E-Book, Deutsch, 167 Seiten
Düblin Analog
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7296-2284-5
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 167 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2284-5
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bin ich, wenn ich denke?
Ein allumfassendes Kommunikationsgerät beherrscht seine Nutzer bis in die kleinste Facette ihres Alltags hinein. Doch zu welchem Preis lassen wir unser Leben von Maschinen bestimmen?
Bernard, Marketingverantwortlicher einer aufstrebenden Zürcher Softwarefirma, wird kurzfristig von seinem Chef auf eine transatlantische Geschäftsreise in die USA geschickt. Trotz des häufigen Unterwegsseins ist sein Leben eintönig – wäre da nicht Nelly, seine grosse Liebe. Er hat sie zwar im echten Leben noch nie gesehen, doch die Chats mit ihr geben ihm Halt und erwecken in ihm die Hoffnung auf eine glückliche gemeinsame Zukunft. Doch dann kommt auf seiner Reise alles anders als geplant, und sein Leben, sonst so geradlinig und unspektakulär, nimmt irgendwo zwischen Chicago und dem Mittleren Westen eine unerwartete Wendung.
Konsequent denkt Michael Düblin unsere von Smartphones, Fitness-Trackern und lernfähigen Algorithmen geprägte Gegenwart nur ein kleines Stück weiter – und landet in der Dystopie.
Zielgruppe
Bin ich, wenn ich denke? Ein allumfassendes Kommunikationsgerät beherrscht seine Nutzer bis in die kleinste Facette ihres Alltags hinein. Doch zu welchem Preis lassen wir unser Leben von Maschinen bestimmen? Bernd, Marketingverantwortlicher einer aufstrebenden Zürcher Softwarefirma, wird kurzfristig von seinem Chef auf eine transatlantische Geschäftsreise in die USA geschickt. Trotz des häufigen Unterwegsseins ist sein Leben eintönig – wäre da nicht Nelly, seine grosse Liebe. Er hat sie zwar im echten Leben noch nie gesehen, doch die Chats mit ihr geben ihm Halt und erwecken in ihm die Hoffnung auf eine glückliche gemeinsame Zukunft. Doch dann kommt auf seiner Reise alles anders als geplant, und sein Leben, sonst so geradlinig und unspektakulär, nimmt irgendwo zwischen Chicago und dem Mittleren Westen eine unerwartete Wendung. Konsequent denkt Michael Düblin unsere von Smartphones, Fitness-Trackern und lernfähigen Algorithmen geprägte Gegenwart nur ein kleines Stück weiter – und landet in der Dystopie.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Tag 2: Zürich, Check-in Letzte Nacht träumte ich von Nelly. Wir waren in einer U-Bahn in Tokio, die Menschen wie Pressschinken, unsere Körper wurden aneinandergedrückt. Von ihr ging ein Vanilleduft aus, sehr leise und süß. Meine Nasenflügel weiteten sich, um alle Nuancen einzufangen. Es war nicht nur Vanille, sondern ein Parfüm, ein Anflug von Veilchen vielleicht? Als ob ich wüsste, wie Veilchen riechen. Aber im Traum kann man ja alles. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber eines kann ich nicht: einen Moment festhalten, ein Gefühl, das man auf keinen Fall gehen lassen will. Denn genau dann flieht es aus dem Traum, als ob jemand hinter ihm her wäre. Frühstück im Hotel. Ich stopfe mich mit Brötchen voll, als ob es meine letzten wären. Wenn ihr schon mal in den USA gewesen seid, muss ich euch das nicht erklären. Die Frau in Schwarzrot, die heute ein weißes Kleid trägt, steht am Buffet und schenkt sich Kaffee ein. Ich lächle sie an, aber das kann sie nicht sehen, weil sie von mir abgewandt ist. Ihr schwarzes Haar fällt ihr über den Rücken. Der Elbot säuselt: «Wie Kohlestaub, der sich im Schnee ausbreitet.» Dann setzt sie sich an den Nebentisch, ohne mich zu beachten, und isst Toast. Es wird Zeit, euch von gestern Abend zu erzählen. Ich saß an der