Duc Verfassungsgerichtsbarkeit im Fokus der deliberativen Demokratie
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8288-6216-6
Verlag: Tectum
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Unter besonderer Berücksichtigung der Frage der Vereinbarkeit umfassenderer Formen der Verfassungsgerichtsbarkeit mit direktdemokratischen Verfahren nach dem Modell der schweizerischen halbdirekten Demokratie
E-Book, Deutsch, 292 Seiten
ISBN: 978-3-8288-6216-6
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Halbdirekte Demokratie - ist diese Mischform aus repräsentativer und direkter Demokratie überhaupt mit Verfassungsgerichtsbarkeit vereinbar? Laut Corinne Duc kann dies funktionieren: Das Zusammenspiel von halbdirekter Demokratie mit Verfassungsgerichtsbarkeit entspricht dem Zweck moderner freiheitlicher und menschenrechtsorientierter Staatssysteme in ganz besonderem Maße - falls es gelingt, die für Verfassungsrevisionen zentralen Entscheidungsverfahren in einen öffentlichen Diskurs einzubinden. Duc entwickelt (ausgehend vom schweizerischen Modell der Initiativ- und Referendumsdemokratie) ein Modell, das die Grundsätze des internationalen Menschen- und Völkerrechts erfüllt und insbesondere in Konflikten im Bereich der Verfassungsrevision öffentliche Rechtfertigung fordert sowie mehrstufige Kontrollverfahren integriert. Und dieses Modell ist nicht nur auch auf andere Staaten übertragbar, sondern sogar auf der Ebene staatenübergreifender Organisationsformen wie der EU anwendbar und weiterentwicklungsfähig.
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IFunktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der (deliberativen) Demokratie 1.1Verfassungsgrundstrukturen und Formen des Verfassungsrechtsschutzes 1.1.1Grundfunktionen der Staatsverfassung im modernen Rechtsstaat Der für den modernen Rechtsstaat charakteristische Verfassungsbegriff ist wesentlich ein juristischer und bezieht sich typischerweise auf ein zentrales Rechtsdokument, das einen Grundrechtsrechtskatalog beinhaltet und die Grundordnung des politischen Gemeinwesens kodifiziert.12 Wie Böckenförde (1991) schreibt, ist der Begriff der Verfassung zwar älter als der des Staates, heutzutage aber in einen engen Zusammenhang zum Staat gestellt.13 Obschon rudimentärere Versionen14 einen Anspruch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitsrechte nicht unbedingt verheißen, wird von einer modernen Staatsverfassung zunehmend erwartet, dass sie (mindestens) die allgemein anerkannten Standards des modernen Menschenrechtsschutzes integriert. Dazu gehören nicht nur die klassischen Freiheitsrechte wie Religions- und Meinungsäußerungsfreiheit, sondern generell, dass rechtliche Einschränkungen nur zum Zweck des Schutzes und der Einhaltung einer hinreichend fairen, demokratischen Öffentlichkeitsordnung zugelassen werden; damit aber immer mehr auch die Gewährleistung fairer und effektiv demokratischer Verfahren selbst.15 Wesentlich am modernen Rechtsstaat ist also nicht allein das demokratische Element als Mehrheitsentscheidungsverfahren, sondern dessen Integration in ein rechtsstaatliches Gesamtsystem, das die am Schutz der Menschenrechte und demokratischen Selbstbestimmung orientierte, freiheitliche Öffentlichkeitsordnung sichert, wozu sie die (Mit-) Verantwortlichkeit der Stimm- oder Wahlberechtigten in einem doppelten Sinn als Norm voraussetzt: Es wird erwartet, dass die (mündige) Person in der Regel über die erforderlichen Grundfähigkeiten verfügt; zugleich gehört es zu den Funktionen der öffentlichen Grundstruktur, sicherzustellen, dass diese Fähigkeiten in der Regel in geeigneter Weise vermittelt bzw. ausgebildet sowie die spezifisch erforderlichen Informationen für die Partizipationsverfahren öffentlich zugänglich