nach diesem Wasserguß wieder an zu riechen. Und ein großer Teil der Klarheit und der Frische, die wir nach einem solchen Guß empfinden, rührt daher, daß uns das Wasser die Dimension des Geruchs zurückgegeben hat. Wir nehmen alles stärker, kräftiger, schärfer wahr, nicht nur weil die Farben satter, die Kontraste nicht mehr so blaß sind, sondern auch, weil wir die Dinge wieder riechen. Das Wasser hat uns von unserer Geruchsblindheit befreit. Und wir nehmen die Welt wieder mit allen fünf Sinnen wahr.
Und ich rieche das Wasser selbst: grünes, wildes Wasser, das in einem breiten Strom wirbelnd dahinfließt. Noch bevor ich mich setze und schaue, noch bevor ich das Wasser gesehen habe, rieche ich diese kühle Frische, diesen Atem des Wassers in der frühlingshaften Luft, rieche, wie das Aufschwappen der Wellen an den Rändern des Flußbettes die Steine dazu bringt, ihren gewölbe-ähnlichen Geruch auszuströmen, benetzt von Wasser, beschienen von einer blassen Frühjahrssonne. Und dann sehe ich, wie das Wasser mit leichtem Wellenschlag den Steinen in alle Poren kriecht und ihnen ihre volle Färbung wiedergibt und ihren eigenen Geruch, den Atem des Wassers und der Steine. Und ich setze mich ans Ufer und schaue aufs Wasser, das frühjahrsgrün dahinfließt, mit unzähligen knospenartigen kleinen Strudeln, die ineinander spielen, aufquellen und sich trollen, im März, kurz vor Basel, am Rhein.
Und ich muß daran denken, was sie mir erzählte von dem Mann – einem Maler –, den sie verlassen hatte, meinetwegen, wie sie sagte, damals, in einer ganz anderen Stadt, an völlig anderen Flüssen. Er war mir mit diesem Satz – von dem ich nur hörte, daß er ihn gesagt haben soll – nähergerückt, nähergekommen, als sie es jemals sein sollte. Ich wußte, ich würde eines Tages ans Wasser zurückkehren. Und ich wußte, durch die Art, wie sie es mir erzählte, belustigt und ein wenig boshaft, daß sie nicht dabeisein würde.
Der Geruch des Wassers. Die Häuser meiner Kindheit waren erfüllt von dem Geruch des Wassers, von ganz unterschiedlichen Wassern, Flüssen, Seen, Meeren. Ich erinnere mich an die beinahe nebelhafte Kühle und den Moosgeruch der Orpe, dieses Flusses, der unmittelbar an unsern Garten grenzte und der uns Kinder bereits anatmete, wenn wir noch halb verschlafen im Sommer auf der Frühstücksterrasse saßen. Er hauchte uns so etwas wie süße Grabesluft zu, und so sehr uns auch die Mütter und Großmütter warnten, wir wußten, daß dieser Tag wieder dem Fluß gehören würde. Der schwarzen Orpe, die seltsam lichtlos und dunkel zwischen moosigen und verwitterten Steinen dahinfloß.
Zwischen zwei Flüssen, zwischen Orpe und Diemel, hatte ein geschäftstüchtiger Ururgroßvater von mir ein Landgut erworben, das sich »Die Mißgunst« nannte. Er störte sich damals an diesem Namen nicht. Er sah nur die Kraft und den Nutzen des Wassers, des vielen Wassers, das dieses Land umfloß. Dieses Wasser, sah er, war Geld. Und er errichtete auf der Mißgunst eine Papierfabrik, betrieben, gespeist und gereinigt vom Wasser. Es war das schwarze Wasser der Orpe, das in diese Fabrik hineinfloß und dort seinen unterirdischen Lauf nahm, hier und da aufschäumte in Kesseln, in Wehren gestaut und gestürzt wurde und dann in Tunnelsystemen wieder verschwand, als Wasserdampf aufschrie und schließlich still, schwarz und unergründlich unter einer bemoosten, verwitterten Brücke davonfloß, mit einem leicht süßlichen Geruch, der in meiner Erinnerung ein Grabesgeruch ist, aber sicherlich herrührte von der Stärke und dem Leim, mit dem in der Fabrik Papier gefertigt wurde.
Für uns Kinder, oder vielleicht auch nur für mich, war unbegreiflich, wie aus diesem schwarzen Wasser weißes Papier werden konnte. Papier, das überall in unserm Haushalt vorkam. Papier, auf dem Einkaufszettel geschrieben wurden, leuchtend weißes Papier, auf dem wir malten, und wenn wir ein Buch aufschlugen, um es vorgelesen zu bekommen, dann war es dasselbe weiße Papier, das uns anschaute, weiß und vielleicht sogar weißer denn je, um die schwarzen Buchstaben darauf so deutlich wie möglich zum Erscheinen zu bringen. Und dieses weiße Papier war aus schwarzem Wasser gemacht. Ich verstand es nicht. Aber mein Ururgroßvater hatte es verstanden. Und er hatte die Ströme des schwarzen Wassers in Papier und das Papier in Geld verwandelt.
