E-Book, Deutsch, 736 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Dübell Das Jahrhundertversprechen
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1601-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 736 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1601-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Richard Dübell, geboren 1962, lebt mit der Liebe seines Lebens in Landshut. Er zählt zu den beliebtesten deutschsprachigen Autoren historischer Romane, schreibt aber auch Krimis. Seine Bücher standen mehrfach auf der Spiegels-Bestsellerliste und wurden in vierzehn Sprachen übersetzt. Er ist Kulturpreisträger seiner Heimatstadt.
Autoren/Hrsg.
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2
Es war noch schlimmer, als Max gedacht hatte. Nicht nur Otto und seine Frau Hermine waren in der Agentur, sondern auch deren Tochter Luisa. Max hatte bislang nur Bilder von ihr gesehen; Otto, ein Freund moderner Techniken, hatte in jedem Lebensjahr eine Fotografie von ihr anfertigen lassen und Max den Stapel einmal gezeigt. Luisa war jetzt knapp elf Jahre alt. Max wusste, dass Otto und Hermine hart im Nehmen waren und sich bei Gefahr durchaus behaupten konnten. Aber das Mädchen? Ihm wurde übel bei dem Gedanken, dass er es versäumt hatte, die Briests gestern zu warnen, als noch Zeit genug gewesen wäre, gefahrlos abzureisen. Luisa, die neben ihrer Mutter in der geöffneten Tür im ersten Stock stand, schaute Max mit großen Augen an.
»Maxe, was machste denn hier – und so abjehetzt«, sagte Hermine erstaunt. Max hatte sie vom ersten Kennenlernen an dafür geliebt, dass sie ihren Berliner Dialekt nie vollständig unterdrücken konnte, selbst nach so langer Ehe mit dem perfekt Hochdeutsch sprechenden Otto von Briest nicht. »Brauchste was? Ich dachte, Otto hätte gesagt, du wärst über Weihnachten gut uffjehoben bei Verwandten aufm Land?«
Ja, dachte Max, das hab ich deinem Mann gesagt, weil ich nicht wollte, dass ihr euch Gedanken macht, ob ich Weihnachten in der Gosse verbringe oder nicht. Aber für derartige Überlegungen war jetzt keine Zeit.
»Bist du Max Brandow?«, fragte Luisa. Sie streckte dem schwitzenden Max die rechte Hand hin. »Ich bin Luisa. Ich hab schon von dir gehört.«
Max, von der Freundlichkeit Luisas überrascht, schüttelte ihr unwillkürlich die Hand und fragte sich dann, ob seine Pfote sich wirklich so dreckig und verschwitzt anfühlte, wie er befürchtete. »Mensch, Frau von Briest!«, stieß er dann hervor. »Ihr müsst hier weg! Wisst ihr denn nich, wat hier los is?«
Die Agentur bestand aus mehreren Räumen in zwei Stockwerken des Gebäudes. Im ersten Stock waren das Zimmer der Sekretärin sowie zwei weitere Räume, in denen Gehilfen arbeiteten. Im zweiten Stock hatten Otto und seine Frau zwei kleine Büros. Diese Büros waren die Keimzelle der Agentur, damals, als sie noch von ihrem Gründer Edgar Trönicke geführt worden war. Edgar war einer der ersten Privatdetektive Berlins gewesen. Otto und Hermine waren in seine Fußstapfen getreten; Hermine war Edgars Sekretärin gewesen, bevor Otto sie geheiratet hatte. Die Treppe zum zweiten Stockwerk herab kamen jetzt schnelle Schritte.
Max drehte sich um und sah Otto von Briest hinter sich stehen. Otto musste die letzten Worte von Max gehört haben. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Weißt du was Neues, Max? Komm mit rein. Willst du was Heißes zu trinken? Wir haben Tee.«
»Ick will nüscht, ick will nur, det Se Ihre Familje nehmen und schleunigst verschwinden!«, drängte Max.