und bekannt gemacht werden. Allgemeine demokratische Wahlen sind, soll ein fairer Ablauf garantiert werden können, im größeren Umfang wesentlich auf ein funktionierendes, angemessen strukturiertes öffentliches Rechtssystem angewiesen, wie umgekehrt das (Staats- bzw. Verfassungs-) Rechtssystem geeignete Regelungen für eine die allgemeinen Grundrechte respektierende Form der Staatsführung beinhalten sollte. Dass sich die verfassungsmäßigen Bestimmungen typischerweise zugleich auf die politischen und rechtlichen Grundstrukturen beziehen, steht daher der Idee von freiheitlicher demokratischer Staatsform nicht entgegen.16 Faire Partizipationsverfahren und -chancen setzen vielmehr einen effektiven Schutz von Grundbzw. Freiheitsrechten voraus, weshalb (wie weiter unten, Kap. 1.2 ausführlicher erläutert wird) bei der Beurteilung demokratischer Legitimität, als Kriterium rechtsstaatlicher Öffentlichkeitsfunktionen, immer auch wesentlich die aktuell (auf dem Papier wie in der Praxis) geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen mit zu berücksichtigen sind. Der Verfassungsbegriff selbst impliziert zwar weder, dass ein (Verfassungs-) Staat über eine schriftliche Verfassungsurkunde verfügen müsste, noch dass eine bestimmte Kategorie von (übergeordneten) Rechtsnormen ein Grundrechtssystem für die gesamte Bevölkerung bildete.17 Ein effektiver Schutz der Grundrechte wie die Realisierung fairer und freier demokratischer Partizipationsverfahren geht allerdings einher mit möglichst hoher Transparenz, Berechenbarkeit und angemessener Informationsvermittlung. Während die fundamentale Bedeutung des Grundrechtsschutzes für die freiheitliche Verfassungsordnung einen Vorrang dieser Verfassungsbestandteile nahelegt, ist von einem generellen und prinzipiellen Vorrang des gesamten Verfassungsrechts gegenüber anderen Staatsgesetzen nicht unbedingt auszugehen, da oder insofern Landesverfassungen auch Bestimmungen von weniger allgemeiner und fundamentaler Bedeutung beinhalten können.18 Indem Staatsverfassungen zunehmend auch inter- und supranational vereinbarte Normen integrieren und den Umgang mit anderen Staaten und Staatenorganisationen reglementieren, widerspiegeln sie ferner nicht nur die staatenübergreifenden Vernetzungen in Recht und Politik, sondern bilden selbst eine wichtige Grundlage zur weiteren Ausgestaltung dieser Beziehungen. Während in einer nach freiheitlichen Prinzipien strukturierten Verfassung die Bedeutung partikulärer (religiöser wie nicht-religiöser) weltanschaulich geprägter Bekenntnisse gegenüber ihrer Entwicklung zu einem Instrument des Grundrechtsschutzes zurücktreten (sollten), bewahrt und integriert die moderne Grundrechtsordnung mit den darin explizit und implizit zum Ausdruck kommenden Bekenntnissen zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, des Grund- und Menschenrechtsschutzes, freiheitlicher und demokratischer Öffentlichkeitsstrukturen substanzielle Elemente gesellschaftlicher Sinnstiftung und Identitätsverankerung.19 Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die reale Praxis von der kodifizierten Grundform mehr oder weniger abweichen kann, wird zuweilen zwischen Constitution as paper (bzw. als schriftlich und verbindlich formulierter Kodex) und Constitution as practice unterschieden.20Auch nicht schriftlich kodifiziertes Recht kann unter Umständen zwar (aufgrund alter Tradition oder konsensueller Vereinbarung etwa) als normativ verbindlich gelten. Da schriftlich festgehaltene Normen meist als genauer und zuverlässiger kodifiziert gelten können, und daher in der Regel (für moderne Verfassungen) auch die normative Grundlage darstellen, an welcher sich die Praxis wesentlich zu orientieren hat, wird im Folgenden der Begriff (Staats- bzw. Bundes-) Verfassung vornehmlich in Hinblick auf seine kodifizierte Form verwendet. 