Die großen Sandsteinquader der Terrasse waren selbst im Sommer nicht warm. Es war ein finsterer Sandstein, ohne die sonst so charakteristische Helligkeit. Die Grundfarbe dieses Sandsteins muß ein lehmiges, glanzloses Grau gewesen sein. Aber unter dem Einfluß der Witterung färbte der Stein sich schwarz wie Rauch oder Ruß und nahm keine Wärme mehr an. Er verschloß sich. Er verschloß seine Poren und hütete sein kühles Herz, während seine Außenhaut immer finsterer wurde und sich graugrüne Moosflechten auf ihr ausbreiteten. Er stellte sich tot. Und diese Todeskühle spürten wir unter unsern nackten Kinderfüßen auf der Frühstücksterrasse im Sommer, mit Blick auf den Garten, den Brunnen, den Fluß. Und unsere Füße vollführten kleine unruhige Choreographien unter dem Tisch, denn allzu lange konnte man den Fuß nicht aufsetzen auf diesem eisigen Stein, dessen Kälte wir mit unsern unruhigen Meinen Füßen einfach wegtanzten, um dann vom Tisch aufzuspringen und hinunter zum Garten zu laufen, zum Brunnen und weiter zum Fluß.
Auf der anderen Seite der Mißgunst floß die Diemel. Sie floß, vor unsern Kinderaugen verborgen, hinter Papierschnitzelballen und Arbeiterbaracken und einem vielleicht meterhohen Deich. Aber die Diemel war dennoch da. Sie war der geräuschvollere Fluß. Während die schwarze Orpe still und lautlos wie ein unbelichteter Film vor unsern Augen die hohlwegartigen Ufer entlangglitt, war die Diemel durch ihre Geräusche da. Sie war ein ständiges Plätschern, Sprudeln und Rauschen, von der heiteren Unruhe eines Wasserspiels. Silbrig und hell floß sie, in Terrassen gestuft, wie auf Treppen herab. Alle zwanzig, dreißig Meter waren kleine Steinwälle aufgehäuft, Hürden, die das Wasser plätschernd nahm und die den Fluß in eine Reihe von Becken unterteilten. Es war ein freigelegtes, offenes, sehr geordnetes Fließen, beinahe ein Schrebergarten aus Wasser, aus dem jedoch die Lebendigkeit des Wassers tönte, gluckste, plätscherte und sich mit dem Rauschen der hohen Pappeln verband, die am Ufer standen, ebenfalls in strenger Ordnung, gepflanzt in Reih und Glied, wo sie mit ihren silbrig grünen Blättern im Wind raschelten. Und ich erinnere mich an den Geruch der Diemel, der herüberwehte an Tagen, an denen der Wind seine Richtung wechselte und wir nicht im Garten, wie erlaubt, sondern verbotenermaßen in den Papierballen spielten oder auf den Uferweiden am Diemeldeich. Dieser Geruch war silbriges Wasser und Pappellaub, ein kühler und doch seltsam tauber Geruch, der einen Nachgeschmack hinterließ auf der Zunge, einen stumpfen Nachgeschmack, der im Widerspruch stand zur Frische von Wind und Wasser.
Die Diemel war, mit einem Wort, geheuer. Ein gezähmter, domestizierter Flußlauf. Und die einzelnen Diemelbecken waren wie kleine Seen, hatten Anfang und Ende, boten eine gewisse Sicherheit, waren nicht dieses beunruhigende Fließen und Fluten, Treiben und Immer-weiter-Treiben, der Sog und die Unwiderruflichkeit eines wild dahinströmenden Flusses, in dem, wer hineinfiel, verloren war. Wir Kinder spielten an der Diemel, in der Diemel, im Sommer, wenn sich das aufgestaute Wasser in der Sonne erwärmte und immer wieder durchmischt wurde von dem kühlenden Fluß, der die Wasserschichten verwirrte, warmes, stehendes Wasser an die Oberfläche quellen ließ und kühles, frisches Wasser untermischte. Es war ein Fluß ohne Untiefen und Gefahr, der immer wieder Halt bot, ein Fluß, dessen Grund man immer sehen konnte und der so silbergrau vor sich hinrauschte und raschelte wie die Pappelreihen an seinem Ufer.
Es ist wahr, daß die Farbe des Himmels, die Helligkeit und der Schein des Lichts dem Wasser sein Gesicht geben, genauso wie sich durch den Zug einer Wolke das Gesicht des Wassers völlig verändern kann, helles, freundliches Wasser plötzlich ergraut, versteinert oder umgekehrt dunkles, drohendes Wasser durch die Berührung eines Sonnenstrahls unvermittelt auflacht, glitzert und glänzt. Und dennoch flossen Orpe und Diemel unter ein und demselben Himmel dahin, zwei Flüsse mit entgegengesetzten Gesichtern, zwei Flüsse mit entgegengesetzten Gerüchen, keine dreihundert Meter voneinander entfernt und zwischen ihnen die Mißgunst und die Sommer unserer Kindheit.
Unmöglich zu sagen, wie oft ich an diese Flüsse gedacht, wie oft ich von ihnen geträumt habe, wie viele Nächte es mich hingezogen hat zu ihnen, wenn ich durch schlafende Städte zog, trockene, flußlose Städte, auf der Suche nach dem Wasser, auf der Suche nach der Bewegung des Wassers, und oft bis in die...