Hotelbar und starrte auf die schimmernden Flaschen im Regal hinter dem Tresen, als mir die Barkeeperin ein neues Bier hinstellte. «Verrückt, dieser Schnee, nicht?» Ich nickte. Ihr Freund arbeite beim Räumungsdienst der Stadt und müsse die ganze Nacht Straßen freischaufeln, fuhr sie fort. Es war nicht viel los in der Bar, also hatte sie Zeit zum Plaudern. Ist es meist nicht umgekehrt, schütten die Gäste nicht den Barkeepern ihre Herzen aus, weil das einfacher ist, als mit ihren Partnern zu reden? Ich will damit nicht sagen, ich hätte nur geschwiegen, im Gegenteil, später am Abend habe ich sie zugetextet, das glaubt ihr nicht. Denn das Zutexten ist nicht so mein Ding. Außer, wenn es um Nelly geht. Und genau um sie ging es. Aber stopp, zuerst drehe ich eine Stunde zurück, alles schön der Reihe nach. Ich war eben erst gekommen und hatte mir am Tresen gerade ein Bier bestellt, als die Frau in Schwarzrot die drei Stufen zur Hotelbar hinabstieg. Ich glaubte für einen Augenblick tatsächlich, sie würde schweben. Jetzt trug sie ein knielanges, rotes Chiffonkleid mit schwarzer Schleife. Sie setzte sich in einen der dunklen Kunstledersessel, der farblich auf sie abgestimmt zu sein schien. Ich wollte mich zu ihr setzen, Nelly hin oder her, aber ich fand keinen Mut. Hättet ihr sie angesprochen? Wenn ja, dann freue ich mich für euch. Ich tat rein gar nichts, blieb auf meinen Barhocker sitzen, ein Bier vor mir, ein Goldsprint, und obwohl ich die Turbinenbräu-Getränke eigentlich mag, schmeckte es schal. Ich nippte geknickt an der Seifenlauge, als mir die Barkeeperin ein Glas Scotch hinstellte. «Der Drink geht auf die Dame dort drüben. Du gefällst ihr wohl», sagte sie mit einem Augenzwinkern. Natürlich verstand ich nichts, wie immer, das ist mein Problem, ich bin zu langsam. Immer verpasse ich diese Sekunde, in der das Schicksal besiegelt wird und Beziehungen entstehen. Denn als ich mich umdrehte, war die Frau in Schwarzrot verschwunden. «Willst du ihr nicht folgen?», sagte die Barkeeperin, die sich später als Rose vorstellen sollte. Ich folgte der Frau in Schwarzrot nicht. Ich bin nicht der, der Frauen verfolgt, nur weil sie ihm einen Drink spendieren. Was ihr vielleicht nicht ganz verstehen könnt, die Männer unter euch raufen sich jetzt die Haare, verpasste Gelegenheit, die Frauen seufzen, was für ein Weichei. Sogar die Barkeeperin zuckte nur mit den Schultern. Ich fühlte mich nicht gerade wie Prinz Eisenherz. Ich fragte mich, warum ich all diese Comics gelesen hatte, wenn doch nichts auf mich abfärbte. Also nahm ich mein Elcomm vom Tresen und prüfte den leicht fluoreszierenden Bildschirm. Keine Nachricht, seltsamer Status. In Kalifornien war es doch jetzt heller Tag und Sam hatte sich noch nie gescheut, mir unabhängig von der aktuellen Zeitzone tausende Anweisungen zu übermitteln. Ich genoss die Ruhe und widerstand dem Impuls, Nelly eine Nachricht zu senden. Und doch musste ich etwas tun, und sei es auch nur, der Barkeeperin auf ihre Frage zu antworten. «Warum sollte ich? Ich kenne die Frau doch gar nicht.» Im nächsten Moment wurde mir klar, wie lächerlich das war. Eine Frau in einer Hotelbar nachts um halb eins nicht zu kennen, darf kein Grund sein, sie nicht zu beachten, wenn sie dir einen Drink ausgibt. Okay, sagt nichts, ich rede um den heißen Brei herum. Denn es war etwas anderes, das mich in dieser Nacht so aus der Fassung brachte. Es war, und das könnt ihr mir glauben, die Tatsache, dass die Barkeeperin Nelly kannte. Und natürlich die Faust in meinem Gesicht. Es war kurz nachdem die Frau in Schwarzrot die Bar verließ. Da die Barkeeperin schwieg, beugte ich mich über mein Elcomm und zu begann zu tippen. «Mit