1.1.2Vielfalt von Formen und Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit 1.1.2.1Konkrete Ausgestaltungsformen, Interpretationen und Definitionen Wie Bryde (1982)21 schrieb: In dem, was wir heute als Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnen, fließen verschiedene Traditionen aus ganz verschiedenen Zeiten zusammen. So erklärt es sich, dass der Beginn der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit in der Literatur unterschiedlich datiert wird: im Alten Reich (Reichskammergericht, jedenfalls föderative Streitigkeiten und Ansätze der später sog. Verfassungsbeschwerde), im 19. Jh. (Konstitutionalismus, Grundlegung des Organstreits) und mit der österreichischen Verfassung von 1920 (Kontrolle des Gesetzgebers). Die Ursprünge der Rechtsverfassung lassen sich zwar weiter zurückverfolgen, bspw. in die konstitutionelle Monarchie (als Zugeständnisse, Erlasse oder Verträge, welchen wesentlich die Bedeutung einer Beschränkung monarchischer Machtvollkommenheit zugunsten der bürgerlichen Freiheiten und politischer Beteiligung zukam);22 deren effektive Geltung und Durchsetzung hing indessen oft genug weiterhin von der obrigkeitlichen Willkür ab. Die besondere Bedeutung von Verfassungsgerichtsbarkeit im Kontext der Entwicklung moderner Rechtsstaaten hängt indessen gerade wesentlich zusammen mit der Konzeption von gewaltenteiliger und grundsätzlich demokratisch zu legitimierender Organisationsformen und Öffentlichkeitsordnungen, die den Schutz der Individuen, ihrer Grundfreiheiten und Partizipationsrechte am ehesten oder überhaupt erst in zuverlässiger Weise ermöglichen bzw. ermöglichen sollten.23 Die ersten Vorschläge für die Einführung einer Art Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz stammen aus der Zeit der Helvetik, ebenfalls noch bevor der US-amerikanische Supreme Court sich als zuständig für die Überprüfung von Bundesgesetzen erklärte.24 Der Begriff Verfassungsgerichtsbarkeit ist indes erst in Anschluss an ein grundlegendes Referat von Triepel über Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 1928 geläufig geworden.25 Obschon zuweilen enger assoziiert mit einem speziellen Verfassungsgerichtshof, impliziert er weder eine Konzentrierung der Kontrollkompetenzen auf ein spezielles Gericht, noch ist der genaue Umfang der Überprüfungsfunktionen allgemein definiert. Gemäß Schlaich/Korioth (2004) liegen die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit (im materiellen Sinne) in den meisten Staaten noch immer bei den ordentlichen Gerichten (diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit; vgl. Tab. 1 unten). In den USA wird die Einführung von judicial review auf die landmark-Entscheidung Marbury v. Madison (1803) datiert, in (bzw. anläßlich) welcher das höchste amerikanische Bundesgericht das erste Mal ausdrücklich (den Vorrang der Verfassung sowie) die Kompetenz zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit grundsätzlich für sich beanspruchte, obschon auch dort bis heute kein eigens dafür spezialisiertes Bundesverfassungsgericht eingerichtet worden ist. Obschon es sich insofern um ein diffuses System von Verfassungsgerichtsbarkeit handelt, als auch andere Gerichtsinstanzen zur Rechtsprechung aufgrund der Verfassung befugt sind, besteht auch eine starke Tendenz zur Konzentrierung in der US Supreme Court, welches als höchste gerichtliche Instanz der Vereinigten Staaten Anspruch auf das letzte Wort in Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit (oder der US-Verfassung überhaupt)26 erhoben hat. Von diesem amerikanischen Einheitsmodell (ohne selbständiges Verfassungsgericht) sind einerseits Modelle mit spezialisiertem Verfassungsgerichtshof zu...