»Du bist ganz nass«, sagte Otto. »Komm erst mal rein. Auf ein paar Minuten kommt’s wohl nicht an.«
Max’ Bauchgefühl sagte ihm, dass es wahrscheinlich schon auf ein paar Minuten ankam. Aber er hatte der Wärme und der Illusion von Familie, die die Detektivagentur Briest für ihn bedeutete, noch nie widerstehen können. So nahm er Ottos Gelassenheit als willkommene Ausrede dafür, diese Illusion eine kurze Weile aufrechterhalten und genießen zu können, bevor er wieder in die Kälte hinausmusste, und folgte den Briests und ihrer Tochter in die Agentur hinein.
Auf dem Tisch der Sekretärin stand ein kleiner Stapel bunt eingepackter Geschenke. Nun wusste Max, was die Briests aufgehalten hatte. Sie hatten Weihnachtsgeschenke für ihre Mitarbeiter gepackt. Wahrscheinlich hatten sie den Angehörigen der Agentur für heute freigegeben, damit diese Weihnachtsbesorgungen machen konnten – was immer das karge Hungerleiderangebot der Berliner Bäcker und Metzger hergab. Morgen würden die Mitarbeiter noch ein paar Stunden in der Agentur verbringen, während die Briests schon auf ihrem Gut waren; dann würden sie die für sie gedachten Geschenke vorfinden und für den Heiligen Abend mit nach Hause nehmen, nachdem sie die Detektei über die Feiertage geschlossen hatten. Max schluckte, als er die Namenszettel auf den Geschenken sah und auch einen entdeckte, auf dem in kindlicher Schrift – wahrscheinlich Luisas Hand – sein Name stand. Die Briests hatten auch letztes Weihnachten an ihn gedacht, als ihre »Zusammenarbeit« noch ganz frisch gewesen war. Trotzdem überraschte ihn die großzügige Geste. Erneut krümmte er sich innerlich bei dem Gedanken, dass er diese großartigen Menschen in Gefahr gebracht hatte, weil er gestern zu bequem gewesen war, noch einmal in die Dezemberkälte hinauszulaufen.
»Die Matrosen im Stadtschloss wollen det Schloss erst räumen, wennse ihre fällige Löhnung gekriegt haben«, sagte Max. »Denn sollnse die Schlüssel dem Stadtkommandanten aushändjen.«
»Ich weiß«, sagte Otto ernst. »Ich habe gehofft, dass sich beide Seiten darauf einigen können, damit der Ausnahmezustand endlich endet und es über Weihnachten kein Blutvergießen gibt … aber wenn ich dich so ansehe, befürchte ich, dass die Vernunft hüben wie drüben dazu nicht ausreicht, oder?«
»Die Matrosen trauen dem Stadtkommandanten nich. Gestern ham se beschlossen, det se det Schloss lieber eenem von den Volksbeauftragten überjeben, eenem Typ namens Emil Barth, von dem se glooben, det er eijentlich einer von ihnen ist.«
»Barth ist bei der USPD«, sagte Hermine. »Er ist ein Spartakist, der so tut, als wäre die Revolution ganz alleene auf seinem Mist gewachsen.«
»Das wird Stadtkommandant Wels nicht zulassen«, sagte Otto. »Gott, wieso müssen die Dinge immer bis zum Äußersten überreizt werden!«
»Es kommt noch schlimmer«, sagte Max düster. »Die Matrosen haben det gestern Abend schon an die Kommandantur übermittelt, und Wels hat jeantwortet, det se die Auszahlung der Löhnung verjessen können, wennse die Schlüssel zum Schloss nich an ihn übergeben.«
»Und nun?«
»Nu«, sagte Max und öffnete die Eingangstür wieder, »marschiern een paar Abteilungen von den Revolutionären zur Kommandantur und wollen Wels zwingen, die Pinke rauszurücken, und wenn det passiert, denn werden die Kugeln fliegen und denn wird die janze Untern Linden een Schlachtfeld werden wie Flandern 1917. Un det Se mit Ihrer Familje zum Bahnhof Friedrichstraße kommen, müssen Se Untern Linden überqueren, wa? Also lassen Se uns abhauen, solang et noch jeht – oder verbarrikadieren Se sich in der Agentur!«