wem kommunizieren Sie?», fragte sie mich. Ich überlegte, was ich entgegnen könnte, um sie von weiteren Fragen abzuhalten. «Ich schreibe meiner Freundin, Nelly.» «Eine Nelly kenne ich auch», sagte die Barkeeperin, «ich bin Rose.» Sie reichte mir die Hand und lächelte mich an. Mittlerweile bereute ich es, der Frau in Schwarzrot nicht gefolgt zu sein. Sie hätte allerdings, unter uns gesagt, etwas mehr Geduld aufbringen können. Also Rose. Der Name gefiel mir. Kennt ihr den Doctor und seine Begleiterin? Rose Tylor? Ich habe in meinen Teenagerjahren, und wohl auch später noch, für sie geschwärmt. Die Rose hinter dem Tresen war allerdings nicht blond, sondern braunhaarig. Sie hatte dunkelbraunes, langes, leicht gewelltes Haar, war also wirklich gar nicht mit Rose Tylor vergleichbar. «Woher kennst du Nelly?», fragte ich Rose in der irrationalen Überzeugung, dass wir von der gleichen Person sprachen, was sehr unwahrscheinlich, aber natürlich nicht unmöglich war. «Weil wir Freundinnen sind.» Welch einfältige Antwort, dachte ich mir, sagte stattdessen aber, es gäbe bestimmt viele Nellys. «Aber warum soll es sich bei meiner Nelly nicht auch um deine handeln?» Das klang jetzt irgendwie nüchtern. «Wie viele Nellys gibt es wohl allein schon in dieser Stadt?», sagte ich, wohl wissend, dass meine Nelly nicht in Zürich wohnt. Also machten wir ein Spiel. Rose begann: «Meine Nelly trägt im Winter blaue Handschuhe.» «Und meine Nelly hasst Hüte», fuhr ich fort. «Meine Nelly mag dafür wärmende Schals», erwiderte sie. Ich musste leer schlucken. «Meine Nelly liebt dicke Wollsocken, weil sie immer friert.» Das ging immer weiter, und es wäre lustig gewesen, wenn sie nicht von exakt der gleichen Person gesprochen hätte wie ich. Rose sagte: «Nelly hat Angst vor Gewittern, und dann…», ich ergänzte den Satz: «…will sie sich nahe an jemanden schmiegen.» Ich holte tief Luft. «Wie nennt sie mich, wenn sie mich necken will?» «Mein Bernhardiner», sagte Rose ohne zu zögern. Das konnte sie nun wirklich nicht wissen. Es musste die gleiche Nelly sein. Ihr könnt mir glauben, ich hätte Rose weitere Dinge gefragt, zum Beispiel warum in aller Welt Nelly und Rose über mich sprechen, und allein die Tatsache, dass meine Nelly andere Menschen kannte, ließ mein Herz einen Tick schneller klopfen. Weil meine Nelly nicht bloß in meinem Elcomm existierte, sondern ein Leben in der Nähe führte. Ein Leben, in dem sie eine Rose kannte. Ich wollte wissen, mit wem meine Nelly sich trifft, wenn sie nicht mit mir kommuniziert. Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass Rose noch nicht gesagt hatte, woher sie Nelly kennt. Vielleicht war sie auch für Rose nur Bestanteil eines Elcomm-Chats. Doch bevor ich ihr diese entscheidende Frage stellen konnte, hatte ich eine Faust im Gesicht. Der Typ, dem sie gehörte, hatte zuvor still im Türrahmen der Bar gestanden, und er hätte mich vorher zumindest anpöbeln können, im Sinne von: «Hey, lass meine Freundin in Ruhe», irgendwas in der Art, glaubt mir, ich hätte mich still und leise vom Acker gemacht, ich bin kein Held, vor allem nicht, wenn ein Zwei-Meter-Hüne vor mir steht. Aber er ließ mir keine Möglichkeit zur Flucht. Ich konnte nur still und leise vom Barhocker rutschen und auf dem Parkett landen. Ich sah noch, wie Rose ihren Typen zur Tür rausbugsierte. Es sah seltsam aus, wie die zierliche Rose den massigen Idioten vor sich her schob und er sich nicht wehrte. Dann, ein paar Minuten später, lehnte sie sich über mich und stillte meine Platzwunde mit einem nassen, kühlen Lappen. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich den Weg durch die Lobby fand, ich weiß nur, dass jemand mich...