Otto überlegte nur ein paar Sekunden lang. »Wenn das passiert, ist in Berlin nichts mehr sicher«, sagte er dann. »Wir müssen hier raus, aufs Gut. Zieht euch an. Max, du holst dir noch den Tod in den dünnen nassen Sachen. Schnapp dir den Mantel da von der Garderobe. Wir meiden die Friedrichstraße. Lasst uns hintenrum zum Bahnhof laufen, über die Kanonierstraße und die Dorotheenstädter Kirche.«
»Sie ham doch ne Wumme«, sagte Max und schlüpfte dankbar in den Mantel. »Nehmse se sicherheitshalber mit.«
»Garantiert nicht«, sagte Otto. »Wer in einem Konflikt eine Waffe zückt, muss auch damit schießen.«
»Die anderen ham die Waffen schon lange jezückt«, murmelte Max. Er war nicht sicher, ob Otto ihn gehört hatte. Luisa sah ihn an und schluckte. Er merkte auf einmal, wie viel Angst das Mädchen hatte, und wollte sie beruhigen. Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Keene Sorge, Frollein von Briest, wenn wa jetzt abhauen, passiert Ihnen nüscht.«
Luisa wollte etwas antworten, aber Hermine schnitt ihr das Wort ab, indem sie ihre Tochter einfach dem aus der Tür tretenden Otto hinterherschob. Dann fühlte sich Max gepackt und ebenso resolut zur Tür hinausbefördert. Hermine folgte als Letzte.
»Ick mache die Nachhut!«, protestierte Max.
»Unsinn. Los jetzt, nehmt de Beene in die Hand. Luisa – alles wird gut!«
»Ja, Mama.«
Otto rief über die Schulter: »Max, du kommst mit uns nach Gut Briest. Wenn in Berlin die Kugeln fliegen, will ich dich in Sicherheit wissen.«
»Det jeht doch nich«, stieß Max hervor.
Otto antwortete nicht. Er stieg ohne Hast, aber auch nicht langsam, die Treppe hinunter. Max hörte, wie Hermine hinter ihm die Eingangstür zur Agentur absperrte. Luisa folgte ihrem Vater die Stufen hinunter, die linke Hand am Geländer. Max konnte sehen, dass ihre Handknöchel blau waren vor Kälte und Nervosität. Der Mantel war Max zu groß, und er roch nach Zigarrenrauch, Rasierwasser und feucht gewordener Wolle. Max’ Herz, das sich mittlerweile beruhigt gehabt hatte, klopfte nun erneut vor Erregung. Die Wärme des schweren Kleidungsstücks ließ den Schweiß bei ihm ausbrechen. Auf halbem Weg die Treppe hinunter drehte er sich um, um zu sehen, ob Hermine hinterherkam. Sie war dicht hinter ihm und nickte ihm zu. Auf den Kopf hatte sie sich einen runden Hut gestülpt, mit Federn auf der Krone. Er hatte abgestoßene Kanten, und die Federn waren zerzaust. In seiner Nervosität schien es Max, als sähe er auf einmal Details, die ihm bisher entgangen waren und die auch die Düsternis des Treppenhauses nicht verbergen konnte: dass Hermines Stiefeletten an den Kappen rissiges Leder aufwiesen; dass der Mantel, den Luisa trug, unten am Saum angestückelt worden war; dass keiner der drei Handschuhe bei sich hatte, weil sie als entbehrliche Kleidungsstücke galten und infolge der allgemeinen Knappheit vom Kriegsversorgungsamt beschlagnahmt worden waren. Bei Max’ bisherigen Begegnungen mit den Briests hatte er immer vorausgesetzt, dass sie wohlhabend waren. Sie besaßen ein Gut auf dem Land und betrieben in Berlin eine Detektei, sie arbeiteten mit Banken und Versicherungen zusammen und...